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Corona-Revolution in Spanien und Großbritannien: Ende der Pandemie?


Leben mit Corona
Wie zwei Länder die Pandemie beenden wollen

Von Liesa Wölm

Aktualisiert am 12.01.2022Lesedauer: 6 Min.
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Zwei Frauen mit FFP2-Masken auf der Londoner Oxford Street: Großbritannien debattiert über eine Ende der Corona-Maßnahmen.Vergrößern des Bildes
Zwei Frauen mit FFP2-Masken auf der Londoner Oxford Street: Großbritannien debattiert über eine Ende der Corona-Maßnahmen. (Quelle: Dominic Lipinski/PA/dpa-bilder)

Weil Omikron wahrscheinlich milder verläuft und die Impfungen schützen, gibt es plötzlich Hoffnung: Können wir künftig mit dem Virus, aber ohne Einschränkungen leben? Spanien und Großbritannien preschen vor.

Die Omikron-Variante hat Europa überrollt: In vielen Ländern ist die Mutante des Coronavirus inzwischen vorherrschend, die Infektionszahlen sind in die Höhe geschnellt. So auch in Spanien und Großbritannien: Die beiden Länder verzeichnen eine Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 1.600.

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Dennoch verfolgen die Regierungen einen ähnlichen Plan, der aus deutscher Perspektive zunächst aberwitzig klingt: Das Coronavirus soll schon bald wie eine Grippe behandelt werden, die Pandemie soll zur Endemie werden. Sind sie damit Vorbild – oder einfach nur besonders leichtsinnig?

Forderungen nach "neuer Normalität"

In Großbritannien riefen in den vergangenen Tagen gleich mehrere Experten ein Ende der Pandemie aus, trotz täglich etwa 170.000 Neuinfektionen. Der ehemalige Leiter der britischen Impfstoff-Taskforce, Clive Dix, forderte etwa die Rückkehr zu einer "neuen Normalität". Covid solle wie eine Grippe behandelt werden, da die Omikron-Variante eine ähnliche Todesrate aufweise. Zudem sprach sich Dix dafür aus, die Massentestung der Bevölkerung zu beenden und stattdessen eine "gezielte Strategie" für besonders gefährdete Personen zu verfolgen, berichtete die "Daily Mail".

"Ich denke, Massentestungen bringen niemandem etwas", so Dix. Man müsse an einen Punkt kommen, an dem eine junge, geimpfte Person, die nachweislich geschützt sei, solange zu Hause bleibe, wie sie Symptome habe – ähnlich wie bei einer starken Erkältung oder Grippe. "Und wenn es ihr besser geht, soll sie zurück zur Arbeit gehen", erklärte der Experte.

Lauterbach kritisiert britischen Kurs

Wohnungsbauminister Michael Gove, der in der Vergangenheit auf den vorsichtigen Kurs setzte, sagte demnach, das Vereinigte Königreich befinde sich bald "in einer Situation", in der "wir sagen können, dass wir mit Covid leben können und dass der Druck auf das Gesundheitssystem NHS und auf wichtige öffentliche Dienste nachlässt". Es gebe andere Coronaviren, die endemisch seien und mit denen man leben würde. "Wir können uns also an den wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren und die Beschränkungen schrittweise aufheben, und ich denke, je früher, desto besser für uns alle."

Was ist der Unterschied zwischen einer Endemie und einer Pandemie? Wenn sich Menschen in mehreren Ländern oder weltweit mit einer Krankheit anstecken und dabei schwer erkranken können, sprechen Experten und Expertinnen von einer Pandemie. Bei einer Endemie tritt eine Krankheit dauerhaft in bestimmten Regionen auf. Die Krankheit verschwindet also nicht mehr, sie kann immer wieder kommen – wie etwa die Grippe.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) äußerte in der ARD-Sendung "Hart aber fair" Unverständnis für den Kurs der Regierung von Boris Johnson: "Aus meiner Sicht ist es eine unethische Wette." Man könne zwar eine Strategie wie England fahren, also einen Großteil der Bevölkerung einer Infektion mit der Omikron-Variante aussetzen, ohne die langfristigen Folgen genau zu kennen. "Ich halte es aber für falsch", sagte der SPD-Politiker.

Warum ein Ende der Pandemie debattiert wird

Warum aber ist ein Ende der Pandemie auf der Insel überhaupt im Gespräch, wenn die Infektionszahlen weiter auf Rekordniveau liegen? Es ist besonders der nach ersten Erkenntnissen offenbar mildere Verlauf der Omikron-Variante, auf den sich mehrere Experten bei ihren Forderungen nach "mehr Normalität" berufen.

Aber auch die Impfquote dient als Argument: Der britischen Regierung zufolge haben 90 Prozent der Bürger über zwölf Jahren eine erste Impfdosis erhalten, knapp 83 Prozent sind zweifach geimpft und 62 Prozent wurden inzwischen geboostert (Stand: 9. Januar). Zum Vergleich: In Deutschland haben rund 43 Prozent eine Booster-Impfung bekommen (Stand: 11. Januar).

Zugleich gibt es trotz hoher Infektionszahlen weniger Krankenhauseinweisungen in Großbritannien als im Vorjahr: Durchschnittlich kommen täglich rund 2.000 Patienten wegen Covid-19 in eine Klinik, im Januar 2021 waren es noch etwa 4.000.

"Wir sind noch nicht am Ziel"

Auch der Covid-Sonderbeauftragte der Weltgesundheitsorganisation (WHO), David Nabarro, plädierte in einem Interview mit dem Nachrichtensender Sky News für einen "Übergang zu einem Zustand, der der Normalität näher kommt". Doch der Experte äußerte ebenso Bedenken: "Ein Ende ist in Sicht, aber wir sind noch nicht am Ziel." Es werde noch einige Stolpersteine geben, bevor man ankomme. "Ich kann Ihnen nicht sagen, wie schlimm sie sein werden", so der Experte.

Er erwarte weitere Varianten und die Politik müsse auch künftig immer noch einige schwere Entscheidungen treffen, besonders in armen Ländern. Nabarro warnte, dass das Virus immer wieder neue Wellen mit sich bringe. "Das Leben mit Covid bedeutet, dass man sich auf diese Schübe vorbereiten und schnell reagieren muss, wenn sie auftreten. Das Leben kann weitergehen, wir können die Wirtschaft in vielen Ländern wieder in Gang bringen, aber wir müssen das Virus wirklich respektieren", sagte der WHO-Experte.

"Werden sicher keine riesigen Steigerungen mehr erleben"

Auch die britische Regierung betonte, es sei noch zu früh zu sagen, wann der Übergang zu einer Endemie abgeschlossen sei. Ein Sprecher der Downing Street sagte: "Es ist richtig, dass wir uns zusammen mit dem Virus anpassen." Berichten zufolge arbeite die Regierung an einer "Leben-mit-Covid-Strategie", die im März verkündet werden soll.

David Spiegelhalter, Gesundheitsstatistiker in Cambridge, sagte mit Blick auf die Entwicklung der Infektionszahlen: "Wir werden sicher keine riesigen Steigerungen mehr erleben, weder bei den Verlegungen auf Intensivstationen noch bei Toten oder schweren Krankheitsverläufen." Man werde Covid "kriegen und wieder kriegen". Es gelte nur noch "einen kostengünstigen Weg zu finden, wie man einen angemessenen Deckel draufhält".

Auch Spanien plant Kurswechsel

Großbritannien steht mit diesem Plan nicht allein dar, auch Spanien erwägt einen Kurswechsel, berichtete die Zeitung "El País". Corona-Infektionen sollten weniger strikt nachverfolgt werden. Ähnlich wie bei der Grippe würde nicht mehr jeder einzelne Fall dokumentiert und es würden auch nicht alle Personen mit Symptomen getestet.

Ministerpräsident Pedro Sánchez bestätigte die Überlegungen: Da die Todesfallraten bei Corona-Erkrankungen gesunken seien, könne es an der Zeit sein, mit der Pandemie nun auf anderen Wegen umzugehen, sagt er dem Sender SER. Darüber solle auch auf europäischer Ebene gesprochen werden. "Wir steuern auf eine endemische Krankheit zu statt wie bisher auf eine Pandemie. Wir müssen auf diese Situation mit neuen Instrumenten reagieren", so Sánchez. "Wir haben mehr als 90 Prozent der spanischen Bevölkerung geimpft. Wir sind ein Vorbild und eine Inspiration auf der ganzen Welt", lobte der Politiker.

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Weniger Nachverfolgung von Infektionen

"El País" zufolge soll der Strategiewechsel so aussehen: Anstatt jeden einzelnen Corona-Fall zu registrieren, soll künftig ein Sentinelsystem, ähnlich wie bei der Grippe, greifen. Nur ausgewählte Hausärzte, Gesundheitszentren und Krankenhäuser erheben dann Daten zur Ausbreitung des Virus. Anhand dessen werden Hochrechnungen durchgeführt.

Die Strategie wird laut "El País" bereits seit Sommer 2020 erarbeitet, nun gehe die Planung in die Endphase. Allerdings sei noch unklar, wann sie greifen soll – zumindest nicht mehr in der derzeit herrschenden Omikron-Welle.

Auch in dem südeuropäischen Land sind derzeit hohe Infektionszahlen zu beobachten, in der vergangenen Woche gab es durchschnittlich täglich rund 113.000 neue Fälle. Zudem müssen immer mehr Covid-Patienten im Krankenhaus behandelt werden. Jedoch steigt die Zahl der Krankenhausaufenthalte deutlich langsamer als in den vergangenen Wellen. Auch dort ist die hohe Impfquote und der wahrscheinlich mildere Verlauf der Omikron-Infektionen ausschlaggebend.

Meinungen zum Kurs sind gespalten

Die Forderungen nach einem neuen Umgang mit dem Virus sind allerdings umstritten: Die medizinische Gesellschaft "Actualización en Medicina de Familia" sprach sich klar für eine Rückkehr zur Normalität aus. "Die Regierung sollte ihre Bemühungen darauf konzentrieren, die am stärksten gefährdeten Menschen zu schützen, anstatt zu versuchen, die Verbreitung des Virus auf Bevölkerungsebene wahrscheinlich mit geringem Erfolg einzudämmen", heißt es in einem Leitartikel.

In den kommenden Jahren werde es eine Reihe von Corona-Todesfällen geben, die unvermeidbar seien. "Die Pandemie wird nicht enden, wenn es keine Todesfälle mehr gibt, sondern wenn Medien und Regierungen sie genauso behandeln wie andere Ursachen", so die Gesellschaft. "Wir müssen so schnell wie möglich die 'alte' Normalität, also das Leben, wie wir es vor März 2020 kannten, zurückgewinnen: ohne Masken oder Einschränkungen des sozialen Miteinanders", heißt es in dem Schreiben.

"Dieses Virus hat uns mehr als einmal überrascht"

Die beiden anderen großen Hausärztegesellschaften SEMG und Semergen kritisieren die Forderungen jedoch scharf: "Der Ton gefällt uns nicht", sagte Vicente Martín Sánchez, Mitglied des nationalen Verwaltungsrats von Semergen. "Sie sind sehr enthusiastisch und sehr optimistisch, aber es gibt noch keine Informationen, um so optimistisch und so enthusiastisch zu sein. Es gibt keine Gewissheit, dass die Omikron-Variante weniger ansteckend ist; was wir haben, ist, dass mehr Menschen geimpft wurden. Die Zahl der Todesopfer ist hoch und wird in den kommenden Wochen wahrscheinlich weiter ansteigen", sagte er der Zeitung.

Auch die WHO Europa sieht die Zeit noch nicht gekommen, die Pandemie zu einer Endemie zu erklären. Während man dabei sei, eine pandemische Krise zu bekämpfen, müsse man sehr vorsichtig dabei sein, die Zukunft vorherzusagen, sagte WHO-Regionaldirektor Hans Kluge am Dienstag. Auf die Frage, ob Omikron die letzte Corona-Welle darstellen könnte, sagte er: "Dieses Virus hat uns mehr als einmal überrascht."

Vieles hängt von Omikron ab

WHO-Expertin Catherine Smallwood machte klar, man könne noch lange nicht von einer Endemie sprechen, die vor allem von einer stabilen Zirkulation des Virus gekennzeichnet sei. "Wir haben immer noch eine große Unsicherheit." Das Virus entwickele sich sehr schnell und stelle immer wieder neue Herausforderungen.

Es wird also deutlich: Noch kann niemand genau sagen, wann aus der Pandemie eine Endemie wird. Vieles wird von weiteren Erkenntnissen über die Omikron-Variante abhängen – und wie sich die Lage in den Krankenhäusern entwickelt. Nach fast zwei Jahren Pandemie wollen Spanien und Großbritannien auf das Szenario Hoffnung auf jeden Fall bestmöglich vorbereitet sein.

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