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Machtkampf und Wut in der Türkei: "Präsident Erdoğans Zeit läuft ab"


Wachsende Wut in der Türkei
Erdoğans Endspiel


Aktualisiert am 13.01.2022Lesedauer: 6 Min.
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Erdoğan kämpft bislang ohne Erfolg gegen die Lira-Krise: Der türkische Präsident muss um seine Wiederwahl fürchten.Vergrößern des Bildes
Erdoğan kämpft bislang ohne Erfolg gegen die Lira-Krise: Der türkische Präsident muss um seine Wiederwahl fürchten. (Quelle: imago-images-bilder)

Es wird eng für den Präsidenten: In 18 Monaten sind Wahlen in der Türkei und Recep Tayyip Erdoğan ist so angeschlagen wie nie zuvor. Das macht ihn gefährlich, vor allem für die türkische Demokratie.

Im Kampf um seine Macht in der Türkei wirkt Präsident Recep Tayyip Erdoğan zunehmend verzweifelt. Sein finanzpolitisches Experiment scheitert, die Inflation ist hoch, das Leben für die türkische Bevölkerung wird immer teurer und der selbst entwickelte Corona-Impfstoff wirkt offenbar nicht. Erdoğans Politik scheitert aktuell an unterschiedlichen politischen Fronten – und dadurch sind seine Umfragewerte abgestürzt.

Erdoğan steckt in einem Dilemma: Er hat viele Probleme gleichzeitig und immer weniger Zeit. Schon im Juni 2023 sind die nächsten Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Plötzlich wäre seine Wahlniederlage keine Überraschung mehr, im Gegenteil. Der Präsident ist aktuell so politisch angeschlagen wie in den vergangenen 18 Jahren nicht. Zudem muss er gegen eine geeinte Opposition antreten, die mehrere aussichtsreiche Hoffnungsträger hat. Erdoğan dagegen ist für seine AKP zur Belastung geworden, seine Partei ist beliebter als er.

Der Präsident scheint in die Ecke gedrängt, doch in dieser Lage ist er auch am gefährlichsten – vor allem für die türkische Demokratie. Sein Feldzug gegen die Opposition hat bereits begonnen und es ist wahrscheinlich, dass sich die Konflikte im Land zuspitzen werden. Der Preis, den die Türkei für Erdoğans Machterhalt zahlen muss, könnte hoch werden. Eines ist klar: Die größte Angst des 67-Jährigen wird plötzlich real, aber er wird nicht kampflos aus seinem Palast ausziehen.

Präsident im Umfragetief

Seine Ausgangslage ist schlecht: Das angesehene türkische Meinungsforschungsinstitut Metropoll sah den Präsidenten in einem Beliebtheitsranking zum Jahreswechsel nur noch abgeschlagen auf dem vierten Platz. Mansur Yavaş, der Bürgermeister von Ankara, ist mit Zustimmungswerten von 60 Prozent der beliebteste Politiker, gefolgt vom Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu mit 51 Prozent. Beide CHP-Politiker würden den Präsidenten auch deutlich in einem direkten Duell schlagen. Vor Erdoğan (37,9 Prozent Zustimmung) liegt außerdem noch die Vorsitzende der konservativen İyi-Partei, Meral Akşener.

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Erdoğan galt für seine AKP immer als Erfolgsgarant. Selbst wenn es für die Partei in den Umfragen schlecht stand, konnte der Präsident durch seine Beliebtheit Wahlen gewinnen. Das hat sich umgekehrt: Die AKP fiel in den Befragungen zwar auf rund 26 Prozent, liegt aber noch vor der CHP, die bei 21 Prozent liegt.

Doch die Präsidentschaftswahl ist eine Personenwahl – das wird plötzlich ein Problem für Erdoğan.

Verhängnisvolle Fehler

Weite Teile der Bevölkerung scheinen Erdoğan die Verantwortung für die schlechte Lage zu geben. Laut einer Erhebung des Zentrums für Sozialpolitische Feldforschung lehnen 60 Prozent der Türkinnen und Türken das 2018 von Erdoğan durchgedrückte Präsidialsystem ab – ein Zeichen für das große Misstrauen.

Das hat vor allem zwei politische Gründe:

1. Die hausgemachte Finanzkrise

Die Türkei steckt in einer schweren Währungskrise, die Lira verliert immer mehr an Wert. Gegenüber dem Dollar hat die Landeswährung 2021 rund 44 Prozent eingebüßt. Das ist die mit Abstand schlechteste Entwicklung unter den Schwellenländern. Die Währungsschwäche wiederum hat die Inflationsrate im Dezember auf 36 Prozent getrieben, den höchsten Wert unter der Führung der AKP. Ein Desaster.

Die Probleme zeigen sich im Alltag deutlich: Die Türkei ist eine Importnation und eben diese Importe wurden durch den Verfall der eigenen Währung teurer. Technische Geräte sind mittlerweile unbezahlbar, viele kleinere Geschäfte, die diese verkaufen, mussten schließen. Damit die Menschen nicht hungern müssen, verteilt der Staat Lebensmittel – und die Schlangen vor den Ausgabestellen in den großen Städten wurden im Jahr 2021 immer länger.

Die Misere ist hausgemacht. Erdoğan hat das rasante Wirtschaftswachstum auf Pump finanziert. Noch immer wehrt er sich massiv gegen Zinserhöhungen, die die Inflation aufhalten könnten. Stattdessen greift er aktiv in die Politik der eigentlich unabhängigen Zentralbank ein. Mehrfach tauschte er führendes Personal aus, um Zinspolitik in seinem Sinne zu gewährleisten.

Dadurch ist das Vertrauen in die Lira kaputt – nicht nur auf den globalen Märkten. Viele Türkinnen und Türken tauschen ihre Reserven in Fremdwährungen um, bevor diese nichts mehr wert sind. Mit patriotischen Appellen versuchte Erdoğan, diese Entwicklung zu stoppen – bislang ohne Erfolg.

Nachdem die Lira Anfang Dezember ein Rekordtief erreicht hatte, versuchte der Präsident einen Befreiungsschlag: Er stellte am 20. Dezember ein Einlagensystem vor. Sparern wurde angeboten, sie für Verluste zu entschädigen, die durch die Abwertung der Lira entstanden sind. Der Währungskurs erholte sich nach der Ankündigung, in dieser Woche sank er aber um weitere fünf Prozent. Zuvor war die Inflationsrate auf das 19-Jahres-Hoch von 36,1 Prozent gestiegen.

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Die Lira-Krise ist das mit Abstand größte Problem für Erdoğan. Er warb stets für wirtschaftliche Kompetenz und mehr Wohlstand. Dieser zentrale Sockel der Macht für die AKP ist mittlerweile weggebrochen und es gehen auch Menschen auf die Straße, die Erdoğan gewählt haben. (Mehr dazu lesen Sie hier.)

2. Versagen in der Corona-Krise

Auch im Kampf gegen die Corona-Pandemie reagierte die türkische Regierung zunächst träge, musste dann mehrere Lockdowns samt Ausgangssperren in Städten wie Istanbul verhängen. Auf die Türkei steuert zudem aktuell die Omikron-Wand zu, die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei knapp 550. Lediglich rund zwölf Prozent der Bevölkerung haben bisher zwei Impfungen erhalten.

Die Regierung hoffte auf den Totimpfstoff "Turkovac", den die Türkei selbst entwickelt hat. Dem Gesundheitsministerium zufolge wirkt das Vakzin mit einem Schutz von 100 Prozent gegen den Corona-Urtyp und gegen die Delta-Variante. Daten darüber gibt die türkische Seite allerdings nicht heraus. Experten sind deshalb mehr als skeptisch.

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"Wir sind zwar nicht sehr besorgt über die Nebenwirkungen, aber wir haben keinerlei Daten über die Schutzwirkung", sagte Vedat Bulut dem türkischen Portal "Diken". Der Generalsekretär des türkischen Ärzteverbandes (TTB) schlussfolgerte: "Das ist kein Impfstoff, das ist eine Flüssigkeit, die als Impfstoff ausgegeben wird."

Sollte sich die Lage im Winter 2022 erneut zuspitzen, wird Corona ein zentrales Wahlkampfthema der Opposition werden, denn Missmut und Verzweiflung über die immer wiederkehrenden Lockdowns und den ausbleibenden Tourismus sind groß.

Erdoğan hat Angst

Die Vorzeichen stehen eineinhalb Jahre vor der Präsidentschaftswahl also gegen den Präsidenten. Aber Erdoğan hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur seine Macht stetig ausgebaut, sondern die Demokratie massiv geschwächt. Knapp 300.000 Polizisten sind direkt ihm unterstellt, die Medien und die Justiz weitestgehend unter seiner Kontrolle, viele Kritiker und Oppositionelle im Gefängnis.

Es sind diese autokratischen Werkzeuge, mit denen er um seinen Machterhalt kämpfen wird. Dabei geht es Erdoğan aber nicht allein um Macht, sondern um den Schutz für sich, seine Familie und seine Getreuen in Politik und Wirtschaft.

Bei einem Machtwechsel müssten sie alle Strafverfolgung fürchten. Bislang wurde nur ein Teil der Korruption des Erdoğan-Regimes öffentlich – zum Beispiel die Zusammenarbeit mit der Mafia und die Waffengeschäfte mit Islamisten in Syrien. Verfolgt wurde das unter seiner Herrschaft jedoch nicht.

Das könnte sich durch einen Machtwechsel ändern. Erdoğan müsste auch Ermittlungen darüber fürchten, wie er den Putschversuch 2016 nutzte, um sich politischer Gegner zu entledigen. Viele saßen oder sitzen noch unschuldig im Gefängnis oder verloren zumindest ihre Jobs.

Machtwechsel um jeden Preis verhindern

Deshalb wird Erdoğan einen Machtwechsel unbedingt verhindern wollen.

Dabei gibt es mehrere Szenarien:

  • Der Präsident könnte schon im Vorfeld gegen die Opposition vorgehen, die CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara unter Vorwänden ihrer Ämter entheben lassen. Andere könnte er vor der Wahl inhaftieren lassen – wegen Terror- oder Spionagevorwürfen.
  • Erdoğan könnte die Wahl aufgrund angeblichen Wahlbetrugs annullieren lassen. Die anschließenden Proteste würde er dabei von der Polizei gewaltsam niederschlagen und die Demonstranten als "Putschisten" und "Terroristen" deklarieren. Dabei könnte er außerdem seine Gefolgsleute auf die Straße schicken, um die Opposition einzuschüchtern.
  • Außerdem könnte er sich erneut Konflikte mit dem Ausland suchen, um von den innenpolitischen Problemen abzulenken. Allerdings sind die gegenwärtigen Krisen so groß, dass das wahrscheinlich nicht ausreichen würde.

Die Szenarien klingen sehr nach einem Blick in die Glaskugel. Erste Anzeichen für derartige Pläne gibt es aber schon:

  • Erdoğan stellt die größte Oppositionspartei CHP als staatsfeindliche Organisation dar. Den Bürgermeistern Yavaş und İmamoğlu wirft er vor, die kurdische Terrororganisation PKK zu unterstützen und spielt öffentlich mit dem Gedanken, sie aus ihren Ämtern entfernen zu lassen. Das Innenministerium hat eine Untersuchung eingeleitet.
  • Der Präsident drohte dem Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu: "So wie am 15. Juli das Volk den auf die Straßen Strömenden eine Lektion erteilt hat, so werdet ihr genau dieselbe Lektion erteilt bekommen, wenn ihr auf die Straßen strömt."
  • Metin Gürcan, ein Gründungsmitglied der oppositionellen Partei DEVA wurde festgenommen – wegen angeblicher Spionagevorwürfe.
  • Vor wenigen Monaten drohte Erdoğan damit, Diplomaten der USA und anderer Nato-Verbündeter aus dem Land zu werfen.

Die Opposition hat durch die Krisen das politische Moment auf ihrer Seite. In einer Demokratie würde einer der CHP-Politiker wahrscheinlich gewinnen, sollte er keine Fehler machen.

Doch letztlich hat Erdoğan in den vergangenen Jahren sehr viel Energie in die Aushöhlung der türkischen Demokratie gesteckt, auch für den Moment des drohenden Machtzerfalls. Wird er alle Instrumente nutzen? Der Türkei stehen stürmische Monate bevor.

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