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Russische Aktivisten: "Bundesregierung hilft Russland mehr als der Ukraine"


Russische Antikriegs-Aktivisten
"Die Bundesregierung hilft Russland mehr als der Ukraine"

  • Theresa Crysmann
InterviewVon Theresa Crysmann

Aktualisiert am 08.05.2022Lesedauer: 8 Min.
Interview
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Polina Oleinikova und Arshak Makichyan: "Der Schock des Krieges hat in Europa nachgelassen."Vergrößern des Bildes
Polina Oleinikova und Arshak Makichyan: "Der Schock des Krieges hat in Europa nachgelassen." (Quelle: Arevik Harazyan)

Offene Kritik am Ukraine-Krieg endet in Russland in der Arrestzelle oder vor Gericht. Wer nicht im Gefängnis landen will, muss den Mund halten – oder fliehen. Ein Gespräch mit zwei russischen Friedensaktivisten in Berlin über deutsche Scheinheiligkeit, ungebetene Ratschläge und die Liebe zum eigenen Land.

Neben hunderttausenden Ukrainern verlassen auch viele Russen ihre Heimat: Sie können oder wollen nicht in einem Staat leben, der sein Nachbarland überfallen hat und dort Kriegsverbrechen begeht, während er die eigene Bevölkerung mit Propaganda, Massenfestnahmen und Schauprozessen in Schach hält.

Vor sechs Wochen kamen Polina Oleinikova, 19, und ihr Mann Arshak Makichyan, 27, mit dem Bus aus Moskau nach Berlin. Vor dem Überfall auf die Ukraine waren die beiden fast täglich gegen die Klimakrise und Menschenrechtsverletzungen auf der Straße – und bereits dafür von der Polizei bedroht und mehrfach verhaftet worden.

Seit vergangenem Sommer kennen sie sich, seit Dezember sind sie zusammen, seit Februar verheiratet. Denn: Ehepartner müssen vor Gericht in Russland nicht gegeneinander aussagen. Ihre Trauung fiel zufällig auf den Tag der Invasion; die Hochzeitsbilder der beiden gingen um die Welt: Sie im blauen Kleid mit gelben Rosen, sein weißes Hemd mit dem Schriftzug "Fuck the War", "Scheißkrieg". Mitten in Moskau, wo, wie überall im Land, jeglicher Antikriegsprotest auf einer Polizeiwache oder im Gefängnis endet.

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Der Druck auf Oleinikova und Makichyan stieg weiter, ihre offene Kritik am Krieg der Regierung machte sie besonders zur Zielscheibe. Von der Flucht nach Berlin haben die beiden sich eine Verschnaufpause erhofft – von drohenden Wohnungsdurchsuchungen, Videobeschattung und weiteren Festnahmen, die sie vor Gericht bringen könnten. Ein Gespräch über deutsche Doppelmoral, ungebetene Ratschläge und die Liebe zum eigenen Land.

t-online: Einen Monat lang haben Sie in Moskau Antikriegs-Aktionen organisiert, dann ihre Koffer gepackt. In welchem Moment haben Sie entschieden, Russland zu verlassen?

Polina Oleinikova: Arshak wollte gar nicht gehen. Ich war es, die raus musste. In den Tagen vor unserer Abfahrt hatte ich das Gefühl zu ersticken.

Wieso?

Oleinikova: Ich konnte mich einfach nicht an diese neue Realität gewöhnen. Immer wieder Massenverhaftungen wegen Protesten, ich wurde auch zweimal festgenommen – ein drittes Mal, dann wäre mir der Prozess gemacht worden. Wir hatten auch erwartet, dass unsere Apartments durchsucht werden, weil wir Putin bei einer Videoschalte im US-Fernsehen mit Stalin und Hitler verglichen hatten. Dann haben mich Fremde mit ihren Handykameras verfolgt. Außerdem hatten wir Sorge, dass Kriegsrecht verhängt wird und wir nicht mehr wegkönnen. Da hieß es für uns: jetzt oder nie.

Gleich nach Ihrer Ankunft in Berlin haben Sie auch hier eigene Proteste gestartet, zuletzt einen dreitägigen Hungerstreik und ein Violinkonzert vor der russischen Botschaft. Was hoffen Sie damit zu erreichen?

Arshak Makichyan: Obwohl es in der Ukraine von Tag zu Tag schlimmer wird, hat der Schock über den Krieg in Europa nachgelassen. Also versuchen wir, alle wachzurütteln: die Fußgänger, die vorbeikommen, die Mitarbeiter der Botschaft und generell die deutsche Bevölkerung. Vor allem aber die deutsche Regierung.

Oleinikova: Als wir frisch nach Berlin gekommen sind, war ich richtig glücklich, weil überall ukrainische Flaggen hingen. Und weil wir mit Tausenden Menschen für den Frieden demonstriert haben. Aber das ist längst vorbei, jetzt kommen meist nur noch eine Handvoll Menschen zu Protesten. Und die Regierung hilft Russland viel mehr als der Ukraine.

Wie meinen Sie das?

Oleinikova: Durch die Gaskäufe fließen irrsinnige Geldströme in Putins Tasche; viel mehr als Berlin in Form finanzieller oder militärischer Hilfe nach Kiew schickt. Und trotzdem sträubt sich die Bundesregierung gegen ein Embargo.

Makichyan: Der Kreml hat seine Einnahmen über Gasgeschäfte seit Beginn des Kriegs verdoppelt und Deutschland hat das als größter Importeur in Europa besonders zu verantworten. Das ist quasi eine direkte Finanzierung des Kriegs – denn andere Einnahmequellen als fossile Brennstoffe hat das Regime nicht.

Auch hier sind die Gaslieferungen umstritten. Gleichzeitig sorgen sich viele Menschen um die wirtschaftlichen Folgen und explodierende Energiepreise.

Makichyan: Natürlich ist das ein Risiko für die Wirtschaft. Aber das muss man eingehen – sonst wird der Preis, den man letztlich zahlt, immer höher. Das ist so wie mit der Klimakrise: je weniger man heute tut, desto größer sind die Probleme in einigen Jahren. Putin ist nicht nur eine Gefahr für die Ukraine, sondern ebenso für die EU. Wer weiß, was sein nächster Schritt sein wird – auch der Überfall auf die Ukraine kam unerwartet.

Oleinikova: Jede Hilfestellung für das russische Regime ist schändlich. Wenn Putin gewinnt, waren alle Opfer auf Seiten der Ukraine und der russischen Zivilbevölkerung umsonst.

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Sie beide haben selbst viel aufs Spiel gesetzt, um in Russland für Ihre Überzeugung einzutreten. Viele Menschen wären dazu wohl nicht bereit. Warum ist das bei Ihnen anders?

Oleinikova: Wenn man vor großen Ungerechtigkeiten seine Augen verschließt, was unterscheidet einen dann noch von einem Roboter? Im Namen meines Landes werden in der Ukraine Menschen ermordet. Eigentlich wäre ich jetzt im ersten Semester, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, in einer sonnigen Unistadt an der Küste den Frühling zu genießen und so zu tun als wäre nichts. Was für Menschen sind das, die so durchs Leben gehen? Aktivismus ist für mich daher keine aktive Entscheidung, sondern ein Drang – ich muss einfach. Und trotzdem müssen wir uns noch anhören, wir würden nicht genug tun.

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Polina Oleinikova, 19 und Arshak Makichyan, 27: Oleinikova ist angehende Chemikerin, hat ihren Studienbeginn aber für den Aktivismus verschoben. Als ein Lehrer ihrer Abschlussklasse wegen eines Protests verhaftet wurde, entschied sie, sich erst für ein demokratisches Russland einzusetzen. Makichyan hat für den Aktivismus seine Musikerkarriere als Geiger aufgegeben. Bereits 2019 verließ er im letzten Ausbildungsjahr das renommierte Moskauer Konservatorium, um für den Klimaschutz in Russland zu kämpfen – und musste für sein Engagement kurzzeitig ins Gefängnis. Während sie in den westlichen Medien gefeiert werden, steht ihr Antikriegsprotest in Russland inzwischen unter Strafe – als wissentliche Verbreitung von Falschinformationen über das russische Militär.

Wer behauptet das?

Makichyan: Von europäischen Politikern hört man immer wieder, die russische Zivilbevölkerung sei nicht radikal genug. Was denken die denn, wie es in Russland zugeht? Wir können doch nicht den Kreml mit Waffen stürmen.

Wie hat sich die Situation für russische Aktivistinnen und Aktivisten seit Kriegsbeginn verändert?

Makichyan: Vor dem Krieg war es noch möglich, allein ein Plakat hochzuhalten und über soziale Medien wie Twitter Informationen zu verbreiten. Das habe ich drei Jahre lang gemacht, zuerst vor allem wegen der Klimakrise, dann zunehmend rund um Menschenrechte und Demokratie in Russland, weil der Raum für die Zivilgesellschaft immer kleiner wurde. Inzwischen ist jeglicher Protest verboten, das Internet in weiten Teilen abgeschaltet.

Oleinikova: Freunde von mir, die in Russland geblieben sind, um weiterzumachen, haben im Arrest teils tagelang nichts zu trinken und zu essen bekommen. Einige wurden von der Polizei misshandelt. Das kann man mit Aktivismus in Europa nicht vergleichen.

Makichyan: Mir ist das schon vor ein paar Jahren sehr bewusst geworden, als ich die riesigen Klimaproteste in den europäischen Hauptstädten gesehen habe. Da waren Hunderttausende auf der Straße, während ich in Moskau verhaftet wurde, weil ich gemeinsam mit zwei Freunden protestiert hat. Es sagt sich so einfach, wir sollten mehr Widerstand leisten. Dabei steht bereits eine Haftstrafe darauf, den Krieg tatsächlich als Krieg zu bezeichnen.

In der Bevölkerung scheint es aber tatsächlich eine Mehrheit zu geben, die Putin unterstützt und den Krieg befürwortet. Wie gehen Sie damit um?

Oleinikova: So falsch ihre Meinung ist – ich kann diese Leute nicht verurteilen. Russinnen und Russen ticken nicht so wie die Bevölkerungen in demokratischen Ländern. Seit Jahrzehnten leben sie in einem autoritären Staat: Putins Propaganda hat viele weichgekocht und gerade in ländlichen Gebieten ist es noch gefährlicher, Kritik zu üben als in den großen Städten. Dazu kommt oft große Armut, sodass die Menschen finanziell vom Regime abhängig sind. Das sind auch russische Bürger, die von Putin verraten werden. Wir kämpfen deshalb ebenso für ihr Recht auf Demokratie und ein gutes Leben.

Sie haben die zahlreichen Putin-Unterstützer in Russland also noch nicht aufgegeben?

Oleinikova: Nein, das könnte ich nicht. Wir müssen auf sie zugehen und die öffentliche Meinung umkehren. Ich weigere mich zu sagen, dass ihnen so das Gehirn gewaschen wurde, dass man sie nicht mehr erreicht. Aber ich mache mir auch nichts vor: Die imperialen und kolonialen Ideale sind zu tief verwurzelt, als dass es schon reichen würde, dass Putins Regierung fällt.

Machikyan: Putin ist ja kein Einzelfall; er kommt aus der Mitte der russischen Gesellschaft.

Oleinikova: Dass Putin viele Unterstützer hat, liegt auch daran, dass die Menschen mit dieser Idee von Großrussland aufgewachsen sind. Auch als wir Kinder waren, ging es immer darum, dass Russland das beste Land der Welt sei, die Sowjetunion großartig war und das russische Militär nur aus Helden bestehe. Da gibt es viel zu tun, aber Russland kann sich davon erholen.

Makichyan: Gleichzeitig akzeptieren wir auch, wenn Ukrainerinnen oder Ukrainer sagen, sie hassen die Russen. Sie kämpfen um ihr Leben und verteidigen das Existenzrecht ihres Landes, ihre Wut ist völlig berechtigt. Die Europäer fühlen deswegen viel Mitleid mit den Menschen – aber mehr nicht. Mitleid allein ändert aber nichts an der Lage. Echte Solidarität wäre es, den Gashahn endlich abzudrehen.

Planen Sie, in Deutschland zu bleiben, um den Druck für ein Gasembargo weiter zu erhöhen?

Makichyan: Das ist eine sehr schwierige Entscheidung. Es wäre einfach, hier in Berlin sitzen zu bleiben und immer weiter dieselben Forderungen zu wiederholen. Aber das heißt nicht, dass es richtig wäre. Wir müssen unsere Arbeit in Russland weiterführen, auch wenn das mit Risiken und persönlichen Opfern verbunden ist.

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Auf Twitter raten ihnen sogar Fremde davon ab, nach Russland zurückzugehen – die Gefahr sei zu groß. Ist das nicht irrational, wissentlich lange Gefängnisstrafen zu riskieren?

Makichyan: Aktivismus in Russland war noch nie rational – auch vor dem Krieg war es gefährlich. Man muss einfach machen, was sich richtig anfühlt. Dass wir die Wahl haben, ob wir uns dem aussetzen, ist ein Privileg. Die Ukrainer haben das nicht, Putin nimmt ihnen alles.

Oleinikova: Klar habe ich Angst davor, dass wir im Gefängnis landen könnten. Aber ich möchte mich nicht von Angst durchs Leben leiten lassen. Wir bekommen tatsächlich viele Ratschläge dazu, was wir tun sollen. Angeblich mache es mehr Sinn, im Ausland die russische Friedensbewegung weiterzubringen. Ich will aber zurück nach Russland – das ist die Öffentlichkeit, mit der ich arbeiten will. Wir können die Menschen nicht im Stich lassen.

Makichyan: Allerdings brauchen wir neue Strategien, um Putin zu bekämpfen.

Wie könnte das aussehen?

Oleinikova: Jetzt ist die Zeit für Guerilla- und Partisanenmethoden. Also besonders kreativer Widerstand, der überall möglich ist.

Zum Beispiel?

Oleinikova: Vor einigen Wochen hat eine junge Frau, Alexandra Skochilenko, in Sankt Petersburg die Preisschilder an Supermarktregalen mit Infoschildchen über die Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine ausgetauscht. Sie wurde deswegen festgenommen und sitzt in U-Haft, aber auch in anderen Städten tauchen jetzt solche Zettel auf. Andere Leute umgehen die Zensur mit Friedensgraffiti oder tanzen auf öffentlichen Plätzen zu ukrainischer Musik. Das ist beides nicht verboten, aber alle wissen, was damit gemeint ist.

Makichyan: Man muss die Methoden an das neue politische Klima anpassen. Wenn wir einfach aufgeben, kriegen wir unser Land und unsere Rechte nie zurück.

Was gibt Ihnen die Kraft, sich diesem Kampf zu stellen?

Oleinikova: Ich liebe unsere Heimat. Russland ist so viel mehr als Putin und seine Kumpanen. Wenn das Regime fällt, können wir helfen, die Ukraine wieder aufzubauen und daran arbeiten, dass alle Russen eine gute Zukunft in unserem Land haben. Ich glaube wirklich, dass das möglich ist.

Frau Oleinikova, Herr Makichyan, vielen Dank für das Gespräch.

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