Gaza-Plan Netanjahu riskiert alles

Netanjahus Plan zur schrittweisen Annexion von Gaza-Gebieten nimmt konkrete Formen an. Was als militärische Strategie präsentiert wird, dient wohl auch einem anderen Zweck.
Benjamin Netanjahu kämpft nicht nur gegen die Terrororganisation Hamas – er kämpft auch um das Überleben seiner politischen Karriere. Die israelische Regierung ist instabil, die Mehrheit im israelischen Parlament – der Knesset – verloren, der innenpolitische Druck wächst.
Jetzt greift der Premierminister deshalb offenbar zu einem umstrittenen Mittel: der schrittweisen Annexion von Teilen des Gazastreifens. Medienberichten zufolge will er diesen Plan seinem Sicherheitskabinett vorlegen – verbunden mit einem Ultimatum an die radikal-islamische Hamas, binnen Tagen einem Waffenstillstand zuzustimmen. Andernfalls sollen israelische Truppen Gebiete besetzen, zunächst in der Pufferzone, später im Norden Gazas.
Bereits im Mai hatte der Premier angekündigt, israelische Soldaten sollten in eroberten Gebieten stationiert bleiben. Ziel sei eine dauerhafte Präsenz – und, wie es hieß, auch eine Umsiedlung der palästinensischen Bevölkerung "zu ihrem Schutz". Schon damals reagierten viele Menschen in Gaza mit Entsetzen. Was damals wie ein extremes Szenario erschien, nimmt nun Form an.
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Innenpolitisches Kalkül
Was wie ein militärstrategischer Schritt wirkt, ist offenbar auch innenpolitisches Kalkül. Der ultrarechte Finanzminister Bezalel Smotrich hatte Netanjahu unter Druck gesetzt und angekündigt, das Bündnis aufzukündigen, sollte sich der Premier weiter zaudernd zeigen. Die Annexion – sie könnte auch ein radikales Zugeständnis an einen Koalitionspartner sein, der sich einst selbst als "faschistischen Homophoben" bezeichnete.
Ein weiterer Grund für Netanjahus kompromisslosen Kurs liegt womöglich im Persönlichen: Dem Premier droht nach dem Krieg die Fortsetzung seines eigenen Korruptionsprozesses. Solange der Krieg andauert, ist er politisch unangreifbar – käme es tatsächlich zu einer Waffenruhe, könnte das auch seine Immunität gefährden.
Beobachter in Israel und internationale Medien weisen darauf hin, dass Netanjahu nach dem Ende der Kampfhandlungen wieder vor Gericht erscheinen müsste. Es geht um Vorteilsannahme, Betrug und Untreue – Vorwürfe, die seine Karriere schon länger belasten.
Für seine Gegner ist klar: Der Premier hat ein Eigeninteresse daran, den Konflikt zu verlängern. Solange Israel im Krieg ist, bleibt er Premier. Und solange er Premier ist, bleibt er juristisch geschützt.
Ein historischer Bruch
Der Plan ist dabei mehr als ein innenpolitisches Manöver. Er würde einen historischen Bruch bedeuten: Völkerrechtlich wäre die Annexion wohl illegal. Politisch würde sie das endgültige Scheitern der Zweistaatenlösung besiegeln – jener diplomatischen Vision, auf die jahrzehntelang Friedensinitiativen gründeten.
International wird Israels Regierung für ihr Vorgehen zwar kritisiert, doch vielfach nur verhalten. Die USA, die in Katar versuchten, eine Waffenruhe zu vermitteln, haben ihre Unterhändler mittlerweile abgezogen. US-Präsident Donald Trump äußerte zwar Kritik an der humanitären Lage, überließ aber faktisch Netanjahu das Feld.
Der Rückhalt in der Bevölkerung zu Netanjahus Politik schwindet – zu groß ist die Wut über die Sicherheitskatastrophe vom 7. Oktober 2023, als Terroristen der Hamas Israel überfielen und so den Gaza-Krieg auslösten, zu laut sind die Proteste der Geiselfamilien. Sie werfen der Regierung vor, ihre Familienmitglieder "opfern" zu wollen. Die Verschleppten zurückzuholen, scheine zweitrangig zu sein – wichtiger sei es offenbar, "Land zu erobern", so das Forum der Geiselfamilien.
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Netanjahu: "Geben das keine Minute lang auf"
Israels Regierungschef Netanjahu beharrt trotzdem auf einer kompletten Zerschlagung der Hamas. Israel habe zwei Aufgaben zu erledigen, sagte Netanjahu beim Besuch des Hauptquartiers des militärischen Geheimdienstes: die Zerstörung der Palästinenserorganisation sowie die Befreiung aller noch in Gaza verbliebenen Geiseln. "Wir geben das keine Minute lang auf. Das sind zwei miteinander verflochtene Ziele", betonte Netanjahu.
Nach Einschätzung westlicher Beobachter ist die Hamas jedoch weitgehend geschlagen. Ihre Anführer wurden getötet, ihre militärische Infrastruktur schwer beschädigt. Israel kontrolliert inzwischen etwa siebzig Prozent des Gazastreifens. Dennoch geht der Krieg weiter – wohl nicht aus strategischer Notwendigkeit, sondern aus politischer Überlebensangst.
Das Leid der Zivilbevölkerung ist derweil groß. Mehr als sechzig Prozent aller Gebäude sollen zerstört sein, Millionen Menschen leben in Zeltstädten, die Versorgungslage ist dramatisch. Internationale Organisationen warnen vor einer Hungerkatastrophe, ebenso wie israelische NGOs.
Deutschland will Luftbrücke etablieren
Deutschland reagiert – aber zögerlich. Die Ankündigung einer Luftbrücke zusammen mit Jordanien ist ein humanitärer Schritt, den Kanzler Merz selbst als "kleine Hilfe" bezeichnete. Die geplanten Luftabwürfe seien zwar ein symbolisches Zeichen, so Merz, aber nicht geeignet, die Not nachhaltig zu lindern. Hilfsorganisationen warnen, dass sie kaum etwas bewirken – die Mengen seien zu klein, das Verfahren gefährlich. Und ohne Waffenruhe seien sie ohnehin nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
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Sollte Israel die humanitäre Lage nicht schnell verbessern, will Merz weitere Maßnahmen ergreifen. Man habe zwar zunächst keine Beschlüsse dazu gefasst, sagte er nach einer Sitzung des Sicherheitskabinetts. "Wir behalten uns aber solche Schritte vor." Welche Maßnahmen infrage kommen, sagte Merz nicht.
Am Sonntag ließ Israel erstmals seit Monaten die Einfuhr größerer Mengen von Hilfslieferungen zu. Nach israelischen Angaben wurden am Montag den zweiten Tag in Folge Lebensmittel abgeworfen.
Trump lässt Netanjahu gewähren
Auch US-Präsident Trump meldete sich zu Wort. Bei seinem Besuch in Schottland forderte er Israel auf, Lebensmittel zu liefern. Es sei eine große Verantwortung, die Versorgung sicherzustellen. Doch hinter den Worten steht wenig diplomatischer Druck. Trump hat den Nahostkonflikt zurzeit nicht im Fokus – und Netanjahu nutzt das Vakuum. Aus israelischen Regierungskreisen heißt es, die Gespräche mit den USA verliefen "kooperativ". Kritik bleibt aus, Rückhalt bestehen.
Sollte Netanjahu seinen Plan umsetzen, steht Europa vor der Wahl: mitgehen, schweigen oder handeln. Die Annexion könnte der Wendepunkt werden, an dem sich zeigt, ob das internationale System in der Lage ist, Normen durchzusetzen oder ob Macht und Machterhalt triumphieren.
Für Netanjahu wäre es ein innenpolitischer, wenn auch kurzfristiger, Sieg. Für Gaza ein weiteres Kapitel der Zerstörung. Und für den Westen ein Test, wie ernst er es mit dem Frieden meint.
- Eigene Recherche
- haaretz.com: "Netanyahu Proposes to Annex Parts of Gaza in Attempt to Appease Far-right Minister if Hamas Does Not Agree to a Deal" (englisch)
- ZDF Heute: "Israel will Gaza dauerhaft besetzen"
- Mit Material der Nachrichtenagentur AFP
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