Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Russendisko" Das kann in Russland üble Folgen haben

Russlands Regime ist kontrollwütig, das bekommt auch die Literatur zu spüren. Nun hat es beliebte Kinderbücher erwischt, meint Wladimir Kaminer.
Manchmal passieren merkwürdige Dinge in der russischen Bücherwelt. Der Verlag Weiße Krähe hat eine Rückrufaktion der Kinderbuchreihe "Pettersson und Findus" angekündigt, alle Bücher dieser Reihe dürfen ab sofort nicht mehr verkauft werden. Die Buchhändler und Bibliotheken müssen sie aus dem Regal nehmen.
Kann das wahr sein? Ja, es werden im heutigen Russland Bücher verboten, solche mit unerwünschten politischen Inhalten, mit Kritik am Regime, von ausgereisten Schriftstellern, die den Status "unerwünschte Person" oder "Agent des ausländischen Einflusses" vom Justizministerium erhalten haben, sowie Bücher, in denen "nicht traditionelle Partnerschaftsformen" beschrieben werden. "Propaganda für Homosexualität" und "Verschmähung der traditionellen russischen Werte" wird unter Strafe gestellt.

Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch ist "Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen", am 27. August 2025 erscheint dann "Das geheime Leben der Deutschen".
Aber "Pettersson und Findus"? Wie kamen sie auf die Liste der verbotenen Literatur? Die Abenteuer des alten Schweden und seines launischen Kätzchens sind in Russland sehr beliebt, diese Bücher waren gefühlt in jeder Hausbibliothek vorhanden, in jeder Familie, die Kinder hat. Verstößt etwa die enge Beziehung zwischen Pettersson und Findus auch gegen die traditionellen russischen Werte? Und weiß jemand, was diese Werte genau sind? Damit tun sich die Russen zurzeit schwer. In seiner neuen Rolle als "eigenständige Zivilisation" und "souveräne russische Welt" übt das Land erst zu laufen – manchmal hat man allerdings das Gefühl, der Schuh ist zu groß.
Der unfehlbare Staatsmann, der Herrscher und Hüter dieser "Zivilisation", der das russische Volk wie kein anderer zu verstehen behauptet, sitzt ganz oben und redet nicht viel. Ab und zu sagt Putin etwas über die Wichtigkeit der traditionellen Werte, aber er geht nicht ins Detail. Gleichzeitig ist er als eine leicht reizbare und nachtragende Person bekannt. Unter ihm leben Menschen, deren Aufgabe es ist, den Herrscher nicht traurig zu machen. Die Kommunikation zwischen dem Staat und der Bevölkerung funktioniert nach dem 3G-Prinzip: Geld, Gewalt und Gesang.
Immer auf der Hut
Die unzähligen Geheim- und Sicherheitsdienste sorgen dafür, dass niemand ungestraft bleibt, der eventuell etwas im Schilde führen könnte. Für Loyalität wird gezahlt, die Aufgabe der Kultur ist es, dieses neue Russland zu besingen, mit der Botschaft: Noch nie und nirgends war das Leben so schön und die Menschen so glücklich wie in der russischen "Welt der traditionellen Werte". Das Problem ist: Eine genaue Beschreibung dieser Werte fehlt, die Liste der unerwünschten Personen, Extremisten und verbotenen Bücher wird dafür Woche für Woche länger.
Die Bürokratie des russischen Staates muss auf eigene Gefahr handeln, um die Vorstellungen des Chefs umzusetzen, die wahrscheinlich nicht einmal der Chef selbst kennt. Wie jede Bürokratie handelt die russische nach dem Prinzip "übertriebene Vorsicht ist besser als Nachsicht". Für ein Verbot zu viel wird man nicht bestraft, während die Nachlässigkeit gefährlich sein könnte. Mit Rage werden in Russland Dinge bekämpft, die leicht zu bekämpfen sind. Filme oder Theaterinszenierungen lassen sich zum Beispiel leicht verbieten. Sie werden einfach nicht gezeigt.
Dasselbe gilt für Menschen, die sich zu Fragen äußern wollen, die sie nach Meinung des Regimes nichts angehen: Politik, Wirtschaft, Krieg in der Ukraine, auch die "nicht traditionellen Liebesformen". Doch die Gesetze sind lasch formuliert, jede Äußerung oder auch Schweigen könnte als Propaganda für Homosexualität gedeutet werden, und die besorgten Bürger schlafen nicht. Es wird denunziert, Clubs mit einem falschen Programm werden geschlossen, Galerien kaputt geschlagen.
Schwieriger wird es, wenn es um Bücher geht. Die Bücher werden nach wie vor millionenfach in Russland gedruckt, es sind sehr viele Buchstaben, und nicht einmal der Chef persönlich weiß, was in all diesen Büchern steht. Letzten Endes wird im Verlagswesen auf die Selbstzensur gesetzt, schließlich schützt Unwissenheit nicht vor Strafe. Die Verlage müssen selbst handeln und ihre Produktion mit wachen Augen durchlesen. Sollten sich besorgte Bürger jemals beschweren, sind die Verleger nämlich geliefert.
Immer schön vorsichtig
Und die Leser? Im Internet kursieren Gebrauchsanweisungen für Leser der verbotenen Literatur, sorgfältig von Juristen zusammengefasst. Es verhält sich nämlich mit der verbotenen Literatur in Russland wie mit dem Cannabisrauchen in Deutschland, Verbreiten ist strafbar, Konsumieren erlaubt. Oder doch nicht? Kann das Lesen beziehungsweise Vorlesen eines verbotenen Buches als Propaganda für Homosexualität gedeutet werden? Ja, sagen die Juristen und empfehlen, die Bücher mit unsicherem Inhalt gut zu verpacken, am besten in eine patriotische Zeitung einzuwickeln und in der Öffentlichkeit aufzupassen, dass keiner über die Schulter in deinem Buch mitliest.
Es ist allerdings nicht immer leicht herauszufinden, welche Literatur schon verboten ist oder noch auf dem Weg dahin. Es existiert zwar eine Liste der verbotenen Literatur, Bücher mit politischem Inhalt, von den Regimegegnern verfasste Werke sind auf dem Index sowie Literatur, die sich eine Beschreibung "nicht traditioneller Werte" erlaubt: Doch damit ist das Problem nicht gelöst. "Pettersson und Findus" ist zum Beispiel nicht offiziell verboten. Man darf die Bücher aber trotzdem nicht verkaufen.
Was ist passiert? Die Übersetzerin der Kinderbuchreihe war nebenberuflich politisch aktiv, sie arbeitete für "Memorial", eine in Russland verbotene Menschenrechtsorganisation. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine verließ sie das Land und wurde nun als "unerwünschte" Extremistin eingestuft. Weil ihr Name mit auf dem Titel steht, darf "Pettersson und Findus" laut der neuen Gesetzgebung nur in schwarzes Papier gewickelt mit der Bezeichnung "18+" in den Regalen ausliegen.
Der Kauf eines solchen Buches kann unter Umständen als politisch motivierte Tat gedeutet werden. Was hat der Verlag nun nach der Rückrufaktion vor? Ich denke, sie wollen die Bücher jetzt ohne den Namen der Übersetzerin neu drucken. Ob das hilft, weiß man nicht.