Schwere Vorwürfe gegen Israel UN-Organisationen: Dutzende Tote und "Massenvertreibungsbefehl"

Im Gazastreifen sind Dutzende Menschen nahe einem Hilfskonvoi getötet worden. Internationale Organisationen erheben schwere Vorwürfe gegen Israels Armee – die spricht von "Warnschüssen".
UN-Hilfsorganisationen üben scharfe Kritik am jüngsten Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen und der sich dort verschärfenden humanitären Lage. Die "Hungerkrise" in Gaza habe "ein neues Ausmaß an Verzweiflung" erreicht, beklagte das Welternährungsprogramm (WFP) auf der Plattform X. Die israelische Armee habe am Sonntag auf eine große Menschenmenge in der Nähe eines WFP-Hilfskonvois geschossen, zahlreiche Menschen seien getötet worden.
Das UN-Nothilfebüro sprach aufgrund eines neuen "Massenvertreibungsbefehls" der israelischen Armee für Menschen in der Stadt Deir al-Balah im Zentrum Gazas zudem von einem "verheerenden Schlag" für die humanitären Bemühungen.
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Mindestens 73 Tote
Nach Angaben der von der islamistischen Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde in Gaza wurden am Sonntag mindestens 73 Palästinenser in dem abgeriegelten Küstenstreifen getötet, die meisten davon bei einem Vorfall im Norden, berichtete die "Times of Israel".
Laut WFP hatte sich eine Menschenmenge einem WFP-Konvoi bestehend aus 25 Lkw genähert, als dieser den Grenzübergang Zikim überquerte. Daraufhin sei die Menge unter israelischen Beschuss geraten. Laut der Gesundheitsbehörde in Gaza wurden 67 Menschen getötet, wie die Zeitung weiter berichtete.
Israels Armee spricht von Warnschüssen
Die "Times of Israel" schrieb, es sei nicht sofort klar gewesen, ob die Menschen Opfer der israelischen Armee, bewaffneter Banden oder von beiden wurden. Die Zeitung zitierte die Armee, wonach lediglich Warnschüsse abgefeuert worden seien, "um eine unmittelbare Bedrohung für die Truppen zu beseitigen". Israels Armee bestreitet demnach die hohe Zahl an Opfern. Das WFP beklagte, die Menschen hätten lediglich versucht, an Nahrungsmittel zu gelangen, um sich und ihre Familien zu ernähren, "die kurz vor dem Verhungern stehen".
Israels Armee kündigte unterdessen an, ihre Einsätze in Deir al-Balah im Zentrum Gazas auszuweiten und rief die Menschen in mehreren Vierteln dazu auf, sich in den Südwesten zu begeben. Aus Sicht des UN-Nothilfebüros OCHA ist dies ein weiterer Rückschlag für die humanitären Bemühungen. Nach ersten Schätzungen hielten sich zum Zeitpunkt der Anordnung zwischen 50.000 und 80.000 Menschen in dem betroffenen Gebiet auf, erklärte OCHA.
Darunter sind viele Menschen, die in Zelten untergebracht sind. Mindestens 1.000 Familien seien in den vergangenen Stunden aus dem Gebiet geflohen. In dem neu ausgewiesenen Einsatzgebiet befinden sich nach Angaben von OCHA unter anderem mehrere Lagerhäuser für humanitäre Hilfe, vier Kliniken, ein Wasserreservoir sowie eine Pumpstation für Abwässer. "Jede Beschädigung dieser Infrastruktur wird lebensbedrohliche Folgen haben", warnte OCHA.
Israels Armeechef sieht "Potenzial" für Geisel-Deal
Trotz der andauernden Einsätze der Armee in Gaza hält Israels Generalstabschef Ejal Zamir eine Waffenruhe und ein Abkommen zur Freilassung von Geiseln aus der Gewalt der islamistischen Hamas für möglich. "Eure Erfolge im Feld (...) lassen die Niederlage der Hamas näher rücken und erzeugen das Potenzial für einen Geisel-Deal", sagte der Armeechef nach Militärangaben bei einem Truppenbesuch im Gazastreifen.
Bei indirekten Verhandlungen in der katarischen Hauptstadt Doha ringen Israel und die Hamas seit Monaten um Kompromisse, die eine 60-tägige Waffenruhe und eine Freilassung von Geiseln ermöglichen sollen. Diplomaten aus Katar, Ägypten und den USA fungieren als Vermittler. Israelische Medien berichteten zuletzt von Fortschritten. Ein Durchbruch scheint aber bislang nicht in Sicht.
Geiselangehörige besorgt wegen Ausweitung des israelischen Militäreinsatzes
Nach israelischen Angaben werden noch 50 aus Israel entführte Menschen in Gaza festgehalten, davon sollen mindestens 20 noch am Leben sein. Die Angehörigen reagierten mit Entsetzen auf die Armeemitteilung über die Ausweitung der Einsätze in Deir al-Balah. "Kann uns irgendjemand versprechen, dass diese Entscheidung nicht zum Verlust unserer Angehörigen führen wird?", hieß in einer Stellungnahme des Forums der Familien der Entführten.
Ein Ende des Leidens in Gaza ist nicht in Sicht. Der Vorfall mit dem Hilfskonvoi des WFP im Norden Gazas habe sich trotz der Zusicherung der israelischen Behörden ereignet, dass sich die Bedingungen für humanitäre Einsätze verbessern, bewaffnete Kräfte zu keinem Zeitpunkt entlang der Routen humanitärer Konvois präsent sein und eingreifen würden, beklagte das WFP.
Kritik an Hilfsgüter-Verteilung
Um die Verteilung von Lebensmitteln kümmert sich in weiten Teilen Gazas die umstrittene Gaza Humanitarian Foundation (GHF). Israel hatte das neue Verteilsystem nach eigenen Angaben eingeführt, um zu verhindern, dass die Hamas Hilfsgüter abzweigt. Die UN kritisieren, dass die Stiftung zu wenige Verteilzentren im Gazastreifen betreibe. Die Menschen seien dort und auf dem Weg dahin großen Gefahren ausgesetzt. Auch die Bundesregierung kritisiert den neuen Verteilmechanismus der Stiftung als nicht ausreichend.
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Es sei "inzwischen offensichtlich, dass dieser nicht in ausreichendem Maß die Zivilbevölkerung erreicht und auch nicht nach den humanitären Prinzipien operiert". Das geht aus einer Antwort des Auswärtigen Amts in Berlin auf Fragen der Grünen-Bundestagsfraktion hervor, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Zuerst hatte der "Spiegel" berichtet. In der Antwort wird die humanitäre Lage im abgeriegelten Gazastreifen als "unerträglich" bezeichnet.
Immer wieder gibt es Berichte über tödliche Zwischenfälle in der Nähe der GHF-Verteilstellen. Der Vorfall vom Sonntag unterstreiche die zunehmend gefährlichen Bedingungen für humanitäre Maßnahmen, erklärte das WFP. Vor der Einführung des neuen Verteilmechanismus hatten die UN für die rund zwei Millionen Palästinenser in Gaza rund 400 Verteilstationen betrieben. Diese funktionieren weiterhin kaum, weil Israel deren Belieferung so gut wie gar nicht zulässt.
- Nachrichtenagentur dpa