Fall von Kabul "Die USA haben der afghanischen Armee vors Knie getreten"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kabul gehört wieder den Taliban. Wer trägt die Schuld daran? Experte Carlo Masala erklärt, warum der Westen sich selbst belogen hat. Und welche Weltmacht dort bereits Einfluss nimmt.
t-online: Herr Masala, binnen kürzester Zeit sind die Taliban erneut die Herren Afghanistans geworden, Joe Biden gibt vor allem der Afghanischen Nationalarmee und der politischen Führung des Landes die Schuld daran. Macht es sich der US-Präsident mit dieser Erklärung nicht zu einfach?
Carlo Masala: Bidens Aussagen sind unfair gegenüber den Soldaten der Afghanischen Nationalarmee. Wir dürfen nicht vergessen, dass allein im letzten Jahr mehr afghanische Soldaten und Polizisten von den Taliban umgebracht worden sind als Soldaten der ausländischen Koalitionstruppen während des gesamten Afghanistan-Einsatzes.
Aber in Bezug auf die politische Führung in Kabul hat Biden recht?
Ja. Die afghanische Regierung wollte vor allem ihre eigenen Taschen füllen. Kurzum, sie bestand zu einem guten Teil aus korrupten Politikern und Warlords. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Moral der Soldaten: Sie haben erlebt, wie sich Politiker und ranghohe Kommandeure sofort ins Exil absetzten beim Vormarsch der Taliban. Warum sollten diese Männer als einfache Soldaten da noch kämpfen?
Trotz der durch die Korruption entstandenen Probleme ist es immer noch nicht verständlich, warum die Taliban Kabul nahezu kampflos einnehmen konnten.
Es gibt weitere Gründe: Zum einen hat sich die Afghanische Nationalarmee niemals zu einer richtigen Armee entwickelt. Und zwar in dem Sinne, dass sich die Soldaten als Verteidiger ihres Staates und ihrer Nation verstanden. Vor allem darf man nicht vergessen, dass die USA ihren Beitrag zum Kollaps der afghanischen Armee beigetragen haben.
Können Sie das näher erklären?
Die Amerikaner haben sich aus dem Land immer mehr zurückgezogen, damit gingen die afghanischen Soldaten vieler Unterstützungsleistungen verlustig.
Wie einer umfassenden Luftaufklärung?
Zum Beispiel. Oder die Unterstützung durch Luftschläge bei Gefechten mit den Taliban. Die Probleme sind aber noch grundsätzlicher: Auch die sogenannten Contractors, Unternehmen, die für den Militärsektor Dienstleistungen erbringen, sind gegangen. Das hatte zur Folge, dass die afghanische Luftwaffe nicht einmal mehr ihre Kampfflieger warten lassen konnte. Genau genommen haben die USA der afghanischen Armee vors Knie getreten.
Carlo Masala, Jahrgang 1968, lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. Der Politikwissenschaftler gibt unter anderem die "Zeitschrift für Internationale Beziehungen" mit heraus, zugleich diskutiert er regelmäßig im Podcast "Sicherheitshalber" über Sicherheitspolitik. 2016 ist sein Buch "Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens" erschienen.
20 Jahre lang lief der westliche Einsatz in Afghanistan, binnen weniger Wochen sind die erhofften Erfolge des sogenannten "Nation Building" zerronnen. War alles umsonst?
Es sieht danach aus. Wir hätten viel mehr Soldaten und Entwicklungshelfer schicken müssen, um das hochgesteckte Ziel des "Nation Building" in ganz Afghanistan voranzutreiben. Stattdessen ist man einer klassischen Logik gefolgt: Wenn man die Hauptstadt in den Griff bekommt, wird der Rest des Landes schon folgen.
Was sich als kolossaler Irrtum entpuppt hat: Die Taliban sind aus den ländlichen Regionen Afghanistans niemals verschwunden.
Genau. Die afghanische Regierung hatte zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle über das ganze Land, in Teilen der Bevölkerung sind die Taliban auch eine vollkommen akzeptierte Kraft. Der mangelnde Einsatz für Afghanistan lag aber auch darin begründet, dass er in den Ländern des Westens nie voll akzeptiert worden ist. In den USA ging man entsprechend davon aus, dass die Taliban die Macht wieder übernehmen würden. Nur eben idealerweise in Jahren, nicht in Wochen.
Der lange Aufenthalt der Amerikaner und auch der Deutschen war also eine Art notwendiges Übel, weil man nicht wusste, wie der Westen seine Soldaten wieder aus dem Land bekommen konnte? Das bedeutet aber wiederum, dass in Washington und auch Berlin viel Wunschdenken darüber herrschte, als wie stabil sich Afghanistan nach einem Truppenabzug erweisen würde.
Im Westen hat man sich in die Tasche gelogen. Die letzten vier Jahre waren die Koalitionstruppen vor allem damit beschäftigt, die afghanische Armee aufzubauen. Eben um den eigenen Rückzug zu ermöglichen. Die Folgen sehen wir nun.
Eine davon ist ein Vertrauensverlust in die USA. Wird sich dies noch rächen in der Zukunft?
Ich bin da eher skeptisch. Als die Amerikaner in den Siebzigerjahren den Vietnamkrieg verloren haben, wurde ebenfalls vom Verlust ihrer Glaubwürdigkeit gesprochen. Und prophezeit, dass die Vereinigten Staaten nie wieder Ordnungsmacht sein könnten. Was sich als ziemlich falsche Annahme erwiesen hat.
Nun stehen die USA und der Westen erst einmal düpiert da. Während China bereits beste Kontakte zu den islamistischen Taliban aufnimmt.
Chinawird der nächste große Player in Afghanistan sein. Man sieht bereits, wie sich Peking um die Taliban bemüht. Und sicher den Ratschlag gab, sich moderat zu verhalten.
Nun schlägt also die Stunde Chinas am Hindukusch. Trotzdem müssen der Westen und Deutschland mit den Taliban in irgendeiner Form umgehen.
Das passiert auf zweierlei Art und Weise: Zum einen steht durch das mit den Taliban geschlossene Abkommen von Doha die Drohung im Raum, dass die Amerikaner erneut militärisch eingreifen, wenn zukünftig in Afghanistan wieder islamistische Terroristen Zuflucht finden wie einst Osama bin Laden. Zum anderen wird die Bundesrepublik wohl die Taliban zwar nicht offiziell als Regierung Afghanistans anerkennen, aber inoffizielle Kanäle zu ihnen offenhalten.
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Um einerseits verbliebene Ortskräfte doch noch aus dem Land zu holen und Flüchtlingsströme gen Europa zu verhindern? Wird möglicherweise auch Geld an die Taliban aus Deutschland fließen?
Es wäre vorstellbar, dass Geld an die Taliban fließt. Erfahren würde es die Öffentlichkeit wahrscheinlich niemals. Zugleich werden die Europäer alles daransetzen, die potenziellen Flüchtlinge in den Nachbarländern Afghanistans zu halten.
Könnten die Taliban denn in Zukunft wieder radikaler werden und Terroristen unterstützen?
Die Taliban sind keineswegs dumm, sondern haben ihre Lektion aus dem Jahr 2001 durchaus gelernt. Osama bin Laden und al-Qaida zu beherbergen war ein schwerer Fehler. Solange sie sich nicht aggressiv verhalten, wird es dem Westen egal sein, was die Taliban in Afghanistan tun. So zynisch das nun klingen mag.
Die Bundesregierung wirkte in dieser Krise ziemlich überfordert. Hat man sich in Berlin an die Vorstellung geklammert, dass der Abzug schon reibungslos verlaufen würde? Gerade in Wahlkampfzeiten?
Davon bin ich überzeugt. Alle Verantwortlichen waren froh über die Prognosen, dass die Taliban frühestens nach dem September die Macht übernehmen würden. Damit wäre das Thema im deutschen Wahlkampf außen vor geblieben. Nun ist das Thema Flüchtlinge und Migration da.
Schlossen die USA das Abkommen mit den Taliban aus einer Position der Schwäche heraus, um das Versprechen an die Amerikaner einzulösen, den "niemals endenden" Krieg in Afghanistan doch zu einem Ende zu bringen?
Der Westen hat einen zentralen Fehler gemacht: Parallel zu den Gesprächen in Doha hätten die westlichen Truppen die Taliban in einer Offensive angreifen sollen. So hätte man aus einer Position der Stärke heraus verhandeln können.
Stattdessen schützte das Abkommen von Doha nur Amerikaner und deren Verbündete vor Angriffen der Taliban.
Richtig. Entsprechend verstärkten die Taliban ihre Angriffe auf afghanische Soldaten, Polizisten und Zivilisten. Was nicht sonderlich dazu beitrug, das Vertrauen der Afghanen in den Westen zu stärken.
Herr Masala, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefonisches Interview mit Carlo Masala