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Desaster bei Bundestagswahl für Linkspartei: "Jetzt brauen wir viel Alkohol"


Wahldebakel für die Linke
Das blanke Entsetzen


Aktualisiert am 27.09.2021Lesedauer: 6 Min.
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Dietmar Bartsch: "Olaf Scholz ist mit Anti-Wahl nach oben gekommen". (Quelle: t-online)

Die Linke erlebt bei der Bundestagswahl ein Debakel, allein die Union hat noch größere Verluste erlitten. Der Schock auf der Wahlparty sitzt tief, die Partei schrammt nur knapp an der Katastrophe vorbei. Die Gründe.

Arkadi Neumann steht auf der Wahlparty der Linkspartei allein draußen an einem Stehtisch. Seine Miene ist versteinert, er nippt gelegentlich an einem Bierglas. Seine braune Jacke hat er sich wie einen Umhang über die Schultern gelegt, darunter ist ein buntes Hemd zu sehen. Es ist bereits dunkel, nach 22 Uhr. Vor allem jüngere Menschen sind noch auf der Veranstaltung in Berlin geblieben, es läuft laute Musik.

Neumann fragt gelegentlich die Menschen neben ihm nach der aktuellen Hochrechnung zur Bundestagswahl. Als er ein Handy entgegengehalten bekommt, schiebt er sich seine Brille hoch in das graue Haar, kneift die Augen zusammen, um die Zahlen richtig lesen zu können. Danach zündet er sich einen Zigarillo an. "Ich habe eigentlich schon lange aufgehört zu rauchen", meint er. "Nur zu Anlässen." Der Wahlabend ist so einer, nur kein positiver.

Knapp an der Katastrophe vorbei

So wie Neumann geht es vielen Anhängern der Linkspartei. Die Fehler der vergangenen Jahre sind das Gesprächsthema Nummer eins auf der Wahlparty. Für die Linke ist das Ergebnis der Bundestagswahl mit 4,9 Prozent ein Debakel, nur über die Direktmandate wird sie noch eine Fraktion im künftigen Deutschen Bundestag haben. "Das ist eine Party, aber es gibt eigentlich keinen Grund zum Feiern", ruft eine junge Frau. "Jetzt brauchen wir viel Alkohol."

Interne Streitereien, nicht regierungsfähige Positionen in der Außenpolitik und der Lagerwahlkampf zwischen Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) sorgten dafür, dass die Partei das schlechteste Ergebnis in ihrer jungen Geschichte eingefahren hat.

Schock nach der ersten Hochrechnung

Deutliche Verluste wurden von den Spitzen der Linkspartei und von ihren Anhängern erwartet. Doch viele ahnten nicht, wie knapp es am Ende werden würde. Nur fünf Prozent zeigte die erste Hochrechnung, später wurde es noch weniger. "Das war schon ein Schock. Ich habe geahnt, dass das Ergebnis nicht gut wird", erklärt Neumann später am Abend. "Aber die Linke lag in den Umfragen zwischen sechs und sieben Prozent und ich habe gedacht, dass es da einen größeren Puffer gibt."

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Anhänger der Linken, die sich an die Stirn fassen oder fassungslos den Kopf schütteln – das ist das Bild dieser Partei am Wahlabend. "Das ist eine herbe Niederlage. Egal, wie das heute ausgehen wird, wir können sagen, dass es kälter in diesem Land wird, was die Sozialpolitik betrifft", meinte Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau im Gespräch mit t-online.

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Andere versuchten es mit mehr Optimismus. "Es kann kein Weiter-so geben. Ja, wir werden über fünf Prozent kommen und wir werden auf mehr als drei Direktmandate kommen", sagte Fraktionschef Dietmar Bartsch kurz nach der ersten Hochrechnung. "Guckt mich nicht so böse an, wir schaffen das."

Sie schafften es nicht.

Viele Gründe für das Desaster

In der t-online-Sendung am Morgen danach äußerte sich Bartsch dann schon kritischer: "Wir hatten andere Ziele. Es ist eine große Enttäuschung. Das muss eine Aufarbeitung und eine Schlussfolgerung geben." Wut über die Spitzenkandidaten, Bartsch und Janine Wissler, gab es auf der Wahlparty jedoch kaum. "Nach der Niederlage kann man immer der Spitze die Schuld geben, aber die ganze Partei sollte sich nach diesem Ergebnis hinterfragen", sagte auch Neumann.

Doch was ist wirklich schuld an dem Absturz? Es gibt sechs zentrale Gründe:

  1. Lagerwahlkampf zwischen Scholz und Laschet: Die größte Abwanderung von Wählern der Linken gibt es laut dem Meinungsforschungsinstitut "Infratest dimap" zur SPD (590.000). Nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel eröffnete sich wieder eine realistische Chance auf einen Machtwechsel. Deshalb war es für viele ehemalige Linke-Wähler eine Richtungsentscheidung gegen Laschet und die Union.
  2. Klimapolitik: Ein bestimmendes Thema in diesem Wahlkampf war der Kampf gegen die Klimakrise. Die Linke hat vergleichsweise viele junge Wählerinnen und Wähler, aber genau auf die hatten die Grünen eine hohe Anziehungskraft. Trotz ehrgeiziger Klimaziele konnte die Linke nicht punkten, 470.000 Wahlberechtigte wanderten zu den Grünen.
  3. Außenpolitik: Im Endspurt des Wahlkampfes verzettelte sich die Linke in außenpolitischen Kontroversen. Die Partei machte sich mit ihrer Haltung zur Nato, zur Europäischen Union und mit ihrem Entschluss, gegen die Rettungsmission der Bundeswehr in Afghanistan zu stimmen, für die anderen Parteien regierungsunfähig. Die Quittung dafür gab es an der Wahlurne.
  4. Unbekannte Kandidaten: Die Spitzenkandidaten Janine Wissler und Dietmar Bartsch sind verglichen mit anderen Kandidaten und Kandidatinnen zu wenig bekannt in der Bevölkerung. Durch den Fokus auf den Dreikampf um das Kanzleramt hatten sie im Vergleich auch nicht genug mediale Präsenz.
  5. Schwäche im Westen, Verluste in Sachsen: Diese Probleme sind nicht neu für die Linke. In den alten Bundesländern bekommt die Partei noch immer keinen Fuß auf den Boden, liegt nur bei knapp über drei Prozent. In Ostdeutschland verlor sie insbesondere in Sachsen an die AfD, die vor allem Protestwähler von der Linken anzog (110.000).
  6. Interne Streitereien: Die Linke wirkte im Wahlkampf nicht geschlossen, besonders Sahra Wagenknecht polarisiert noch immer innerhalb der Anhängerschaft. Diese politischen Scharmützel mit Wagenknecht und Oskar Lafontaine sowie der damit verbundene Richtungsstreit in zentralen Fragen haben der Partei massiv geschadet.


Zwei Politiker standen auf der Wahlparty besonders im Fokus. Eine war der unsichtbare Elefant im Raum, obwohl sie nicht einmal anwesend war: Sahra Wagenknecht. Viele sind wütend über ihre Querschüsse, kritisieren ihre Äußerungen zur Migrationspolitik oder ihre skeptische Haltung gegenüber den Corona-Maßnahmen. Andere vermissen sie als eine in der Bevölkerung beliebte Politikerin. So auch Neumann: "Die Partei hätte sie mehr einbinden müssen, auch wenn sie in manchen Dingen eine andere Meinung hat. Das ist ja nicht die SED, sondern die Linke."

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Wagenknecht selbst äußerte sich in der ARD. "Das ist eine bittere Niederlage, aber wir müssen über die Ursachen reden", sagte die ehemalige Fraktionschefin. "Die Linke hat sich in den letzten Jahren immer weiter von dem entfernt, für das sie gegründet wurde: als Interessenvertretung für normale Arbeitnehmer, für Rentnerinnen und Rentner." Die Menschen hätten das Gefühl, dass die Linke nicht mehr ihre Sprache spreche.

Ein Comeback von Wagenknecht in der ersten Reihe erscheint möglich. Immerhin sieht sie sich als Stimme eben dieser Menschen.

Gysi: "Ich bin genauso traurig wie ihr"

Ein weiterer Name, der schon als Vergangenheit der Linken galt, doch nach dem Wahldebakel wieder sehr präsent war: Gregor Gysi. Er gewann neben Gesine Lötzsch (beide Berlin) und Sören Pellmann (Leipzig) seinen Wahlkreis direkt und sicherte damit den Einzug einer Linksfraktion in den Bundestag.

Ausgerechnet Gysi, der stets für den Zusammenhalt in seiner Partei gekämpft hat, erlebte nach seinem Rückzug aus der ersten Reihe der Politik, dass die Linke infolge politischer Grabenkämpfe fast aus dem Bundestag fliegt. "Ich bin genauso traurig wie ihr, aber ich möchte nicht, dass wir uns jetzt gegenseitig beschimpfen", sagte der 73-Jährige. "Wir sollten gemeinsam und selbstkritisch schauen, was wir falsch gemacht haben." Als er die Bühne betrat, jubelten die Linke-Anhänger ihm zu. "Wir haben dich", rief jemand aus der Menge.

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"Das Ergebnis im Bund ist desaströs – das müssen wir in den kommenden Tagen gründlich und selbstkritisch analysieren", erklärte Gysi später im Gespräch mit t-online. "Es reicht da nicht, zu sagen: Die anderen waren schuld."

Wenige Hoffnungsschimmer

Letztlich steht die Linke nun vor einem Trümmerhaufen. Sie muss sich neu ordnen, ist jetzt die schwächste Fraktion im Bundestag. Rot-grün-rot ist als Koalition vom Tisch, vor allem durch die Schwäche der Linken. Die Partei, die in den vergangenen Jahren immer auch etwas hämisch auf die SPD geschaut und ihr vorgeworfen hat, dass der Absturz der Sozialdemokraten ein Linksbündnis im Land unmöglich mache, muss sich nun einem unangenehmen Aufarbeitungsprozess stellen.

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Dabei ist man sich auf der Wahlparty sicher: Es brauche die Linke als soziales Korrektiv, besonders in der Corona-Pandemie. Mit Hoffnung schaut man immerhin auf das Berliner Abgeordnetenhaus, dort könnte es zu einer Fortsetzung ihrer Koalition mit SPD und Grünen kommen. Auch in Mecklenburg-Vorpommern ist eine rot-rote Koalition eine Option. Das zwar vor allem durch die Stärke von Manuel Schwesig (SPD), aber die Linke könnte in eine zusätzliche Landesregierung kommen. Das macht Hoffnung. Und die Tatsache, dass sich das Ergebnis der AfD in Berlin nahezu halbiert hat, sorgt sogar gelegentlich für gute Laune.

Die Linke will nun Geschlossenheit herstellen, die Reihen schließen. Das versprechen sich viele trotz großer Enttäuschung auf der Wahlparty. Auch Arkadi Neumann geht noch nicht nach Hause. "Der RBB hat mich interviewt, aber meine Frau hat mir gerade gesagt, dass sie mich herausgeschnitten haben", erzählt er. Neumann drückt seinen Zigarillo aus. Er hofft, dass ihm die Linke in Zukunft nur noch freudige "Anlässe" bietet.

Verwendete Quellen
  • Eindrücke von der Wahlparty der Linken im Festsaal Kreuzberg
  • Berichterstattung von ARD und ZDF am Wahlabend
  • Gespräche mit Gregor Gysi, Petra Pau
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