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AfD und Ostdeutschland: "Die Ostdeutschen haben wenig Ahnung von Russland"


Historiker Kowalczuk über den Osten
"Die Ostdeutschen haben wenig Ahnung von Russland"

InterviewVon Tom Schmidtgen

Aktualisiert am 27.08.2023Lesedauer: 7 Min.
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Offenbar um Solidarität mit Russland zu zeigen, werden Russland-Fahnen auf der Demo in Dresden geschwenkt.Vergrößern des Bildes
Russland-Fahnen auf der Demo in Dresden (Archivbild): "Die Ostdeutschen haben mit Freiheit nie etwas anfangen können", sagt Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. (Quelle: Robert Michael/dpa)

Im kommenden Jahr wird in drei Bundesländern im Osten gewählt. Die AfD droht stärkste Kraft zu werden. Wie sollte die Politik mit den Wählern der Partei umgehen? Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk sagt: rechts liegen lassen.

Die AfD könnte im kommenden Jahr ihren ersten Wahlsieg erringen: In Thüringen, Sachsen und Brandenburg stehen Landtagswahlen an und in den Umfragen steht die Partei gut da, obwohl sie vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall beobachtet wird. Viele Politiker erklären das damit, dass Menschen aus Protest die AfD wählen würden.

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk sieht das anders. Die AfD-Wähler wüssten genau, wen sie da an die Macht bringen, sagt Kowalczuk. Sein Schluss: "Diese Wählergruppe ist überwiegend verloren." Im Interview mit t-online spricht der Historiker über die Stärke der AfD, das verschobene Russland-Bild in Ostdeutschland und was ihm noch Hoffnung macht.

t-online: Herr Kowalczuk, in knapp einem Jahr sind drei Landtagswahlen im Osten: in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Kann die AfD stärkste Kraft werden, vielleicht sogar einen Ministerpräsidenten stellen?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Die AfD wird sehr stark abschneiden, aber nicht an die Regierung kommen, weil sie keine Koalition bilden kann. Das wird höchstwahrscheinlich das letzte Mal sein. Das eigentliche Problem ist: Die Inhalte der AfD werden bereits jetzt schon von weiten Teilen außerhalb der Partei mitgetragen.

Wie meinen Sie das?

Ein Beispiel ist die Diskussion um Gendersprache. Es gibt gute Gründe, dass jeder dazu seine eigene Meinung hat. Die der AfD dazu ist dezidiert und völlig überzogen. Und die konservativen und liberalen Parteien springen auf den Zug auf, als ginge es um Leben und Tod. Ich erwarte von einem konservativen Politiker, dass er sagt: "Mir ist das mit dem Gendern nicht wichtig." Oder auch: "Ich lehne das zwar ab, aber jeder darf sagen, was er will, solange er nicht gegen das Grundgesetz verstößt." Stattdessen tun Leute wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder und andere so, als wäre das die zentrale Debatte in Deutschland. Die AfD treibt die Debatte voran, setzt Themen, und alle springen drauf. Das muss aufhören.

Wählen die Ostdeutschen zehn Jahren nach der Gründung die AfD immer noch aus Protest?

Ich habe die Rede von Protestwählern noch nie verstanden. Die AfD ist eine nationalistische, völkische Partei mit einem rassistischen Programm. Wer faschistische Programme wählt, setzt sich dem Verdacht aus, selbst Faschist zu sein. Wer die wählt, hat keine Entschuldigung.

Ilko-Sascha Kowalczuk: Der Historiker...
Ilko-Sascha Kowalczuk: Der Historiker... (Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk)

Zur Person

Ilko-Sascha Kowalczuk wurde 1967 in Ost-Berlin geboren. Er verbrachte seine Jugend in der DDR und konnte erst nach der Wiedervereinigung Geschichte studieren. Sein 2019 erschienenes Buch "Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde" sorgte für heftige Diskussionen über die Wendezeit. Vor einem Monat veröffentlichte der Beck-Verlag den ersten Teil von Kowalczuks Biografie über Walter Ulbricht mit dem Titel "Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist".

In Thüringen erreicht die Partei nach aktuellen Prognosen mehr als 30 Prozent. Die kann man doch nicht unter den Tisch fallen lassen?

Diese Wählergruppe ist überwiegend verloren. In jeder Gesellschaft gibt es 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, die sie für das aktuelle politische System nicht mehr gewinnen können.

Merkwürdig ist doch, dass die Linken, die jahrzehntelang als Ostpartei galten, in den Umfragen in Ostdeutschland so schlecht dastehen wie noch nie. Wieso können die Linken die Ostdeutschen nicht mehr zur Wahl mobilisieren?

In den Universitätsstädten wie Jena, Dresden, Leipzig oder Rostock zieht die Linke noch, indem sie sich modern gibt. Aber auf dem Land stirbt ihr das alte Milieu weg. Die Linke leidet stark unter dem Altersproblem und dem Stadt-Land-Gefälle in Ostdeutschland.

Ist es so einfach?

Hinzu kommt, dass die Linke in vielen Regionen auch politische Verantwortung trägt. Damit ist sie – aus AfD-Sicht – Teil des Altparteiensystems. Zur Wahrheit gehört aber auch: Es gibt keine große Wählerwanderung von den Linken zur AfD. Die AfD zieht eher bisherige Nichtwähler zur Urne. In Ostdeutschland war der Anteil an Nichtwählern in den vergangenen Jahrzehnten immer ein großes Problem.

Waren diese Nichtwähler denn schon immer so systemkritisch?

Nein, das sind weitgehend unpolitische Menschen. Nur, weil man sich auf die Straße stellt und dumpfe Parolen wie "Absaufen, Absaufen" ruft und damit Geflüchtete im Mittelmeer meint, ist man kein politisch denkender Mensch.

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer versucht, AfD-Wähler zurückzugewinnen, indem er immer wieder versucht, sich ihrer Themen anzunehmen. Die vergangene Wahl hat er so gewonnen. Ist das Ihrer Meinung nach die richtige Taktik?

Dieser Dialog mit den Rechten wird sich rächen. Seine Strategie ist, ihre Themen zu besetzen und sie mit seinen Ideen anzufüttern. Das wird nicht lang funktionieren, weil er als Demokrat, und das ist er zweifelsfrei, an seine Grenzen kommen wird. Er hat sich bei bestimmten Themen so weit vorgewagt, dass er nicht mehr zurückrudern kann.

Kretschmer spricht sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus, setzt stattdessen auf Gespräche mit Wladimir Putin. Ihr Großvater war Ukrainer, Sie haben einen ukrainischen Nachnamen. Sie trifft das sicher persönlich?

Mich bekümmert das im hohen Maße. Kretschmer ist das leuchtende Negativbeispiel, wie im Osten mit dem Krieg der Russen und den Ukrainern umgegangen wird. Er hechelt einem ostdeutschen Mainstream hinterher, führt ihn vielleicht sogar an. Und das wird auch eines Tages für ihn erklärungsbedürftig sein, weil sich seine Partei jedes Mal aufs Neue für Waffenlieferungen ausspricht. Seine Landsleute werden ihm das nicht mehr abkaufen und er müsste Konsequenzen ziehen, wenn er wirklich dagegen ist.

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Warum haben viele Ostdeutsche so ein verklärtes Russland-Bild?

Im Krieg in der Ukraine geht es um Freiheit …

… was gerade Ostdeutsche doch gut verstehen müssten, oder?

Das ist fälschlicherweise die Annahme. Die Ostdeutschen haben mit Freiheit nie etwas anfangen können. Es war eine Minderheit, die geflüchtet ist oder sich 1989 auf der Straße aus der Deckung gewagt hat. In den Westmedien sind aus diesen Minderheiten, die durch die Filmaufnahmen natürlich sehr gewaltig aussahen, Mehrheiten konstruiert worden. Mehrheiten, die es nie gab.

Was unterscheidet Ostdeutschland von anderen ehemaligen Ostblock-Staaten, die ganz klar an der Seite der Ukraine stehen?

Die Polen oder Balten waren immer Spielball der Mächtigen. Daraus ist eine gewaltige Freiheitsbewegung entwachsen. Sie haben sich ihre Freiheit selbst erkämpft. Etwas, das man selbst erkämpft, würdigt man auch. Deswegen verstehen die Osteuropäer die Ukraine viel besser. Den meisten Ostdeutschen ist die Freiheit einfach geschenkt worden.

Und deswegen wenden sich Ostdeutsche einfach Russland zu?

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Die Ostdeutschen haben ein großes Unverständnis über den Westen. Darüber schreibe ich gerade ein neues Buch. Der Osten hat sich den Westen zusammengebastelt. Als die hohen Erwartungen nicht eintrafen, und die Ostdeutschen enttäuscht wurden, wandten sich viele Ostdeutsche – wir reden hier von etwa der Hälfte bis zwei Drittel – vom Westen ab und größere Teile davon trieb das in die Arme des größten Feindes des Westens: Russland.

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Sie gehen nicht davon aus, dass es mit der Sozialisation der DDR-Bürger mit dem Bruderstaat Sowjetunion zu tun hat?

Die meisten Ostdeutschen haben ebenso wenig Ahnung von Russland, auch gar kein Interesse daran, wie die meisten Westdeutschen. Der Russischunterricht in der DDR war völlig fruchtlos bei 90 Prozent der Menschen. Viele können heute nur noch "Guten Tag" und "Sehenswürdigkeiten" auf Russisch sagen. Zu DDR-Zeiten haben viele die Sowjetunion abgelehnt. Das änderte sich erst in den 1990er-Jahren und nach der Jahrtausendwende. Die Abwendung vom Westen und die Hinwendung zu Russland sollte man nicht mit einem Verständnis für Russland verwechseln. Solche Reaktionen lassen sich immer wieder in der Geschichte finden.

Quasi: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Es gibt noch eine zweite Erklärung, die ich den Gorbatschow-Effekt nenne. Mit seinem Erscheinen auf der Weltbühne 1985 zog in den Kreml erstmals während der Sowjetunion eine rationale Politik ein. Gorbatschow konnte man beim Wort und ernst nehmen. Das hatte man im Westen zuvor für unmöglich gehalten. Putin wurde lange dieselbe rationale Basis unterstellt. Die Osteuropäer und Ostdeutschen, die etwas mit Freiheit anfangen konnten, waren schon immer skeptisch gegenüber Putin.

In Ihrem Buch "Die Übernahme" schreiben Sie: "In weiten Teilen Ostdeutschland ist die Vereinigungskrise als Staatsversagen wahrgenommen worden." Treibt es die Ostdeutschen auch deshalb, bei der Vielzahl an aktuellen Krisen, in die Arme der AfD?

Die Ostdeutschen haben in den 1990er-Jahren eine enorme Transformation durchgemacht, die sie schlichtweg erschöpft hat, und die sie als negative Erfahrung erlebt haben. Mit der digitalen Revolution erleben sie das zum zweiten Mal in dieser Dramatik. Deswegen sehe ich den Osten auch als Labor der Globalisierung. Hier passieren die Dinge etwas radikaler und schneller.

Die Erschöpfung lässt die Menschen nun am Staat zweifeln?

Die meisten Menschen im Ostblock haben nie den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft gelernt. In Polen war das etwas anders, weil in der Zeit der Okkupation die Gesellschaft ein Gegenpol zum Staat war. Freiheit bedeutet, sich einzumischen in die eigenen Angelegenheiten. Viele Ostdeutschen stehen da und schieben alle Schuld für alle Probleme, selbst die privaten, dem Staat zu. Das lässt sich auch nicht so einfach reparieren.

Haben Sie einen Vorschlag? Wenigstens etwas Hoffnung?

Die Älteren lassen sich nicht zurückgewinnen. Die müssen wir versuchen, sozial satt zu machen. Wir müssen uns um die jungen Menschen kümmern. All die Probleme geben die Älteren allabendlich am Abendbrottisch an ihre Kinder weiter. Da sind die Lehrerinnen und Lehrer gefragt, dem entgegenzuwirken und ein Gegenangebot zu machen: "Das sind die Erfahrungen deiner Eltern. Die sind schlimm, aber es gibt auch andere Erfahrungen." Dazu gehört auch, dass wir im Geschichtsunterricht mehr über Diktaturen reden müssen.

Die Auswirkungen davon werden wir nicht so schnell spüren. Was sollte heute schon besser gemacht werden?

Es sind – viel mehr als üblich – jene Hunderttausende öffentlich zu würdigen, die alltäglich an der Basis dafür sorgen, dass Demokratie und Staat funktionieren. Traut man der üblichen Berichterstattung, müsste man glauben, wir lebten in einem völlig verrotteten "failed state" und nicht in einem der reichsten Länder der Erde mit unfassbaren Potenzialen. Nur die Satten und Übersatten wollen und können das nicht sehen.

Sie haben gerade eine Biografie über Walter Ulbricht geschrieben. Was ist an ihm heute noch interessant?

Man kann die politischen Ziele Ulbrichts gutheißen oder ablehnen, wie ich es tue. Aber unserer hedonistischen Gesellschaft würde es ganz guttun, wenn sich mehr Leute politisch für eine Grundüberzeugung engagieren, ohne dass es um sie selbst geht. Ulbricht hat sich dann in ein totalitäres Weltbild verrannt. Das kann heute noch passieren. Daher ist sein beispielhafter Weg zugleich auch eine Mahnung, wie schnell alles in der Katastrophe enden kann.

Herr Kowalczuk, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Ilko-Sascha Kowalczuk
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