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Thüringen-Reportage nach dem Wahl-Chaos um Thomas Kememrich: Wut war grenzenlos


Thüringen nach dem Wahl-Chaos
Die Wut war grenzenlos


Aktualisiert am 07.02.2020Lesedauer: 7 Min.
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Thomas Kemmerich: Der FDP-Politker ist mit Hilfe der AfD zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt worden.Vergrößern des Bildes
Thomas Kemmerich: Der FDP-Politker ist mit Hilfe der AfD zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt worden. (Quelle: reuters)

Die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit Hilfe der AfD erschüttert Thüringen. Die Wut auf Erfurts Straßen ist Sinnbild einer tieferen Spaltung.

Wut macht blind, heißt es. Unbändig durchfährt sie gelegentlich unseren ganzen Körper, nimmt uns die Fähigkeit, Dinge rational zu sehen. Wut führt zu Stillstand, denn Menschen, die wütend sind, verlieren die Fähigkeit zum Dialog. Und wenn das passiert, kann Wut ganze Gesellschaften lähmen.

Viele in Thüringen sind wütend, wie die Reaktionen der Menschen in unserem Video zeigen: manche auf politisch Andersdenkende oder die DDR-Vergangenheit, andere auf die Landes- oder Bundesregierung. Und wieder andere auf Bundeskanzlerin Angela Merkel. Für den Zorn können Thüringer bisweilen gar keinen spezifischen Grund nennen, doch er sitzt oft fest wie die rostige Mutter an einer Schraube. Der Ärger ist oft Alltag und die Wut wird bei vielen Menschen zur Ideologie. Die Ränder in Thüringen sind stark, so stark wie in keinem anderen Bundesland.

Für gewöhnlich leben viele Thüringer mit dieser Spaltung – mit einer linksregierten Landesregierung auf der einen und einer rechtsradikalen AfD um Björn Höcke auf der anderen Seite.


Doch am Mittwoch und Donnerstag wird die sensible Machtarchitektur des Bundeslandes erschüttert: Der Thüringer FDP-Chef Thomas Kemmerich wird zum Ministerpräsidenten gewählt, mit Stimmen der AfD – und das, obwohl seine Partei bei der Landtagswahl nur knapp über fünf Prozent der Stimmen holte.

Obwohl Kemmerich bereits einen Tag nach seiner Wahl zurückrudert und Neuwahlen forcieren möchte, erschüttert der Tabubruch, sich mit Stimmen von Faschisten in ein Amt wählen zu lassen, die gesamte Bundesrepublik. In Thüringen ist die Kemmerich-Wahl ein Brandbeschleuniger und wirft ein Scheinwerferlicht auf die tiefe Spaltung der Bevölkerung. Die daraus resultierende Wut wandert in atemberaubender Geschwindigkeit auf die Straße, das Bundesland wird innerhalb weniger Stunden in eine politische Krise gestürzt.

Doch die Krise war in Thüringen längst da, schwamm schon lange unter der Oberfläche mit, wie die ständige Gefahr von Erdbeben oder Vulkanausbrüchen an neuralgischen Punkten der Erde.

Die Spaltung auf der Straße

Es ist Donnerstagmorgen, Tag eins nach dem politischen Beben in Thüringen, 9 Uhr am Morgen nach der Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten. Die Wut darüber begleitet die Menschen auf den Straßen der Landeshauptstadt Erfurt an einem grauen, kalten Wintertag. Auf dem Domplatz ist Markt, kleine Menschentrauben wandern langsam über das riesige Asphaltfeld, das lediglich am Rand von ein paar Fleisch- und Gemüseständen besetzt wird.

Brigitte* sitzt am Rand des Platzes in ihrem Taxi. Die Taxifahrerin hat ihre blonden Haare zu einem Zopf gebunden, trägt eine Brille und ein schwarzes Headset zum Telefonieren im Ohr. Gerade lässt sie Fahrgäste aussteigen, in ihrem Beruf lernt sie viele Menschen kennen, oft wird auf einer Fahrt auch über Politik geredet.

"Man bekommt als Taxifahrerin viel mit", meint Brigitte. "Thüringen schwankt immer zwischen den Extremen – die Mitte geht nicht. Ich komme mir manchmal vor wie in Italien." Die Wut ihrer Fahrgäste bekommt Brigitte hautnah mit.

Die Landtagswahl in Thüringen war am 27. Oktober 2019, das Wahlergebnis und die Regierungsbildung bis zum heutigen Tag unmöglich. Bei der Abstimmung im Landtag erreichte Kemmerich eine Stimme mehr als der Linke-Ministerpräsident Bodo Ramelow, der vorerst abgewählt wurde. "Kemmerich kenne ich persönlich vom Erfurter Karneval – und er ist ein guter Unternehmer", sagt Brigitte. Ramelow schätze sie dagegen nicht. "Dafür haben wir in der DDR zu viele schlechte Erfahrungen mit den Roten gemacht."

"Ich hätte laut Schande gerufen"

Eben diese Abwahl von Ramelow schürt neuen Zorn in Thüringen, die Linke war bei den Landtagswahlen stärkste Kraft. In Umfragen hat der Ministerpräsident gute Zustimmungswerte über Parteigrenzen hinaus, er ist bei den Thüringern beliebter als Kemmerich und auch beliebter als beispielsweise der Thüringer CDU-Chef Mike Mohring.

In Sichtweite zu Brigittes Taxi geht eine junge Mutter mit einem grünen Kinderwagen an den Schaufenstern der Einkaufsstraße entlang. Sie heißt Miriam*, ist 25 Jahre alt. Auch sie ist enttäuscht von der Wahl: "Ich finde es sehr schade, dass man sich von AfDlern unterstützen lässt, das hätte ich nicht gedacht." Eine zweite Amtszeit von Ramelow wäre ihr lieber gewesen: "Es ist sehr schade, dass er abgewählt wurde. Ich war sehr zufrieden mit ihm und hätte es sehr unterstützt, dass er wiedergewählt wird. Er hat unglaublich viele gute Sachen für Thüringen gemacht, gerade für Familien. Und auch für Menschen mit wenig Einkommen."

Diese Meinung teilt auch Petra*. Die 52-Jährige versteht seit der Wahl Kemmerichs die Welt nicht mehr, erklärt sie. Sie steht vor dem Wurstwagen auf dem Domplatz. Kaum ein Auge habe sie zubekommen, zu wütend und traurig sei sie gewesen. Einen Tag später hat sich nichts daran geändert. Ganz in blau steht sie auf dem Domplatz, den Schal bis zum Kinn hochgezogen. Ihre Brille hat sie auf dem Kopf abgelegt, so als solle nichts ihren Blick versperren. Wenn sie redet, spricht die Wut aus ihr, auch ohne zu schreien. "Demokratie ist nur ein Wort, aber hinter diesem Wort steht jeder einzelne Mensch. Der Begriff Demokratie wird bemüht, um so eine Hinterlistigkeit zu rechtfertigen – das ist eine Unverschämtheit." Auch deswegen sei sie nach der Wahl bei den Demonstrationen vor der Staatskanzlei und dem Landtag gewesen. "Ich hätte mich auch allein vor die Staatskanzlei gestellt und laut Schande gerufen – das wäre mir egal."

Dass Kemmerich ausgerechnet mit den Stimmen der AfD gewählt wurde, macht sie umso wütender. Sie erzählt von einem Gedicht, das sie als junge Frau in der tiefsten DDR geschrieben hat. "In dem Gedicht gab es den Satz, dass irgendwann der McDonalds-Stern auf dem Kreml leuchten wird – und genau das ist gestern auch wieder passiert. Man hätte es eigentlich wissen müssen. So abgekocht und rücksichtslos. Das war ein abgekartetes Spiel – und das ist einfach nur zum Kotzen."

AfD-Anhänger und der Weckruf für Deutschland

Die AfD ist bei den Menschen auf dem Erfurter Domplatz ein Spaltpilz. Viele Passanten wie Petra sind wütend, dass Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Höckes Gnaden gewählt wurde. Aber auch AfD-Anhänger sind zornig, nicht wegen der Thüringen-Wahl, sondern generell.

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Zusammen mit einer älteren Frau geht Günther*, 58 Jahre, geradewegs auf einen Gemüsestand auf dem kleinen Markt zu. Auf dem Kopf trägt er eine Schiebermütze, die Hände hat er hinter dem Rücken verschränkt. Er findet es gut, dass Ramelow weg ist. Und er findet es gut, dass die AfD dabei geholfen hat: "Das war ein genialer Streich. Das war ein Weckruf für Deutschland – ein Weckruf, dass wir endlich mal wieder in die konservativen Bahnen kommen." Dass für die Thüringer AfD Rechtsradikale im Landtag sitzen, sieht Günther nicht, er möchte es auch nicht sehen. "Höcke schießt sicherlich manchmal etwas über das Ziel hinaus, aber das bessert sich schon." Es seien ja nicht alle Nazis.

Der Erfurter Domplatz ist am Donnerstag ein Spiegelbild der Wahlergebnisse im gesamten Bundesland. Die Bevölkerung teilt sich auf, auf der einen Seite die Linke, auf der anderen Seite die AfD. Besonders AfD-Anhänger lassen keine Kritik an der eigenen Partei oder an Höcke zu, beschwichtigen wie Günther. Zwischen den Extremen des Parteiensystems gibt es in Thüringen aktuell nur wenig Platz, vergleichsweise wenige Menschen kritisieren beide Seiten. Zwischen links und linksextrem und rechts und rechtsextrem verschwimmen die Trennlinien.

"Denken Sie an die Mauertoten"

Aber es gibt auch in Erfurt Menschen, die von beiden politischen Seiten genug haben: Langsam, aber zielstrebig nähert sich ein älterer Mann. Er heißt Heinrich*, ist 62 Jahre alt und ein ehemaliger Pfarrer. Er will unbedingt etwas loswerden. Auch er trägt Wut in sich. Doch diese Wut ist nicht frisch. Sie ist älter, sitzt tiefer. Er ist erleichtert, dass die Regierung Ramelow Geschichte ist. Endlich seien sie weg, die roten Dämonen vergangener Tage. Ramelow war es, der die alten Kommunisten wieder an die Macht geholt hat, sagt er. "Gestern ist es gelungen, sie zu entmachten."

Den Kopf tief in eine schwarze Wollmütze gehüllt erzählt er aus seinem früheren Leben in der DDR. Seine Stimme ist zittrig, er ist aufgeregt, fängt während seiner Erzählung mehrfach an zu weinen. Er erzählt von Gewehrläufen der Kommunisten, in die er selbst blicken musste, erinnert an die Verbrechen der DDR-Führung: "Die alten Kommunisten – wissen Sie, was die uns angetan haben. Denken Sie mal an die Mauertoten, denken Sie an das Gefängnis der Staatssicherheit. Wie viele Menschen da umgekommen sind, da spricht keiner von. Es wird nur von den Verbrechen der Faschisten gesprochen". Krank und depressiv habe ihn diese Zeit gemacht. Die Spuren sind noch heute in seinem Gesicht abzulesen. Doch gestern war er richtig glücklich, sagt er. "Es war wie Weihnachten und Ostern zusammen."

Der Ex-Pfarrer verlässt den Platz, um 14 Uhr schließt der Markt am Erfurter Domplatz. Zeitgleich wird der frisch gewählte Ministerpräsident Kemmerich erklären, dass die FDP den Landtag auflösen möchte, um nicht durch die Unterstützung der AfD zum Ministerpräsidenten gemacht worden zu sein. Sein Entschluss kommt spät, zu spät für viele Menschen in Erfurt.

Noch Stunden nach den Pressekonferenzen von Kemmerich und FDP-Chef Lindner in der Landeshauptstadt werden Demonstranten vor der Staatskanzlei stehen, am Abend wird es noch einen Demonstrationszug durch die Innenstadt geben. "Kein Handbreit dem Faschismus", wird auf Pappschildern stehen. "Keinen Platz für Nazi-Propaganda", werden die Demonstranten skandieren. Die Stunden des Thüringer Polit-Chaos haben neue Ängste vor dem Rechtsextremismus geweckt, der Dammbruch war für viele Menschen real, trotz des späteren Zurückruderns der FDP.

Viele Demonstranten in Erfurt sind immer noch sauer. Es sind Menschen wie Paula, die noch bis spät am Abend gegen die AfD und die FDP demonstrieren werden. Nach dem Beben ist die Wut in Thüringen noch lange nicht verflogen.

*Die Namen der Befragten in der Reportage wurden auf deren Wunsch geändert.

Verwendete Quellen
  • Persönliche Gespräche und Beobachtungen in Erfurt
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