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Spahn im Interview: Corona-Massenimpfungen? "Spätestens im Sommer"


Gesundheitsminister Spahn
"Spätestens im Sommer wird es Massenimpfungen geben"

InterviewVon Sven Böll, Tim Kummert

05.12.2020Lesedauer: 8 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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"Werden wir 2030 sagen 'Erinnerst Du Dich noch an 2020, als wir aufhörten, uns die Hände zu schütteln?'": Jens Spahn auf einer Terrasse seines Büros in Berlin.Vergrößern des Bildes
"Werden wir 2030 sagen 'Erinnerst Du Dich noch an 2020, als wir aufhörten, uns die Hände zu schütteln?'": Jens Spahn auf einer Terrasse seines Büros in Berlin. (Quelle: Michael Hübner für t-online)

Jens Spahn macht Hoffnung: In wenigen Monaten dürfte es so viele Impfstoffe geben, dass sie auch in Deutschland für weite Teile der Bevölkerung reichen. Bereits bis Ende März könnten Millionen Menschen allein durch das Produkt von Biontech ausreichend immunisiert sein, hofft der Gesundheitsminister.

t-online: Herr Spahn, ist die deutsche Corona-Strategie gescheitert?

Jens Spahn: Wie kommen Sie denn darauf?

In anderen Ländern gibt es bereits wieder Lockerungen, in Deutschland wird dagegen über weitere Verschärfungen diskutiert.

Die Perspektive ist mir zu eindimensional. Im Ausland wird das jedenfalls anders gesehen: Deutschland kommt gut durch die Krise. Wir sind das Land, das auch im Herbst früher als viele andere Nachbarn die Corona-Welle gebrochen hat.

Das sieht die Kanzlerin allerdings anders. Sie sprach zuletzt davon, dass wir "noch sehr weit entfernt" von den Zielwerten seien.

Das gehört zum Lagebild dazu. Das exponentielle Wachstum ist gestoppt, aber die Infektionszahlen sind weiterhin zu hoch. Sie müssen gesenkt werden.

Aber die Fallzahlen stagnieren seit Wochen.

Nicht überall. Schauen Sie sich die Deutschlandkarte mal an: Der Norden und der Westen atmen langsam auf, doch der Süden, Teile des Ostens und besonders manche Ballungsräume haben mit hohen Infektionszahlen zu kämpfen. Und wo die Inzidenz hoch ist, werden weitere Kontaktbeschränkungen eingeführt. Das ist richtig. Dem Ausbruchsgeschehen muss man regional begegnen.

Können Sie also ausschließen, dass es noch vor Weihnachten deutschlandweit stärkere Beschränkungen geben wird?

Solche Ausschließen-Fragen können vielleicht Tickermeldungen liefern, lassen sich aber nicht seriös beantworten. Wie sich die Pandemie entwickelt, wie viele Menschen mit Corona an Weihnachten auf den Intensivstationen liegen, entscheidet sich kommende Woche.

Also wird solang alle paar Wochen entschieden, bis es in der Bevölkerung eine Grundimmunität gibt?

Ich verstehe den Wunsch nach einem Masterplan, der einmal geschrieben wird und sich nie wieder ändert. Aber dieser Wunsch ist schlicht nicht erfüllbar. Denn er widerspricht dem Wesen der Pandemie. Dieses Virus ist heimtückisch. Es fordert momentan fast 500 Menschenleben am Tag. Tausende Deutsche werden an Weihnachten um ihre Angehörigen trauern. Was mir wichtig ist: Staatliche Maßnahmen sind nicht das wichtigste Mittel zur Eindämmung der Pandemie…

…sondern das Verhalten jedes Einzelnen.

Ich weiß, dass manche es nicht mehr hören können, aber es stimmt nun mal: Mit staatlichem Zwang allein lässt sich Corona nicht bekämpfen. Jeder und jede Einzelne ist gefragt.

Helfen denn genug Menschen mit?

Die große Mehrheit macht mit. Und ich finde das bemerkenswert, weil ich natürlich verstehe, dass man nach acht Monaten Pandemie genervt ist: von den Masken, von den Regeln, von der Dauerkrise. Trotzdem werden die meisten nicht nachlässig, und das macht mich stolz auf dieses Land.

Im Frühjahr gab es viele Tote in Alten- und Pflegeheimen. Politiker forderten, das dürfe sich nicht wiederholen. Jetzt sterben dort wieder viele Menschen. Was ist schiefgelaufen?

Da muss ich Sie korrigieren: Leider kann es in dieser Pandemie nicht zu 100 Prozent gelingen, Todesfälle zu vermeiden. Das ist schlicht unmöglich ohne massenhaft verfügbare Impfstoffe. Bis dahin können wir nur versuchen, die Pandemie einzudämmen und damit die Zahl der Covid-19-Toten möglichst gering zu halten.

Das ist uns klar. Aber es geht doch gerade um den Schutz der besonders Verletzlichen.

Natürlich. Und es ist jetzt auch etwas Entscheidendes anders als im Frühjahr: Die Menschen in den Alten- und Pflegeheimen sind nicht mehr wochenlang einsam. Wir machen Besuche möglich, etwa durch Schnelltests für Mitarbeiter und Besucher. Und wir verschicken gerade 90.000 Pakete mit FFP2-Masken.

Das mag alles sein. Trotzdem warnte der Chef des Robert Koch-Instituts Lothar Wieler in dieser Woche, dass besonders die Lage in Alten- und Pflegeheimen besorgniserregend sei.

Weil die Wahrheit leider ist, dass sich dieses Virus nicht einfach aussperren lässt. Das Risiko lässt sich reduzieren, aber leider nie ausschließen. Und die Situation ist längst nicht in allen Heimen gleich. Deswegen hat der Pflegebevollmächtigte die besten Hygienekonzepte ausgewertet und veröffentlicht. Das kann helfen, Besucherregeln zu überprüfen und den Schutz zu erhöhen.

Corona-Ausbrüche gibt es vermehrt auch an Schulen. Haben Sie den Eindruck, dass die Bundesländer die vergangenen Monate genutzt haben, um die Schulen winterfest zu machen?

Das ist zu pauschal. Wir haben zehn Millionen Schüler. Nur ein kleiner Bruchteil davon ist infiziert. Erst bei Teenagern gleicht sich das Infektionsgeschehen an das der Erwachsenen an. Bei jüngeren Schülern ist Corona nur unterdurchschnittlich verbreitet…

…aber die haben doch meistens keine Symptome, werden also auch nicht getestet.

Die geringe Verbreitung wird auch durch Studien bestätigt.

Sorgen Sie sich eigentlich davor, dass ab nächster Woche die Bilder der ersten Corona-Impfungen in den USA und Großbritannien um die Welt gehen?

Wieso sollte ich?

Weil Sie dann sagen müssen: "Tut mir leid, aber bei uns dauert es noch eine Weile."

Der weltweit erste Corona-Test kam aus Deutschland. Der erste Impfstoff kommt ebenfalls aus Deutschland. Darauf bin ich erst einmal stolz.

Aber ist es politisch nicht schwer vermittelbar, dass ein Impfstoff aus Mainz zuerst woanders ausgeliefert wird?

Die Zulassung eines Corona-Impfstoffs ist doch kein Wettrennen, sondern ein Prozess, der möglichst schnell, aber unter Achtung der notwendigen Standards abgeschlossen werden muss. Ich erwarte, dass der europäische Zulassungsprozess in absehbarer Zeit abgeschlossen ist. Wenn es einige Tagen oder wenige Wochen länger dauert als in Großbritannien, ist das hinnehmbar. Gründlichkeit ist gerade hier wichtig, die Menschen wollen sich auf die Sicherheit des Impfstoffes verlassen können.

Die USA wollen bis Ende Februar 100 Millionen Menschen impfen...

…ernsthaft?

Ja, das hat ein Regierungsberater in dieser Woche angekündigt.

Dafür müsste es erst einmal so viel Impfstoff geben.

Wie viele Menschen werden wir denn in den ersten Wochen impfen können?

Vorausgesetzt, der Impfstoff von Biontech wird bis Ende des Jahres zugelassen, werden wir im Januar drei bis vier Millionen Impfdosen haben.

Und wie sieht es bis Ende März aus?

Bis dahin sind für Deutschland elf Millionen Dosen allein von Biontech realistisch.

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Aber der Impfstoff des US-Biotech-Konzerns Moderna wird doch bis dahin auch zugelassen sein, oder?

Der kommt bis dahin wahrscheinlich dazu. Insgesamt gibt es fünf Kandidaten, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bis zur Jahresmitte zugelassen werden: Neben den Produkten von Biontech und Moderna auch die von Curevac, Astra Zeneca und Johnson & Johnson. Es gibt dann ausreichend Impfstoff, der wohl auch einfacher gelagert und transportiert werden kann. Mit unserem Wissensstand von heute gehe ich deshalb davon aus, dass wir im Sommer auch flächendeckend in den Arztpraxen impfen können. Das macht mich zuversichtlich. Denn die Grippeimpfungen zeigen, wie schnell das dann gehen kann. Jedes Jahr werden dabei in wenigen Wochen 20 Millionen Menschen geimpft.

Zwischen Frühsommer und Sommer heißt: im Mai oder Juni?

Stand heute bin ich sehr optimistisch, dass es spätestens im Sommer Massenimpfungen geben wird.

Dann wären wir im nächsten Herbst mit dem Gröbsten durch?

Wenn möglichst viele das Impfangebot wahrnehmen: ja.

So lange nicht ausreichend Impfstoff da ist: Wie wird eigentlich priorisiert?

Das klären wir in der kommenden Wochen auf Basis der Expertenempfehlungen. Wir müssen die Balance zwischen ethischem Grundsatz und Praktikabilität finden.

Werden die Geimpften und Immunen früher als andere mehr Freiheiten haben?

Diese Debatte werden wir führen müssen, weil sich viele Fragen stellen. Etwa: Hat eine Quarantäneanordnung für einen Geimpften noch vor Gerichten Bestand?

Viele Menschen hoffen, dass sie im Falle einer Immunität keine Masken mehr tragen müssen.

Ach wissen Sie: Es muss doch nicht jeder, der geimpft wurde, gleich eine Grundsatzdebatte übers Maskentragen anfangen. Schon heute sind Hunderttausende Deutsche nach einer überstandenen Erkrankung – zumindest zeitweise – immun und tragen weiter eine Maske. Ich werde jedenfalls, nachdem ich geimpft bin, bei einer Besprechung nicht sagen: "Ich muss als einziger im Raum keine Maske mehr anziehen." Das können wir doch wirklich pragmatisch und solidarisch angehen.

Mit dem Pragmatismus scheint es manchmal etwas schwierig zu sein.

Da widerspreche ich nicht.

Es soll keine Impfpflicht geben, aber man könnte es bei Veranstaltungen doch ähnlich regeln wie bei Kitas: Zutritt nur nach Impfung.

Private Veranstalter, die Hausrecht haben, könnten das theoretisch. Ich finde aber, es geht um diese Frage: Wollen wir Freiheit für wenige, oder die Solidarität aller, bis es eine Grundimmunität gibt?

Und was ist Ihre Meinung?

Dass nicht alles der Staat regeln kann. Sie könnten im nächsten Jahr theoretisch auch nur noch Leute zu sich nach Hause einladen, die immun sind.

Was haben Sie eigentlich durch die Corona-Pandemie über Deutschland gelernt?

Viel über unsere Stärken. Der erste Corona-Test wurde genauso wie der erste Impfstoff von deutschen Forscherinnen und Forschern entwickelt. Das zeigt: In unserem Land steckt unglaublich viel Innovationskraft. Außerdem gibt es einen großen Zusammenhalt. Das nehmen wir nur manchmal zu wenig wahr, wenn wir viel über die reden, die sich nicht an Regeln halten.

Und wo müssen wir noch besser werden?

Wir haben schmerzhaft erlebt, wie abhängig wir von China sind. Das wussten viele schon vorher, aber erst jetzt ist es wirklich deutlich geworden. Wir mussten auch lernen, dass man Pandemiepläne nicht nur aufschreiben, sondern auch üben sollte. Dass man genügend Vorräte an Masken und Schutzkleidung haben sollte. Und dass wir die Digitalisierung im Gesundheitswesen noch mehr vorantreiben sollten…

…"noch mehr" ist allerdings eine ziemliche Beschönigung.

Ich nehme für mein Ministerium schon in Anspruch, dass wir in den vergangenen zwei Jahren mehr Geschwindigkeit in die Digitalisierung des Gesundheitswesens gebracht haben als in den zehn Jahren davor.

Bei den Gesundheitsämtern ist es aber immer noch schwierig. Da werden munter Faxe herumgeschickt.

Damit ist bald Schluss. Ab Anfang Januar erfolgen alle Corona-Meldungen digital.

Sie haben im April gesagt: "Wir werden einander viel verzeihen müssen." Wen haben Sie seither um Verzeihung gebeten?

Das Menschsein ist doch davon geprägt, dass man um Verzeihung bitten muss. Gerade Menschen, die einem besonders wichtig sind. Und manchmal muss man sogar sich selbst verzeihen.

Es ging Ihnen mit Ihrer Aussage aber speziell um die Corona-Krise.

Was ich meinte: Dass wir gerade in einer Zeit, die so dynamisch und gleichzeitig von einer solchen Unsicherheit geprägt ist, nicht so unerbittlich debattieren sollten. Mir ist wichtig, dass uns allen bewusst ist, dass jeder von uns in dieser außergewöhnlichen Krise mal falschliegt.

Wie wird die Pandemie Deutschland verändern?

Das weiß ich nicht. Ich habe seit bald zehn Monaten keinem mehr die Hand gegeben. Aber verändert sich auf Dauer die Art, wie wir uns begrüßen? Werden wir 2030 sagen "Erinnerst Du Dich noch an 2020, als wir aufhörten, uns die Hände zu schütteln"? Vielleicht. Vielleicht nicht.

Was könnte noch aus der heutigen Zeit bleiben?

Zum Beispiel, dass die Menschen in der Grippesaison von sich aus in der U-Bahn eine Maske tragen, weil alle besser aufeinander aufpassen. Das Grippevirus hat übrigens im Moment kaum eine Chance. Das geht leider ein bisschen unter.

Das bessere Aufpassen wird aber nicht staatlich verordnet, oder?

Nein, es wird freiwillig sein. Aber dadurch ist es doch auch eine viel größere Geste.

Zum Abschluss können wir Ihnen das Thema CDU nicht ersparen.

Bitte.

Glauben Sie, dass Armin Laschet Parteichef und Sie Vizevorsitzender werden?

Natürlich, dafür treten wir ja an. Wir machen gemeinsam ein Angebot, wir tragen beide Regierungsverantwortung in der Pandemie, wir stehen für die notwendige Balance aus Kontinuität und Veränderung in den Zwanzigerjahren.

Sind Sie sich wirklich sicher?

Ich bin ein optimistischer Mensch. Aber bei einer Wahl mit drei Kandidaten für den Vorsitz kann sich niemand sicher sein. Das zu behaupten, fände ich überheblich.

Würden Sie auch unter einem Kanzler Friedrich Merz arbeiten?

Ich habe bereits 2018 als Vorsitzender kandidiert. Wie Sie sehen, bin ich trotzdem Gesundheitsminister. Mir sind unser Land und unsere Partei zu wichtig, um mich beleidigt in eine Ecke zu stellen. Aber das scheint mir aktuell eher eine theoretische Frage.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jens Spahn in Berlin
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