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Jobcenter-Chef über Bürgergeld: "Brauchen keine radikale Reform"


Neue Grundsicherung statt Bürgergeld
"Das wird durch keine Fakten belegt"

InterviewVon Heike Vowinkel

18.03.2024Lesedauer: 4 Min.
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Eine Frau steht vor der Agentur für Arbeit: Die Union will das Bürgergeld reformieren. (Quelle: IMAGO/Rolf Poss/imago-images-bilder)

Die CDU will das Bürgergeld radikal reformieren. Der Sprecher des Bundesnetzwerks der Jobcenter wundert sich über die Forderung – hält aber einige Vorschläge für sinnvoll.

Die CDU hat am Montag ein Konzept für eine "Neue Grundsicherung" vorgestellt. Sie will damit das Bürgergeld radikal umbauen und zielt dabei auch auf verbindlichere Anforderungen und Sanktionen für Bezieherinnen und Bezieher. Jobcenter-Chef Stefan Graaf sagt hier, was er von den Vorschlägen der Union hält.

t-online: Die Union behauptet, das Bürgergeld werde wie ein bedingungsloses Grundeinkommen wahrgenommen. Stimmt das?

Stefan Graaf: Das wird eher so in der öffentlichen Debatte wahrgenommen. In der praktischen Umsetzung ist das nicht so. Wir haben ja nach wie vor Leistungsminderungen, und eine noch schärfere soll in Kürze vom Gesetzgeber beschlossen werden.

Wie erklären Sie sich dann diese Wahrnehmung?

Gute Frage. Klar ist, dass das aktuelle Bürgergeld kein bedingungsloses Grundeinkommen ist und viele Beiträge in den Debatten ein verengtes und teilweise unzureichendes Bild zeichnen. Die Medien haben da sicherlich auch ihren Anteil. Es wird einfach behauptet und dann ist es in der Welt – auch wenn es der Faktenlage nicht entspricht. Ich bin schon bei der Einführung des Bürgergeldes von unglaublich vielen Menschen auch in meinem privaten Umfeld angesprochen worden, wie es sein könne, dass das Bürgergeld ohne irgendwelche Auflagen gezahlt werde. Ganz wild wurde es dann bei dem Thema, dass angeblich viele Menschen ihre Arbeit niederlegen, um sich das bequemere Bürgergeld zu holen.

Das haben Sie also nicht erlebt?

Nein. Diese These wird ja auch durch keine Fakten belegt. Die Zahl der Übergänge aus Beschäftigung in den Leistungsbezug ist trotz Bürgergeld nicht gestiegen.

Stefan Graaf
Stefan Graaf (Quelle: Jobcenter Aachen)

Zur Person

Stefan Graaf (57) ist seit 2005 Geschäftsführer des Jobcenters Städte-Region Aachen, seit 2007 Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft der Jobcenter NRW und zudem seit 2008 Sprecher des Bundesnetzwerks der Jobcenter.

Wie sinnvoll ist es dann, wenn die Union nun eine radikale Reform des Bürgergelds fordert?

Wir brauchen keine radikale Reform. Aber ich bin mit Bedacht durchaus für Nachjustierungen in einzelnen Bereichen. Nur, Reformen im Minutentakt helfen uns nicht weiter. Wir haben schon so viele Veränderungen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende gehabt. Das System muss auch mal zur Ruhe kommen, damit es wirken kann. Wir verwirren die Bürgerinnen und Bürger und überfordern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und wichtig ist, dass künftige Reformen das komplizierte System dringend vereinfachen.

Was wären denn Punkte, die nachjustiert werden sollten?

Noch mehr Arbeitsanreize durch höhere Freibeträge zum Beispiel, wie es die Union ja jetzt auch vorschlägt. Das wäre auch einfach umzusetzen. Das ist zwar schon ein entscheidender Punkt bei der Bürgergeldreform gewesen, aber fleißige Menschen sollten da noch mehr Anreize bekommen. Auch eine Studie für die Bundesregierung hat festgestellt, dass man in diesem Bereich noch mehr machen könnte, um Arbeitsanreize zu verbessern.

Die Union fordert, der Fokus in der Vermittlung von Arbeitslosen müsse wieder auf eine intensivere und qualifizierende Unterstützung gelegt werden. Das ist aber doch beim Bürgergeld auch vorgesehen, oder nicht?

Ja. Das ist ja ein Kernelement der Bürgergeldreform gewesen. Was die Union jetzt fordert, ist eine noch stärkere Akzentuierung. Das kann man machen, ist aber immer auch eine Frage der Ressourcen, wie oft im Monat ich einen Langzeitarbeitslosen beraten und begleiten kann, und damit eine Frage des Geldes und der Priorisierung. Da muss man sich mal ehrlich machen.

Sie vermissen also Ehrlichkeit in der Debatte?

Auf jeden Fall. Wir haben ja im Haushalt gerade eher Kürzungen bei den Jobcentern erlebt. Und zugleich sollen wir aktuell einen Schwerpunkt bei der Vermittlung von Geflüchteten in Jobs legen. Aber selbst, wenn wir mehr Geld für mehr Personal hätten, dann müssten wir es auch erst einmal auf dem Arbeitsmarkt finden. Denn auch die Jobcenter suchen händeringend Fachkräfte.

Wie ehrlich ist es dann, wenn die Union eine Rückkehr zu härteren Sanktionen für Totalverweigerer fordert?

Hier wird auch ein falscher Eindruck erweckt. Zum einen gibt es ja aktuell schon Sanktionsmöglichkeiten – wenn auch abgeschwächter, als es vor der Bürgergeldreform der Fall war. Der Gesetzgeber plant wie schon gesagt für sogenannte "Totalverweigerer" gerade zudem eine Verschärfung der Sanktionen, bis zu zwei Monate soll das Bürgergeld dann komplett gestrichen werden können. Zum anderen muss auch gesagt werden, dass der Anteil dieser Menschen eher gering ist. Bevor durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2019 ein Sanktionsmoratorium verhängt wurde, hatten wir eine Sanktionsquote von zwei bis vier Prozent. Die meisten Sanktionen wurden damals und auch heute verhängt, wenn Termine in den Jobcentern nicht wahrgenommen wurden.

Auch das fordert die Union nun. Wer zu einem Termin ohne Entschuldigung nicht erscheint, dem soll das Geld komplett gestrichen werden.

Spürbarere Leistungsminderungen hierfür halte ich durchaus für sinnvoll, allerdings ist es im Regelfall unverhältnismäßig, da gleich ganz das Geld zu streichen. Dies dürfte auch nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechen. Es ist für Kolleginnen und Kollegen, gerade weil die Ressourcen begrenzt sind, schwierig, wenn Menschen zu Terminen nicht erscheinen. Allerdings braucht es dafür dann auch eine klare, praktikabel umsetzbare Gesetzesformulierung, damit es kein Papiertiger wird.

Wird denn aktuell nicht sanktioniert, wenn jemand nicht zum Termin erscheint?

Doch, in Höhe von zehn Prozent der Regelleistungen. Dies nehmen einige Leistungsberechtigte jedoch hin.

Wie viel haben die harten Sanktionen vor der Bürgergeldreform denn gebracht? Es gibt ja etliche Studien, die zeigen, dass der nachhaltige Effekt eher gering war.

Ich glaube, hier geht es eher um die generalpräventive Wirkung, also die Abschreckung, so dass man die Sanktion gar nicht erst anwenden muss. Ich könnte mir vorstellen, dass härtere Sanktionsandrohungen bei der Terminwahrnehmung zu mehr Termintreue bei manchen Bürgern führen würden. Insgesamt betrachtet sind Leistungsminderungen unverzichtbar, aber kein Allheilmittel und werden in der öffentlichen Wahrnehmung überbewertet. Die Menschen persönlich und intensiv zu unterstützen, ist viel wichtiger und bringt mehr Integrationsfortschritte.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Graaf.

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