Pläne der Bundesregierung "Deutschland hat einen Trick angewendet"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neben Grenzkontrollen will die Bundesregierung verstärkt die Abschiebehaft einsetzen, um Flüchtlinge rascher zurückzuweisen. Ein Experte kritisiert: Das gehe nicht so einfach – und sei auch nicht zielführend.
Seit diesem Montag kontrolliert die Bundespolizei stichprobenartig Reisende an allen deutschen Grenzen. Das Ziel: irreguläre Migration begrenzen. Die Grenzkontrollen sind dabei aber nur der erste Schritt, den die Bundesregierung angekündigt hat. Der zweite: mehr Abschiebehaft. Verfahren von Flüchtlingen, für die nach den Dublin-Regeln eigentlich andere EU-Länder zuständig sind, sollen so rascher abgeschlossen werden können.
Aber geht das überhaupt? Und ist es zielführend? Frank Gockel ist Experte für diese Fragen. Er ist Co-Vorsitzender des Bundesfachverbands zur Unterstützung von Menschen in Abschiebehaft (BUMAH). Regelmäßig besucht und berät er Menschen, die in deutschen Abschiebegefängnissen sitzen.
t-online: Herr Gockel, die Bundesregierung will die Zurückweisung von Dublin-Geflüchteten beschleunigen. Dafür will sie verstärkt die Abschiebehaft nutzen, um Fälle wie den des Attentäters in Solingen zu verhindern. Der entging seiner Abschiebung, weil er am Abschiebetag nicht anzutreffen war. Was halten Sie von dieser Ankündigung?
Frank Gockel: Das lässt sich nicht so leicht umsetzen, wie die Koalition sich das wünscht. Das Dublin-System sieht die Abschiebehaft nur vor, wenn eine Fluchtgefahr vorliegt. Die muss individuell geprüft und nachgewiesen werden. Die Person muss zum Beispiel am Tag einer angekündigten Abschiebung nicht angetroffen werden oder drei Tage am Stück nicht in ihrer Unterkunft sein. Ohne eine so festgestellte Fluchtgefahr ist eine Inhaftierung im Dublin-Bereich gar nicht möglich.
Die Behörden könnten also nicht alle Geflüchteten, die aus einem anderen EU-Land über die Grenze treten, einfach wegen einer "unerlaubten Einreise" inhaftieren?
Sosehr sich das viele Politiker derzeit offenbar wünschen: Nein, das geht so nicht. Und es wäre auch nicht zielführend.
Das Konstrukt Abschiebehaft ist vielen unbekannt. Wie viele Menschen sitzen in Deutschland derzeit in Abschiebehaft?
Das lässt sich nicht sagen. Es gibt dazu keine statistischen Erhebungen auf Bundesebene. Es ist eine Sache der Bundesländer; manche erheben Zahlen, andere nicht. Die Abschiebehaft ist eine Blackbox – darauf wird sehr geachtet.
Zur Person
Frank Gockel, 57 Jahre alt, betreut seit Jahren über den Verein "Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren" Personen, die in Nordrhein-Westfalen in Abschiebehaft sitzen. Inzwischen ist er außerdem Co-Vorsitzender des Bundesfachverbands zur Unterstützung von Menschen in Abschiebehaft (BUMAH), der es als seine Aufgabe versteht, Abschiebehaftgefangenen Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen.
Wie sind die Bedingungen für diese Menschen?
Sie dürfen nicht behandelt werden wie Straftäter – weil sie keine Straftäter sind. Das hat der Europäische Gerichtshof bereits mehrfach geurteilt. In Deutschland gibt es aber kaum einen Unterschied zwischen Abschiebe- und Strafhaft. Wir gehen davon aus, dass der Bundesgerichtshof mit Blick auf Deutschland ab Herbst sehr starke Änderungen verlangen wird. Eventuell werden auch einige Gefängnisse schließen müssen.
Politiker sagen schon jetzt oft: Der Platz reicht nicht, wir brauchen mehr Abschiebehaftplätze.
Das ist reiner Populismus. Wir haben 13 Gefängnisse für Abschiebehaft in Deutschland. Und in fast allen sind Plätze frei, manche sind nicht ansatzweise ausgelastet.
Woran liegt das?
Weil es eben nicht so einfach ist, Menschen in Abschiebehaft zu nehmen. Die Hürden liegen hoch – und das System ist sehr kompliziert. Es gibt nicht nur die Abschiebehaft, es gibt die Vorbereitungshaft, die erweiterte Vorbereitungshaft, die Sicherungshaft, die Dublin-Überstellungshaft, die Mitwirkungshaft, Mitwirkungshaft 2, die Zurückweisungshaft …
Dennoch: Warum wird Ihrer Meinung nach eine vermehrte Abschiebehaft die Zahl der Abschiebungen nicht erhöhen?
Mehr Abschiebehaft wird vermutlich nicht dafür sorgen, dass es mehr Abschiebungen gibt. Bayern ist zum Beispiel mit drei Abschiebehaftanlagen unter den Bundesländern am besten aufgestellt. Trotzdem schiebt Bayern, prozentual auf die Anzahl ihrer Geflüchteten gerechnet, nicht erfolgreicher ab als andere Länder.
Woran liegt das?
Manche Überstellungen scheitern, weil die Menschen nicht zu Hause anzutreffen sind. Das ist richtig. In diesen Fällen könnte die Abschiebehaft helfen. Am häufigsten aber scheitern Überstellungen schon sehr viel früher aus einem anderen Grund: weil die eigentlich zuständigen EU-Länder sie nicht zurücknehmen wollen und die deutschen Behörden schlicht keinen Überstellungstermin bekommen.
Welche Länder stellen sich aus Ihrer Erfahrung besonders hart quer?
Kroatien, Bulgarien, Italien, Griechenland, Ungarn. Kroatien und Bulgarien geben gerne so enge Zeitfenster vor, dass Überstellungen logistisch kaum machbar sind. Auch Italien sperrt sich. Außerdem stoppen die deutschen Verwaltungsgerichte Überstellungen dorthin immer wieder, vor allem wenn es um Familien geht – weil die Versorgung für sie dort so schlecht ist.
Wie läuft das in der Praxis?
Ich hatte heute zum Beispiel eine Akte von einem Fall in der Hand, in dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Ausländerbehörde nach einem Monat mitteilt: Eine Überstellung nach Kroatien wird nicht stattfinden. Wir werden es nicht schaffen, in den nächsten fünf Monaten einen Termin machen zu können. Punkt.
Und nach einem halben Jahr geht die Zuständigkeit auf Deutschland über?
Ja. So enden diese Fälle sehr häufig.
Warum verweigern sich die eigentlich zuständigen Länder so kategorisch?
Die Länder an den EU-Außengrenzen sind im Dublin-System sehr viel stärker belastet als alle anderen. Sie sind für fast alle Flüchtlinge zuständig, die Europa erreichen. Das ist vollkommen unverhältnismäßig. Wer kann, zieht sich aus der Affäre. Auch Deutschland hat das im Übrigen getan. Es hat gleich zu Anfang des Dublin-Systems einen Trick angewendet.
Einen Trick?
Als 1997 der erste Dublin-Vertrag unterzeichnet wurde, lag Deutschland noch an der östlichen Außengrenze der EU. Es war also eines der Länder, das die Hauptlast in der Flüchtlingsfrage tragen sollte. Es wusste aber damals schon: Das wird nicht lange so bleiben. Denn Polen trat bald der EU bei. Und damit war Polen die neue Außengrenze, Deutschland diese Belastung los. Polen hätte Dublin wohl nie unterzeichnet.
Von Solidarität kann also auf allen Seiten nicht die Rede sein, Dublin funktioniert nur bedingt. Ist der Ampel-Vorschlag also eine Luftnummer, weil er ganz von der Bereitschaft der zuständigen Länder abhängt?
Man versucht ein sehr, sehr komplexes System auf eine sehr einfache Lösung herunterzubrechen. Das funktioniert nicht.
Die Union hatte vorgeschlagen, Flüchtlinge an der Grenze einfach sofort konsequent zurückzuweisen.
Der Vorschlag ist noch schwieriger, aus mehreren Gründen.
Ein Beispiel?
Nehmen wir einen Geflüchteten, der von Italien über Österreich nach Deutschland kommt. Die deutsche Polizei weist ihn an der Grenze zurück. Österreich aber wird ihn auch nicht zurücknehmen. Er wollte ja nach Deutschland – und eigentlich ist Italien zuständig. Die Menschen würden im Nirgendwo landen, kein Land würde sich mehr zuständig fühlen. Das würde zu Chaos führen.
Warum taugen all die prominenten Vorschläge der Politik in der Praxis offensichtlich nichts?
Ich nenne eine Zahl: Die Bundespolitik hat seit den 70er-Jahren 40 Gesetze verabschiedet, um Asylverfahren zu beschleunigen. Das hat alles nichts gebracht. Weil immer wieder derselbe Fehler gemacht wurde: Die Gesetze wurden in aufgepeitschter Stimmung mit heißer Nadel und in sehr kurzer Zeit gestrickt.
Was würden Sie empfehlen?
Jeder Mensch aus der Praxis, egal aus welcher Richtung, ob aus der Ausländerbehörde oder einer Flüchtlingsinitiative, wird Ihnen dasselbe sagen: Wir bräuchten einen Gesetzesstopp. Zwei Jahre lang abwarten, dann gemeinsam die Lage analysieren. Das Hauptproblem ist: Die Politik agiert seit Jahren völlig kopflos.
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem GEAS soll Dublin bald ersetzen. Es wurde über Jahre verhandelt und sieht zahlreiche Änderungen und Verschärfungen vor. Deutschland will es so schnell wie möglich umsetzen. Ist das nicht die Hoffnung?
GEAS wird nicht der große Wurf sein. Die Probleme, die auch Dublin schon hatte, wird es auch dort geben: Weiterhin ist das Land zuständig, in dem Flüchtlinge zuerst das Land betreten. Die Lasten bleiben also ungleich verteilt. Es wird weiterhin Staaten geben, die nicht mitspielen wollen. Und die Lager an den Außengrenzen, in denen in Zukunft Asylverfahren durchgeführt werden sollen, werden Flüchtlinge einfach versuchen, zu umgehen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gockel.
- Gespräch mit Frank Gockel