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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ränkespiele ums Verfassungsgericht? Rechtswissenschaftler stieß die Brosius-Gersdorf-Affäre an

Tage vor dem Eklat um Brosius-Gersdorfs Nominierung wurde ihr Wikipedia-Artikel von einem renommierten Rechtswissenschaftler bearbeitet. Er steht der katholischen Kirche nahe – und dem Präsidenten des Verfassungsgerichts.
Einer der renommiertesten Rechtswissenschaftler Deutschlands, Ekkehart Reimer von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, hat wenige Tage vor dem Eklat um die Nominierung von Frauke Brosius-Gersdorf für das Richteramt am Bundesverfassungsgericht den Wikipedia-Eintrag zu ihrer Person gezielt um ihre Position zum Schwangerschaftsabbruch ergänzt. Das ergaben Recherchen von t-online. Reimer bestätigte diesen Vorgang auf Anfrage von t-online.
In fast 13 Jahren drei Bearbeitungen
Er habe sich dazu veranlasst gesehen, "weil diese Frage in der in diesen Tagen aufkeimenden politischen und wissenschaftlichen Diskussion zentral, in der vorherigen Wikipedia-Fassung aber unterbelichtet, ungenau und unbelegt war", schrieb Reimer in einer Stellungnahme. Er habe für die Bearbeitung bewusst seinen Klarnamen verwendet. Mit dem Benutzerprofil, das Reimer erstellt hat, wurden in fast 13 Jahren nur zwei weitere Einträge bearbeitet. Einer davon wurde unter anderem mit Informationen zum Cusanuswerk angereichert, dem Begabtenförderungswerk der Deutschen Bischofskonferenz, dem Reimer vorsteht.
Nachdem die Nominierung von Brosius-Gersdorf am 30. Juni durch einen Bericht der "FAZ" einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden war, hatten ab 1. Juli rechte Blogs wie "Apollo News" und "Nius" tagelang über vermeintlich grundgesetzwidrige und problematische Ansichten der in Fachkreisen hoch angesehenen Juristin berichtet. Auch Abgeordnete der Unionsfraktion im Bundestag, die ihre Wahl zehn Tage später vorerst absetzen ließ, kritisierten Brosius-Gersdorf für ihre fachlichen Einschätzungen scharf, unter anderem zum Schwangerschaftsabbruch.

Die konkreten Stellen
Fünf Tage vor dem Bericht der "FAZ" war allerdings der Wikipedia-Eintrag zu Brosius-Gersdorf verändert worden – zu diesem Zeitpunkt kursierten die Namen der Nominierten unter Insidern seit Wochen. Der Beitrag hatte bis dahin weitestgehend aus biografischen Angaben bestanden, ohne auf fachliche Positionen einzugehen. Am 25. Juni um 18.42 Uhr ergänzte Reimer dann mit dem Benutzerprofil "E. Reimer" folgende Passage komplett:
- "2023/24 war sie stellvertretende Koordinatorin der von der damaligen Bundesregierung eingesetzten Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin (Arbeitsgruppe 1). In der Auseinandersetzung um die Abtreibung betont Brosius-Gersdorf das Recht des Gesetzgebers, die Abtreibung in den ersten 12 Monaten der Schwangerschaft zu erlauben. Der Gesetzgeber sei nicht an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden, nach der die Abtreibung wegen des Lebensrechts des Embryo [sic] (Art. 2 Abs. 2 GG) zwar straffrei, aber – von Sonderfällen abgesehen – nicht rechtmäßig sein dürfe."
20 Minuten später korrigierte er, es gehe nicht um die "ersten 12 Monate der Schwangerschaft", sondern um die ersten zwölf Schwangerschaftswochen, spitzte aber Formulierungen zu. Aus "war" wurde "engagierte sich", aus "betont" wurde "setzte sich (...) ein".
- "2023/24 engagierte sie sich als stellvertretende Koordinatorin der von der damaligen Bundesregierung eingesetzten Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin (Arbeitsgruppe 1). In der Auseinandersetzung um die Abtreibung setzt sich Brosius-Gersdorf für das Recht des Gesetzgebers ein, die Abtreibung in den ersten 12 Schwangerschaftswochen zu erlauben. Der Gesetzgeber sei nicht an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden, nach der die Abtreibung wegen des Lebensrechts des Embryos (Art. 2 Abs. 2 GG) zwar straffrei, aber – von Sonderfällen abgesehen – nicht rechtmäßig sein dürfe."
Als Tage später erst die "FAZ" und dann rechte Medien diese zugespitzte Position aufgriffen, nahmen die Bearbeitungen des Wikipedia-Eintrags deutlich zu. Viele Nutzer beteiligten sich an der Erweiterung, was bei großem öffentlichen Interesse nichts Ungewöhnliches ist. Passagen wurden bearbeitet, gelöscht, hinzugefügt. Auch die Passage zum Schwangerschaftsabbruch wurde kurzzeitig entfernt. Da schaltete sich Reimer ein vorerst letztes Mal ein und stellte sie am 10. Juli wieder her.
- Brosius-Gersdorf bei Lanz: Krisenexperte nennt Auftritt "strategisch und vom Timing Blödsinn"
"Nehme sie als Aktivistin wahr"
Kurz zuvor hatte Reimer seine Kritik an Brosius-Gersdorfs Nominierung auch öffentlich gemacht: Im Kurznachrichtendienst Bluesky teilte er am 8. Juli einen Bericht der "FAZ" über die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), die ebenfalls Brosius-Gersdorfs Position zum Schwangerschaftsabbruch kritisierte. Reimer kommentierte: "Genau so!"
Er sehe Brosius-Gersdorfs Nominierung kritisch, schrieb Reimer t-online in seiner Stellungnahme. "Ich nehme sie als Aktivistin wahr, die über eine Neuinterpretation des Grundgesetzes ein deutsches 'Roe v. Wade' erreichen will. Darin liegt ein Bruch mit der gesamten bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 Abs. 2 GG." "Roe v. Wade" war in den USA 1973 eine Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs zum Abtreibungsrecht.
Es fehle in Brosius-Gersdorfs Ausführungen auch bis heute "die verfassungsrechtlich zentrale Unterscheidung zwischen Eingriffsabwehr (Grundrechtsverletzungen durch den Staat) einerseits und grundrechtlichen Schutzpflichten andererseits", schrieb Reimer weiter. Ohne diese Unterscheidung könne man die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Abtreibungsgesetzgebung nicht seriös führen.
Kontroverse um Harbarth-Professur
Dass Brosius-Gersdorf nominiert werden würde, sei zum Zeitpunkt der Bearbeitung am 25. Juni "allgemein, insbesondere in der Staatsrechtslehre, bekannt" gewesen. Mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, dem ehemaligen CDU-Politiker Stephan Harbarth, habe er darüber nicht gesprochen.
Harbarth hat seit 2018 eine Honorarprofessur an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg inne, wo Reimer die juristische Fakultät von 2018 bis 2020 als Dekan verantwortete und weiterhin Öffentliches Recht und Internationales Steuerrecht lehrt. Beide studierten dort zur selben Zeit Anfang der Neunzigerjahre. Um Harbarths Berufung hatte sich deswegen eine Kontroverse entsponnen, weil sich die Universität weigert, die Gutachten zur Berufung öffentlich zu machen. Kritiker mutmaßten politische Gefälligkeiten: Die Professur habe 2018 Harbarths Wechsel ans Bundesverfassungsgericht erleichtern sollen. Reimer hatte diesen Verdacht stets zurückgewiesen.
Brosius-Gersdorf hatte am Dienstagabend in der ZDF-Talkshow "Markus Lanz" durchblicken lassen, dass sie erwäge, ihre Kandidatur für das Bundesverfassungsgericht zurückzuziehen, falls dem Gericht durch die Personalie Schaden drohe. Auch eine Regierungskrise wolle sie nicht verantworten. Gleichzeitig sah sie sich unter Druck, öffentlichen Falschbehauptungen und Verkürzungen entgegenzutreten.
Sie widersprach heftig dem Vorwurf, sie habe Embryos das Lebensrecht abgesprochen oder sei für Schwangerschaftsabbrüche bis zur Geburt. Doch wenn Embryos Träger der Menschenwürde nach Artikel 1 des Grundgesetzes seien, sei ein Schwangerschaftsabbruch niemals zu rechtfertigen, da die Menschenwürde nach gängiger Rechtsprechung "nicht abwägungsfähig" sei. Deshalb habe sie sich dafür ausgesprochen, Abtreibungen in der Anfangsphase für rechtmäßig zu erklären, gegen Ende der Schwangerschaft hingegen die Grundrechte des Embryos stärker zu gewichten als die der Mutter.
- Eigene Recherchen
- Wikipedia.org: Eintrag zu Frauke Brosius-Gersdorf
- lto.de: "Streit um die Honorarprofessur von Stephan Harbarth"
- lto.de: "Uni muss nicht preisgeben, wer Harbarths Gutachter waren"