Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Debatte um Wehrpflicht Kommt der Einberufungsbefehl?

Kommt die Wehrpflicht – und wenn ja, welche? Union und SPD streiten über die Frage, wie die Personalnot der Truppe gelöst werden kann. In Bundeswehrkreisen gibt es ein offenes Geheimnis.
Die Debatte um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht nimmt Fahrt auf – parteiübergreifend. Auch der ehemalige Bundesaußenminister und Grünen-Politiker Joschka Fischer hat sich in einem Interview nun für die Rückkehr der Wehrpflicht ausgesprochen und seine frühere Ablehnung bereut. "Wenn wir abschreckungsfähig werden wollen, wird das ohne eine Wehrpflicht nicht gehen", so Fischer zum "Spiegel".
Im politischen Berlin gärt die Diskussion schon seit Längerem – und entfaltet im Vorfeld des Nato-Gipfels Ende Juni eine neue Dynamik. Zwar hatten Union und SPD sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, zunächst einen freiwilligen Wehrdienst einzuführen. Doch die angespannte Sicherheitslage in Europa und Russlands fortgesetzter Kriegswille scheinen den Handlungsdruck auf die Politik zu erhöhen. Die Rufe nach einer Rückkehr der Wehrpflicht werden lauter.
Doch wie ernst sind diese Forderungen zu nehmen? Muss Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sein Wehrdienst-Modell überdenken? Und werden am Ende womöglich nur junge Männer rekrutiert – oder auch Frauen? Der Überblick.
- Sold und Zuschläge: Das verdient man bei der Bundeswehr
Die Ausgangslage: Russlands Bedrohung
Die Warnungen vor Russlands Expansionsdrang sind nicht neu. Und doch stimmen die jüngsten Äußerungen von BND-Chef Bruno Kahl nachdenklich. Kahl sagte in einem Interview in Bezug auf die russische Führung: "Wir sind sehr sicher und haben dafür auch nachrichtendienstliche Belege, dass die Ukraine nur ein Schritt auf dem Weg nach Westen ist." Es gebe in Moskau Menschen, die "gerne testen" würden, ob der Nato-Bündnisfall funktioniere.
Mit dem Nato-Bündnisfall meint Kahl die Bereitschaft der Nato-Partner, zusammenzustehen, falls ein Nato-Land angegriffen wird. Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump wächst in vielen europäischen Hauptstädten die Sorge, ob die USA wirklich bereit wären, einem Land wie Estland militärisch beizustehen, sollte Russland einen Grenzkonflikt provozieren. Deutsche Sicherheitsbehörden weisen bereits seit einiger Zeit auf die massiven Aufrüstungsbemühungen des Kremls hin, die auf Vorbereitungen auf einen größeren Krieg hindeuten.
Die gesetzte "Frist" ist 2029: Bis dahin wird der Kreml angeblich in der Lage sein, seine Streitkräfte gegen Nato-Partner einzusetzen. Die Jahreszahl basiert auf internen Einschätzungen, ist aber politisch gesetzt: Wann genau Russland zuschlägt und ob überhaupt, kann niemand vorhersehen. Die Zahl 2029 soll daher auch innenpolitische Wirkung entfalten und den Handlungsdruck erhöhen. Denn klar ist: Bis dahin muss in Deutschland noch einiges geschehen. Die Bundeswehr ist noch ein ganzes Stück von ihrem Ziel entfernt, einsatzbereit und abschreckungsfähig zu sein.
Das Personalproblem der Bundeswehr
Neben Ausrüstungsmängeln und einem trägen Beschaffungswesen ist das größte Problem der Bundeswehr das Personal. Die Sollgröße der Bundeswehr beträgt 203.000 Soldatinnen und Soldaten, doch sind rund 20.000 Dienstposten seit Jahren unbesetzt. Auch die Reserve verfügt mit rund 40.000 aktiven Reservisten nur über einen Bruchteil ihrer benötigten Kräfte.
Wie groß die Personallücke der Bundeswehr tatsächlich ist, hat Verteidigungsminister Boris Pistorius im vergangenen Jahr selbst beziffert: Demnach bräuchte Deutschland rund 460.000 Kräfte (200.000 Soldaten und 260.000 Reservisten), um seinen Beitrag zur Bündnisverteidigung zu leisten. Also fast eine Verdoppelung der heutigen Zahlen.
Die Personalnot wird durch das neue Aufrüstungsprogramm der Nato noch verschärft. Auf dem Nato-Gipfel Ende Juni in Den Haag will die Verteidigungsallianz ihren Mitgliedsstaaten neben neuen Quoten für Rüstungsausgaben wohl auch neue Fähigkeitsvorgaben machen. Pistorius machte bereits vergangene Woche öffentlich, was voraussichtlich auf Deutschland zukommt: Um rund 50.000 bis 60.000 Soldaten müsse die reguläre Truppe wachsen – also das Dreifache der 20.000 Dienstposten, die die Bundeswehr seit Jahren nicht besetzen kann.
Wie der massive Aufwuchs der deutschen Streitkräfte gelingen kann, lässt sich derzeit nicht seriös beantworten. Die Bundeswehr hatte in den vergangenen Jahren versucht, über Außenwerbung, "Karrierecenter" und aufwendige Social-Media-Kampagnen mehr Personal zu rekrutieren und gezielt auch junge Menschen anzusprechen. Mit mäßigem Erfolg. Die neuen Anforderungen der Nato und das sich schließende Zeitfenster bis 2029 könnten nun die Debatte um eine Rückkehr der Wehrpflicht befeuern.
Dagegen steht – zumindest derzeit noch – ein Kernprojekt des SPD-Verteidigungsministers, der mit attraktiven Angeboten die Personalnot der Bundeswehr bekämpfen will. Doch reicht Pistorius' freiwilliges Wehrdienst-Modell überhaupt noch aus?
Ist das Pistorius-Modell noch zeitgemäß?
Um den Personalmangel endlich in den Griff zu bekommen und der Truppe frische Rekruten zuzuführen, hatte Bundesverteidigungsminister Pistorius im vergangenen Jahr sein Modell "Neuer Wehrdienst" vorgestellt: eine Art erweiterter Freiwilligendienst, der mithilfe eines Online-Fragebogens junge Menschen nach ihrer Eignung und ihrem Interesse abfragt und sie so zur Bundeswehr locken will. 5.000 freiwillige Wehrdienstleistende sollen so 2026 gewonnen werden, Tendenz in den nächsten Jahren steigend.
Doch ranghohe Bundeswehrgeneräle warnen schon länger hinter vorgehaltener Hand, und nun zunehmend auch öffentlich: Allein mit Freiwilligkeit wird die Bundeswehr kaum auf ihre Sollstärke kommen. Auch Pistorius hat in den vergangenen Wochen immer häufiger betont, dass man "zunächst" auf Freiwilligkeit setze und, falls das nicht reiche, man dann über eine Wehrpflicht nachdenken müsse.
In der Wehrpflicht-Debatte war es oft auch Pistorius selbst, der auf die Bremse drückte: Der Bundeswehr fehlten die Ausbilder, Waffen und Kasernen, um jährlich Hunderttausende Rekruten zu versorgen, hieß es immer wieder vom Verteidigungsminister. Auch müsse zunächst die Wehrerfassung wieder aufgebaut werden, um überhaupt eine Datengrundlage für die Rekrutierung zu haben. Aber zur Wahrheit gehört auch: In der SPD ist die Idee eines verpflichtenden Militärdienstes unpopulär. Pistorius hielt sich also auch aus Rücksicht auf seine Parteigenossen mit allzu forschen Forderungen zurück.
Doch der anstehende Nato-Gipfel und das Bemühen der Europäer, einen erratischen Donald Trump mit eigenen Aufrüstungsplänen zu befrieden, könnte Schwung in die deutsche Debatte bringen. Auch die Tatsache, dass Pistorius schon zwei Wochen vor dem Nato-Gipfel die neue Vorgabe von rund 60.000 zusätzlichen Bundeswehrsoldaten offenlegte, dürfte kein Zufall sein. Bereitet der Verteidigungsminister bereits rhetorisch einen Kurswechsel vor?
Koalitionärer Spaltpilz
Klar ist: Eine Rückkehr zur Wehrpflicht wäre politisch eine heikle Angelegenheit. Vor allem junge Menschen lehnen Umfragen zufolge mehrheitlich eine Wehrpflicht ab. Die Debatte zwischen Union und SPD war eigentlich geklärt. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD steht eindeutig: "Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert." Damit war klar, dass Pistorius sein Wehrdienst-Gesetz aus Ampel-Zeiten recyceln kann, das – neben einem verpflichtend auszufüllenden Online-Fragebogen – kein Zwangselement enthält.
Doch die Union erhöht nun das Tempo in der Debatte. Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Daniel Günther (CDU), stellte sich offen gegen das Pistorius-Modell. Dem Magazin "Stern" sagte Günther: "Der geplante freiwillige Wehrdienst reicht nicht aus." Ähnlich äußerte sich auch Unionsfraktionsvize Norbert Röttgen, der eine Formulierung im Pistorius-Gesetz forderte, die für den Fall vorplane, dass sich nicht genügend Freiwillige finden lassen.
Wehrpflicht nur für Männer?
Ein weiterer Knackpunkt: In der Diskussion ist die Rückkehr der alten Wehrpflicht, bei der nur junge Männer gegen ihren Willen eingezogen werden können. So steht es im Grundgesetz. Eine Wehrpflicht, die auch Frauen einbezieht, würde eine Verfassungsänderung und damit eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erfordern, was unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen als ausgeschlossen gilt. Die "alte" Wehrpflicht wiederum ließe sich durch eine einfache gesetzgeberische Mehrheit zurückbringen – also durch die Kanzlermehrheit von Union und SPD.
Die Debatte innerhalb der schwarz-roten Koalition dürfte noch interessant werden. Während die Union sich offen zu einer Wehrpflicht bekennt, ist die SPD in der Frage gespalten. Es scheint jedoch, dass sozialdemokratische Pragmatiker wie Pistorius, die offen für eine Wehrpflicht wären, weiterhin in der Minderheit sind. Zentrale Schaltstellen der SPD – wie der Fraktionsvorsitzende Miersch und Generalsekretär Tim Klüssendorf – werden von SPD-Linken besetzt, die eine Wehrpflicht ablehnen. Und SPD-Chef Lars Klingbeil, der zwar zu den Pragmatikern zählt, ist nicht dafür bekannt, in heiklen Fragen dem linken Lager zu widersprechen.
Miersch sagte gerade in einem Interview, es werde in dieser Legislaturperiode keine Verhandlungen über eine mögliche Rückkehr zur Wehrpflicht geben. Ob sich die Union daran hält, wird sich zeigen.
- nytimes.com: "Russia Beefs Up Bases Near Finland’s Border" (englisch, kostenpflichtig)