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Wahl zum SPD-Vorsitz: Andrea Nahles hat noch Hürden zu meistern


Wahl zum SPD-Vorsitz
Andrea Nahles hat noch einige Hürden zu meistern

dpa, Georg Ismar

Aktualisiert am 21.04.2018Lesedauer: 5 Min.
Andrea Nahles könnte die erste Frau an der Spitze der SPD werden. Am Sonntag entscheiden die Delegierten über den neuen Bundesvorsitzenden.Vergrößern des BildesAndrea Nahles könnte die erste Frau an der Spitze der SPD werden. Am Sonntag entscheiden die Delegierten über den neuen Bundesvorsitzenden. (Quelle: Oliver Berg)
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Nach 155 Jahren wird erstmals eine Frau an der Spitze der deutschen Sozialdemokratie stehen. Andrea Nahles gilt als Favoritin. Doch überall beliebt ist sie nicht.

Auf ihren Autofahrten durch Deutschland liest Andrea Nahles derzeit ein Buch – wenn sie mal nicht am Telefon mit ihren Ministern die Regierungsarbeit koordiniert oder Akten studiert. "Hector und die Kunst der Zuversicht", heißt es – und handelt von einem Mann, der an seinem Leben zweifelt, die Ehe zerbröckelt, die Zukunft sieht sehr mau aus. So beschließt er, alte Freunde in aller Welt um Rat zu fragen, um neuen Mut, neue Zuversicht zu schöpfen.

Es könnte eine Parabel auf die SPD und Andrea Nahles sein. Sie ist gerade mal wieder von ihrem Bauernhof in Weiler in der Vulkaneifel nach Köln/Bonn zum Flughafen gefahren, nach Bremen geflogen, von dort ging es für sie im Dienstwagen nach Bad Fallingbostel zum Parteitag der niedersächsischen SPD. Sie ist derzeit viel an der Basis unterwegs, vor jenem entscheidenden 22. April 2018.

Sie will dann beim SPD-Sonderparteitag in Wiesbaden die erste Frau an der Spitze werden, in 155 Jahren Parteigeschichte, als Nachfolgerin des im Februar zurückgetretenen Martin Schulz. Nahles tritt als klare Favoritin gegen Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange an. Die inszeniert sich als Frau der Basis gegen Nahles, die gefühlt seit Ewigkeiten in Berlin mitmischt. Dabei ist sie erst 47 Jahre alt – ein Leben mit vielen Höhen und Tiefen.

Mit 18 hatte sie einen schweren Autounfall in Schweden, davon zeugt die Narbe auf der Stirn. Die Tochter eines Maurers ist seit der Jugend politisch aktiv, studierte Germanistik und schrieb ihre Magisterarbeit über die "Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman".

Nahles wurde lange unterschätzt – wie Merkel

Weiler ist für Nahles auch ein Reflexionsort jenseits der Blase Berlin, hier lebt sie mit ihrer siebenjährigen Tochter. "Wenn ich samstags die Straße kehre, kommen da immer ein paar Leute vorbei, da wird viel gequatscht und ich weiß, was die Leute wirklich beschäftigt." Sie ist kein Darlingtyp, will sich nicht verbiegen – und wurde lange unterschätzt, wie auch Angela Merkel.

Ihr Stilmittel ist es, persönliche Erfahrungen einzuflechten. "Wie können wir den Menschen Partner sein, wenn sie, wie meine Cousine Roswitha, nach 23 Jahren bei einer Bank ... durch einen Algorithmus ersetzt werden", fragt Nahles die Genossen in Bad Fallingbostel.

Eine Basisgeschichte gibt es auch, wenn sie nach ihrem Vorbild gefragt wird. Das war nicht Willy Brandt. Sondern: Helmut Kollig aus Kottenheim. "Willy Brandt war für mich weit weg, Helmut Kollig war ganz nah." Kollig war ihr Deutschlehrer an der Realschule Mayen, bevor sie aufs Gymnasium wechselte. Und Kollig war Sozialdemokrat; er lehrte die Schüler, wie wichtig es ist, sich einzubringen. Es gab damals keinen SPD-Ortsverein in Weiler, Nahles gründete mit Mitschülern einen, weil man ein Jugendzentrum durchsetzen wollte.

Ihr Vorbild hat mit Nahles gebrochen

Anruf bei Helmut Kollig. Wie war Andrea Nahles denn so in der Schule? "Vorlaut." Er hat mit der SPD gebrochen und ist vor zwei Jahren ausgetreten. "Wegen der Zerstörung der Realschulen", sagt Kollig. Zu Nahles und seiner Rolle als ihr Vorbild sagt er: "Ich fühle mich benutzt und will nichts mehr mit ihr zu tun haben." Er meint, sie wolle mit solchen Geschichten Basisnähe suggerieren.

Die 47-Jährige muss damit leben, in Schubladen gesteckt zu werden. Sie wird immer noch mit der lauten Jusos-Vorsitzenden verbunden – dabei hat sie einen weiten Weg von Links mehr in die pragmatische Mitte hinter sich. Ihr großes Netzwerk könnte ihr helfen, die unterschiedlichen Flügel zu einen. Wenn sie über sich eine Schlagzeile schreiben müsste, würde die wie lauten? "Schufter mit Herz", sagt sie. Dabei sind Nahles die Herzen selten zugeflogen. In Umfragen kommt sie bisher meist schlecht weg, sie polarisiert.

Kurz vor der Wahl zum SPD-Vorsitz sieht nach einer Umfrage fast jeder zweite Deutsche Andrea Nahles nicht als Hoffnungsträgerin. 47 Prozent der Befragten sind skeptisch, ob Nahles als neue Vorsitzende geeignet wäre, die SPD zu einen und nach vorn zu bringen, wie der neue "Deutschlandtrend" von Infratest dimap für das ARD-"Morgenmagazin" zeigt. Nur jeder Dritte traut ihr demnach zu, die Sozialdemokraten wieder zu stärken. Auch die SPD-Anhänger sind nicht viel optimistischer. Rund 50 Prozent von ihnen glauben, dass Andrea Nahles es schafft, die Partei aus der schwierigen Lage herauszuführen.

Das zu drehen, wird auch darüber entscheiden, ob sie die SPD wieder stärker machen kann. Nahles wollte nach dem Schulz-Rückzug sofort kommissarisch das höchste Parteiamt übernehmen, aber das wurde im Vorstand blockiert, eine Niederlage für sie. Denn das hätte nach dem Schaffen von Fakten ausgesehen. Zumal es mit Flensburgs OB Lange eine Gegenkandidatin gibt. So übernahm SPD-Vize Olaf Scholz – bis zu dem Sonderparteitag. "Holt Lange 20 Prozent plus x, wäre das für Nahles gleich eine ziemliche Hypothek", sagt ein SPD-Stratege.

Aber: Nahles eckt seit jeher auch in der SPD an, sie scheut nicht den Konflikt, was helfen könnte, der Partei wieder ein klares Profil zu geben. Ihr bestes Wahlergebnis waren bisher 74,8 Prozent bei der Wahl zur Vizevorsitzenden 2007. Als Generalsekretärin (2009 bis 2013) bekam sie einmal sogar nur 67,2 Prozent. Daher lautet das Wiesbaden-Ziel: 75 Prozent plus x.

Als Jusos-Chefin feierte sie 1995 den Sturz Rudolf Scharpings durch Oskar Lafontaine – der bezeichnete Nahles mal als "Gottesgeschenk" für die Partei. Einige Genossen beklagen bei ihr die gleichen Muster wie bei den Männern: Zu wenig Beteiligung bei Entscheidungen, Absprachen in kleinen Zirkeln.

Die Schulz-Katastrophe macht sie nun wohl zur zweitmächtigsten Frau Deutschlands nach Merkel. Beide verstehen und schätzen sich, als Bundesarbeitsministerin (2013–2017) setzte Nahles den historischen Mindestlohn und Rentenverbesserungen durch – und galt stets als verlässlich. Aber es muss enttäuschend gewesen sein, dass ihre Erfolge in der Regierung beim Volk so wenig wahrgenommen wurden.

"Für die Leute machen wir das, verdammte Kacke noch mal"

Nun ist sie bewusst als Chefin der SPD-Bundestagsabgeordneten und mögliche Vorsitzende nicht Teil der Bundesregierung in der erneuten großen Koalition. Mit mehr Beinfreiheit will sie das SPD-Profil schärfen, ein Machtzentrum neben der Regierung bilden. Ob sie, Vizekanzler Scholz oder jemand Drittes die SPD in die nächste Bundestagswahl führt, das wird noch eine spannende Frage.

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Die Stärke von Nahles ist das Zuhören, sie ist volksnah (beim letzten Karneval verkleidete sie sich als Clown) und schreckt auch vor besonderem Vokabular nicht zurück. "Für die Leute machen wir das, verdammte Kacke noch mal", sagte sie über die Rente mit 63.

Entscheidend wird sein, Konflikte, etwa im Verhältnis zu Russland, beim Thema Flüchtlinge oder zur Zukunft von Hartz IV intern zu kitten, die Partei programmatisch zu einen. "Man muss auch mal den Mumm haben, ein paar heiße Eisen anzufassen", sagt Nahles. So muss die SPD auch Antworten finden auf die für viele ängstigende Arbeitswelt von Morgen mit Konkurrenz durch Roboter und künstliche Intelligenz.

Lange gab es die Legende, dass an jeden neuen Vorsitzenden eine Taschenuhr des SPD-Gründungsvaters August Bebel weitergereicht wurde. Tatsächlich liegt sie aber im Archiv der Ebert-Stiftung. Nahles hätte auch keine Verwendung. "Ich benutze keine Taschenuhren; und in der weiblichen Garderobe ist dafür auch gar kein Platz vorgesehen."

Verwendete Quellen
  • dpa
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