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Tagesanbruch: Maaßen ist für das Amt des Verfassungsschutzchefs ungeeignet


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 11.09.2018Lesedauer: 8 Min.
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Rechte Demonstranten in Chemnitz: Neonazis und Rechtspopulisten verbreiten in Ostdeutschland ihr Gift.Vergrößern des Bildes
Rechte Demonstranten in Chemnitz: Neonazis und Rechtspopulisten verbreiten in Ostdeutschland ihr Gift. (Quelle: Jan Woitas/ZB/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Eine seltsame Stimmung herrscht in diesen Tagen in unserem Land. Wer, sagen wir mal, im schönen Frankfurt, im schönen Freiburg oder im noch schöneren Dresden einigermaßen sorgenfrei seinem Tagwerk nachgeht, der erlebt einen angenehm warmen Spätsommer und entspannte, zuversichtliche Menschen, die nach der Arbeit vielleicht im Biergarten oder auf der Terrasse sitzen und sich des Lebens freuen. Wer hingegen im Berliner Regierungsviertel unterwegs ist, der erlebt rastlose Politiker und Journalisten, die noch aufgeregter als sonst auf ihr Smartphone starren, wieder eine Eilmeldung, wieder was passiert irgendwo im Osten? Erst Chemnitz, nun Köthen. Ein Deutscher ist nach einem Streit mit afghanischen Asylbewerbern gestorben. Selbstverständlich muss jede Gewalttat aufgeklärt, müssen überführte Täter bestraft werden. So ist es im Rechtsstaat, aber das ist nur die eine Dimension einer solchen Tat. Eine andere ist die Kommunikation, die rund um eine Tat stattfindet, und die Instrumentalisierung derselben.

Die genauen Umstände des Geschehens rücken bei so einer Tat schnell in den Hintergrund, werden in den sozialen Medien hinweggefegt von Mutmaßungen und Gerüchten, von Meinungen und Gegenmeinungen, jeder hat etwas dazu zu sagen, manche äußern sich differenziert, aber viel mehr pauschal und noch mehr gehässig. Darunter sind die Hassprediger am rechten Rand, die jede Tat eines Flüchtlings, noch bevor sie aufgeklärt worden ist, für ihre Propaganda missbrauchen. Die nicht nur auf Facebook, Twitter und Co. ihr Gift versprühen, sondern auch auf den Straßen unserer Städte.

Wer sich diesem Gift aussetzt, dem kann schlecht werden. Mir zumindest geht es so, wenn ich in einem Video die Stimme einer Aktivistin höre, die sich auf den Holzmarkt in Köthen stellt und an Gegendemonstranten gerichtet ins Mikrofon ruft: "Die da hinten werden als Erstes brennen. BRENNEN. Und ihr habt mich richtig verstanden!" Und wenn ich dann Beifall der Umstehenden höre.

Woher kommt dieser Hass? Mit der berechtigten Empörung über einzelne Gewalttaten von Migranten allein lässt er sich kaum erklären. Kürzlich habe ich im Tagesanbruch über die Kränkung geschrieben, die nach meiner Beobachtung viele Menschen in Ostdeutschland empfinden – aber auch das ist natürlich nur einer von mehreren möglichen Gründen für die Entfremdung innerhalb gewachsener Bürgerschaften, für die Wut und zum Teil auch den Hass, die wir gerade erleben.

Man kann lange darüber nachdenken, und manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich denke: Diese Radikalität ist nicht neu, sie war schon früher da, zum Beispiel Anfang der Neunzigerjahre, als ich in Sachsen lebte. Ich erinnere mich an Aufmärsche von Skinheads und an Discos, in denen der "Führer-Pogo" getanzt wurde. Mir fällt wieder ein, dass Freunde mich eindringlich davor warnten, bestimmte Stadtviertel nachts zu betreten, weil dort "die Nazis" seien. Selbstverständlich gab und gibt es Rechtsextremismus nicht nur in den neuen Bundesländern, auch in den alten hat er sich breitgemacht, knüpfen Neonazis ihre Netzwerke, bedrohen Juden, Linke und Menschen mit Migrationshintergrund.

Was nach meiner Beobachtung aber in vielen ostdeutschen Orten fehlt, ist eine starke, selbstbewusste Zivilgesellschaft, die sich den Radikalen entgegenstellt. Die aufschreit, wenn Migranten attackiert oder jüdische Einrichtungen angegriffen werden, wenn Ideologen mit dem Hitlergruß durch die Straße patrouillieren und Mitläufer einfach mitlaufen, wenn Ausländern in der Straßenbahn oder auf dem Marktplatz zugerufen wird, sie würden "vergast", sie würden "brennen". Der Rechtsextremismus sitzt in unserer Gesellschaft wie ein Krebsgeschwür, und an manchen Stellen droht er die gesunden Zellen aufzufressen.

Es braucht eine starke, klar und transparent geführte Polizei, gut ausgestattete Ermittlungsbehörden und ideologiefreie Nachrichtendienste, um dieses Geschwür zu bekämpfen, aber damit allein ist es nicht getan. Es braucht auch uns alle, Sie und mich, die sich den Rechten entgegenstellen. "Die Zeit ist reif zu sagen, wofür wir einstehen wollen", schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl, und wie immer formuliert er seine Gedanken viel eleganter, als ich es je könnte.

Allerdings erscheint mir die bürgerliche Gesellschaft nicht nur im Osten vielerorts zu schwach. Auch im Westen habe ich manchmal den Eindruck: Das ist alles viel zu leise. Und daran trägt die Politik eine Mitschuld. Weil sie den Draht zu vielen Menschen verloren hat, weil sie Apathie statt Engagement schürt, weil sie viele Menschen maßlos enttäuscht hat. Die SPD taumelt von einer Krise in die nächste, die Union wechselt zwischen Zank und Abgehobenheit.

"Wer in diesen Wochen hineinhört in das, was man gemeinhin bürgerliches Milieu nennt, der kann eindrucksvoll erleben, wie sehr sich die Menschen von dieser Art Politik abwenden", schreibt Stefan Braun in der "Süddeutschen Zeitung". "Wie sehr sie das Verständnis dafür verloren haben, dass die Kanzlerin kaum Empathie zeigt für die Sorgen der Menschen und ihre Entscheidungen nicht leidenschaftlich begründet. Und der kann erleben, wie sehr viele bürgerliche Wähler den Kopf schütteln über eine Seehofer-CSU, die es fertiggebracht hat, mit der Kanzlerin über den 63. Punkt des eigenen 'Masterplans' zu streiten, statt die 62 anderen Punkte so schnell wie möglich umzusetzen. Die Union ist drauf und dran, im bürgerlichen Milieu ihren letzten Kredit zu verspielen."

Den Volksparteien droht, dass sie das Wichtigste verlieren, was sie haben: Ihre Wurzeln in der breiten Bevölkerung. Für den gesellschaftlichen Frieden in unserem Land ist das ein Alarmsignal.

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Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich in den Nachrichtenagenturen die Meldung, dass Verfassungsschutzchef Maaßen zurückrudert und nun doch keine Zweifel mehr an der Echtheit eines Videos hegt, das die Attacke auf einen Migranten in Chemnitz zeigt. Er sei "falsch verstanden worden." Aha. In einem Interview, das er autorisiert hat. Auf die Idee, zu seinem Fehler zu stehen und sich dafür zu entschuldigen, ist er nicht gekommen. Auch ich hege nun keinen Zweifel mehr: Dieser Mann ist für das Amt des Verfassungsschutzchefs ungeeignet.

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WAS STEHT AN?

Die wichtigsten Termine des Tages in Kürze:

Am Vormittag beginnen im Bundestag die Beratungen über den Haushalt 2019, Finanzminister Olaf Scholz erklärt, wofür er die dreihundertsechsundfünfzig-kommaacht Milliarden Euro auszugeben gedenkt, die Sie und ich und alle anderen Bundesbürger und Unternehmen durch ihre Steuern erwirtschaftet haben. Zum Auftakt geht es um die Etatpläne für Verkehr, Umwelt und Landwirtschaft. Und in zwei Jahren wird uns dann der Bund der Steuerzahler berichten, ob die Regierung sorgsam gewirtschaftet hat.

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Der UN-Beauftragte für Syrien, Staffan de Mistura, hat Vertreter Russlands, des Irans und der Türkei heute nach Genf vorgeladen, Pardon: eingeladen, um erstens über eine syrische Verfassung nach Kriegsende (also irgendwann) und zweitens die Kämpfe um die Rebellenhochburg Idlib (also jetzt sofort) zu beraten. Ich bin der Letzte, der mit Blick auf den Syrienkonflikt zynisch klingen möchte, aber ich bezweifle, dass dabei heute etwas herauskommt. Die Tragödie wird wohl weitergehen.

300.000 Soldaten, 1.000 Kampfflugzeuge und Drohnen, 900 Panzer: Russland beginnt heute in Sibirien das größte Militärmanöver seit dem Kalten Krieg, auch China und die Mongolei machen mit. Vermutlich wird dabei der Angriff eines fiktiven Staats namens "Missouria" simuliert, der ein feindliches Militärbündnis dominiert. Sie ahnen sicher, wer damit gemeint ist.

Der Kampf gegen Mindestlohnbetrug ist wichtig, deshalb schwärmen heute 6.000 Fahnder aus und überprüfen bundesweit auf Baustellen, in Hotels, in Gaststätten und im Logistikgewerbe, ob überall der gesetzliche Mindestlohn bezahlt wird. Apropos: Wissen Sie, wie viel der derzeit beträgt? Ich helfe Ihnen: 8,84 Euro. Ich sage es mal so: Wer den nicht bezahlt, dem geschieht der Besuch eines Fahnders recht.

Hans-Georg Maaßen hat allen Grund, sich endlich ausführlich zu erklären. Heute Abend kann er gleich mal damit anfangen: Beim Herbstempfang der Präsidenten der Sicherheitsbehörden BfV, BND, BKA und Bundespolizei trifft er auf jede Menge Politiker und Journalisten. Vielleicht sagt er ja zur Abwechslung mal etwas, das man nicht missverstehen kann.

Der Europäische Rechnungshof stellt heute einen Bericht vor, wie sehr Luftverschmutzung der Gesundheit schadet – und wie die EU-Mitgliedstaaten die europäischen Vorgaben umsetzen (oder eben nicht). Sechs Städte wurden gesondert unter die Lupe genommen, darunter Stuttgart. Hust.

Apropos Hust beziehungsweise Stuttgart: In dieser ehemals schönen Stadt und heutigen Baugrube üben Bundes- und Landespolizisten heute den Ernstfall eines terroristischen Anschlags. Falls Sie also rund um die Baugrube wohnen und heute Abend Schüsse und Explosionen hören, bleiben Sie bitte ruhig und schenken Sie sich noch ein Viertele ein. Ist alles nur Show.

Und wenn Sie zum Viertele was Interessantes angucken wollen, schauen Sie doch mal bei Arte rein (geht auch in Orten ohne Baugrube). Dort beginnt heute eine eindrucksvolle Dokureihe über den 1. Weltkrieg: Krieg der Träume.

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WAS LESEN?

Es gibt wenige Menschen, denen ich sofort alles glauben würde, wenn sie mir von Asien erzählen. Diese ferne Weltregion entwickelt sich so atemberaubend schnell, dass mir manche Schilderung wie ein Märchen vorkommt. Erich Follath glaube ich sofort alles. Jahrelang reiste er als Reporter für den "Spiegel", die "Zeit" und andere Medien durch die Welt, er saß bei Ayatollahs auf dem Sofa und duzt den Dalai Lama. Er hat die Gabe, uns durch seine Reportagen die Menschen, Länder, politischen und kulturellen Zusammenhänge am anderen Ende der Welt zu erklären und so ein Stückchen näher zu bringen. Deshalb freue ich mich außerordentlich, dass Herr Follath nun auch für t-online.de schreibt. Zum Auftakt geht es, wie könnte es anders sein, um die aufstrebende Weltmacht China und ihr gigantisches Seidenstraßenprojekt: Ist das ein wohltätiger fernöstlicher Marschall-Plan oder ein Welteroberungsprogramm? Hier erfahren Sie es.

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Väter sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Und das ist gut so. Denn immer mehr Väter beteiligen sich aktiv an der Erziehungsarbeit ihrer Kinder, sie übernehmen neue Rollen. Klingt gut, oder? Aber jetzt kommt Margrit Stamm und sagt: Das können die Väter nur, wenn sich auch die Mütter ein Stück weit verändern. Ja, wie denn, bitte? Das hat die Schweizer Erziehungswissenschaftlerin meiner Kollegin Claudia Hamburger erklärt.

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Ich habe da mal eine Frage: Apple oder Android? Im Ernst: Was ist das bessere Betriebssystem für ein Smartphone? Über diese Frage streiten sich ganze Familien. Und meist sind die Meinungen ziemlich starr. Unserem Autor Adrian Smiatek (iPhone-Nutzer) haben wir die schwierige Aufgabe gestellt, möglichst neutral über die Vor- und Nachteile beider Systeme zu schreiben. Gegengelesen wurde sein Vergleich – ganz neutral – von meinen Kollegen Laura Stresing (Android) und Helge Denker (iPhone). So, und nun urteilen Sie bitte selbst, welches System SIE besser finden.

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WAS AMÜSIERT MICH?

In einigen Ausgaben des gestrigen Tagesanbruchs fehlte das Schmankerl zum Abschluss, deshalb spendiere ich Ihnen heute gleich zwei: Unser Cartoonist Mario Lars weiß nämlich erstens, was sich in Herrn Maaßens Kopf zuträgt, und zweitens, warum die von der SPD propagierte Mietpreisbremse bestimmt super wirken wird:

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag. Lassen Sie sich nicht von den düsteren Nachrichten verdrießen und seien Sie gewiss: Es gibt Millionen Menschen in unserem Land, die genauso zuversichtlich, friedliebend und mit beiden Beinen in der Mitte der Gesellschaft stehen wie Sie.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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