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Tagesanbruch: Lügen und Hass im Internet – ein Fall für das Staatsoberhaupt


Was heute wichtig ist
Jetzt spricht die Nummer eins

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 06.05.2019Lesedauer: 6 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Bundespräsident Frank Walter Steinmeier.Vergrößern des Bildes
Bundespräsident Frank Walter Steinmeier. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Es gibt mehr als einen Weg, einen Krieg zu befeuern. Eine Invasion zum Beispiel bringt das Blutvergießen in Gang. Ein Rückzug aber auch. Die britische Expeditionsstreitmacht, die 1839 Kabul besetzte, warf einige Jahre später das Handtuch und zog ab. Auf dem Weg in die sicheren Gefilde des Empire wurden die Soldaten niedergemacht, kaum einer überlebte. Seitdem haftet Afghanistan der Ruf an, für Fremde in Uniform eine Hölle ohne Wiederkehr zu sein.

Wenn nun die Länder des Westens, allen voran die kriegsmüden Amerikaner, einen gesichtswahrenden Weg aus dem afghanischen Schlamassel suchen, wird sich der Blick eher auf die jüngere Vergangenheit richten. Mut macht auch die nicht. Unvergessen das Schicksal der Sowjets, die siegessicher einmarschierten, ihr Vietnam und ihr Waterloo zugleich erlebten, schließlich geschlagen abzogen – doch dann ging das Gemetzel erst richtig los: Warlords griffen nach der Macht, gleichzeitig und jeder gegen jeden. Kabul sank während der Belagerung durch eine islamistische Miliz in Schutt und Asche.

Nun würden Donald Trump und seine Generäle nur zu gern zur Operation "Schlanker Fuß" ansetzen. US-Unterhändler verhandeln dafür in Katar mit den Taliban. Zugleich ging in Kabul soeben die Loja Dschirga zu Ende, eine große beratende Versammlung, in der vom Stammesführer bis zum Mullah ein beträchtlicher Teil der afghanischen Gesellschaft vertreten ist. Einen Waffenstillstand wünscht sich die Versammlung als ersten Schritt, doch darüber wollen die Taliban erst diskutieren, wenn die Nato mit Mann und Maus das Land verlassen hat. Soll sie?

Für die Nato taugt Afghanistan nicht zur Erfolgsgeschichte, aber zum Lehrstück. Die Allianz war mit gutem Grund einmarschiert: um al-Qaidas Nester auszuheben, um keinen Staat radikaler Islamisten zu dulden, der den Terroristen einen sicheren Hafen bietet und ihnen das Sprungbrett nach Westen auf die passende Länge sägt. Als wäre es nötig, dass wir uns diese Lektion noch besser einprägen, haben wir sie gerade noch einmal erfahren: im Irak und in Syrien, wo viel Blut fließen musste, um dem "Islamischen Staat" sein Territorium zu nehmen. Anderer Ort, gleiches Problem. Vor diesem Hintergrund erscheint ein Abzug aus Afghanistan nun kaum als gute Idee.

Denn die Risse in der Front, die sich den Taliban entgegenstellt, sind schon jetzt nicht zu übersehen. Wichtige Politiker wie Ex-Präsident Hamid Karzai haben die Loja Dschirga boykottiert. Die Versammlung wurde von einem Mann geleitet, der nicht mit Frauen spricht, früher Verbindungen zu Osama bin Laden pflegte und jenen nahe stand, die Kabul nach dem Abzug der Sowjets in Trümmer legten. So schließt sich der Kreis. Man kann die Zukunft Afghanistans schon mal mit seiner Vergangenheit durcheinanderbringen. Wenn wir uns komplett aus dem Land zurückziehen, könnte es uns ähnlich ergehen.

Ist das ein Plädoyer, den Afghanistan-Einsatz der Nato und der Bundeswehr fortzusetzen? Jein. In der jetzigen Form – ungeliebt, halbgar, ambitionslos – wird er wohl scheitern. Aber ohne importierte Sicherheitsstrukturen, in deren Schlepptau Hilfsorganisationen arbeiten und die zarten Pflänzchen der Zivilgesellschaft gedeihen können, droht das Land noch schneller zu dem zu werden, was es schon mal war: ein gescheiterter Staat, in dem jeder Warlord macht, was er will. Auch das ist ein Weg, einen Krieg zu befeuern.

WAS STEHT AN?

Die Digitalkonferenz re:publica gilt vielen als Deutschlands nettester Freilufttreff. Internetbegeisterte aus dem ganzen Land kommen im Innenhof eines ehemaligen Berliner Postbahnhofs zusammen, um zu klönen, Limo zu schlürfen und sich selbst zu beweihräuchern. Zwischendrin lauschen sie, falls sie einen Platz ergattern, den Rednern in den proppenvollen Vortragssälen. Die Auswahl der Referenten ist meist auf hohem Niveau, schon viele digitale Vordenker haben hier ihre Ideen vorgetragen.

Diesmal ist der wichtigste Redner allerdings weder Start-up-Unternehmer noch Programmierer noch Social-Media-Papst. Diesmal spricht Deutschlands Nummer eins: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält die Eröffnungsrede, was in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert ist. Erstens adelt er die aus der Berliner Kreativszene hervorgegangene Konferenz und verleiht ihr quasi das Siegel des Offiziellen. Zweitens nimmt er Kritik in Kauf, die mancher Digitaljünger an der Vereinnahmung durch die Politik vorbringt. Und drittens hat er wirklich etwas zu sagen.

Seit Beginn seiner Amtszeit beschäftigt Steinmeier die Frage, wie wir unsere Demokratie beleben können. Ein kriselndes Europa, erstarkende politische Radikalismen, visionslose Tagespolitik, Animositäten, Ruppigkeit bis hin zu Hass auf vielen Straßen und vor allem auch im Internet vergiften unsere Gesellschaft. Viel zu oft regiert der egoistische Imperativ: Ich! Will! Meinen! Willen! Durchsetzen! Koste es, was es wolle! Die Tugend, Widersacher so zu behandeln, dass man sie nach einem Konflikt wieder einbinden kann, die Akzeptanz der Pluralität, häufig ganz einfach auch die Toleranz gelten längst nicht mehr als Selbstverständlichkeiten. Dabei sind sie der Humus, auf dem eine starke Zivilgesellschaft gedeiht, die wiederum für eine lebendige Demokratie ebenso wichtig ist wie der Rechtsstaat.

Das bedeutet auch, dass wir Bürger die politischen Debatten nicht allein den Politikern überlassen dürfen. Wer sich von der Politik abwendet, der schadet unserer Demokratie und in letzter Konsequenz auch sich selbst. Zu einer gehaltvollen Debatte gehören allerdings fundierte Argumente, die auf Fakten basieren – und an diesem Punkt sehen wir das große Manko des Internets. 90 Prozent der Deutschen informieren sich im Web, und sehr viele tun dies ausschließlich in sozialen Netzwerken wie Facebook und YouTube. Viele merken noch nicht einmal, dass sie sich dort den raffinierten Filterblasen-Algorithmen der Digitalkonzerne aussetzen: Sie bekommen vorwiegend solche Informationen angezeigt, die ihr Weltbild bestätigen; Lügen und Gerüchte werden nicht von recherchierten und verifizierten Informationen unterschieden. Die Artikel von Verschwörungstheoretikern und Extremisten sind inzwischen so raffiniert aufbereitet, dass man ihre Fallstricke auf den ersten Blick kaum erkennt. Da wird der Klimawandel geleugnet, ein angeblich von der Bundesregierung betriebener "Bevölkerungsaustausch" zwischen Deutschen und Arabern herbeifantasiert oder ein Zusammenhang zwischen Impfen und Autismus behauptet. So entstehenden kollektive Mythen, die die Feindseligkeit nähren. 50 Zeilen Computercode haben die Kraft, die EU und die westliche Demokratie zu zerstören,meint der Forscher Stuart Russell von der University of California.

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Was tun die Regierenden hierzulande dagegen? Man hat den Eindruck, sie nehmen das Problem nicht ernst genug; befassen sich allenfalls gelegentlich damit. So können sich die Bosse der Digitalfirmen beharrlich weigern, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und Lügen, Bosheit und Verleumdung auf ihren Plattformen zu unterbinden. Zwar ließ Facebook-Chef Mark Zuckerberg Ende vergangener Woche die Seiten einiger Hassprediger sperren. Aber ob das mehr war als ein billiger PR-Trick, muss sich erst noch zeigen.

Was sich schon jetzt zeigt: Die Utopien der Internetbewegung, der Glaube, dass das Web allein eine demokratischere, egalitäre Gesellschaft befördere, haben sich nicht bewahrheitet. Man muss nicht gleich in Kulturpessimismus verfallen und digitale Dystopien an die Wand malen – den Untergang unserer Privatsphäre und die totale Überwachung durch Konzerne und Staaten –, aber eines sollte uns klar sein: Angesicht der universellen Bedeutung des Internets bleibt unsere Demokratie nur dann wehrhaft und stabil, wenn wir auch das Netz demokratisieren. Dafür braucht es mehr Regeln – und dabei sind alle gefordert: die Gesetzgeber, die Digitalkonzerne und wir Nutzer. In diesem Sinne, so ist aus dem Bundespräsidialamt zu hören, wird auch das deutsche Staatsoberhaupt heute argumentieren. Ein wichtiger Impuls, wie man ihn von der Nummer eins erwarten darf.


Der Weltartenschutzrat stellt heute in Paris einen Report zum globalen Zustand der Natur vor: Wie groß ist die Bedrohung durch Umweltverschmutzung, Klimakrise, Rodung und Ausrottung? Wir müssen uns auf einiges gefasst machen.


WAS LESEN?

In der DDR war sie ein Star: Dagmar Frederic moderierte "Ein Kessel Buntes", sang und tanzte. Auch heute steht sie noch auf der Bühne – und spricht frank und frei über ihre Karriere im Arbeiter- und Bauernstaat. Wie sieht sie das wiedervereinigte Deutschland? Das hat sie meinen Kollegen Marc von Lüpke, Martin Trotz und Arno Wölk erzählt.


Rente, Immobilien, Versicherungen: Was ist die beste Vorsorge? Meine Kolleginnen Sabrina Manthey und Claudia Hamburger haben einen gefragt, der es wissen muss: Hubertus Primus leitet die Stiftung Warentest. Hier sind seine Antworten.


"Hello again" – wissen Sie noch? Okay, dann dies: "Tür an Tür mit Alice" – klingelt’s jetzt? Genau, das ist die Sprache von Howard Carpendale. Mit seinen Hits hat er Millionen begeistert. Dass er auch ein politischer Mensch ist, wissen die Wenigsten. Meinen Kollegen Luca Cordes und Jerome Baldowski hat der 73-Jährige Launiges über seine Begegnungen mit Donald Trump berichtet.

WAS AMÜSIERT MICH?

In der Bahn, am Frühstückstisch, im Büro: Alle wischen ständig auf ihren Smartphones herum. Voll nervig. Wir machen uns echt zum Affen!

Ich wünsche Ihnen einen selbstbestimmten Tag!

Ihr


Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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