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Die bitterste Corona-Erkenntnis: Deutschland ist nicht lernfähig


Tagesanbruch
Die bitterste Corona-Erkenntnis

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 01.06.2021Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Strategie dringend gesucht: Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzlerin Angela Merkel.Vergrößern des Bildes
Strategie dringend gesucht: Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzlerin Angela Merkel. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

heute schreibe ich für Sie den kommentierten Überblick über die Themen des Tages.

Bloß nicht aus Fehlern lernen

Als Donald Trump bereits einige Zeit US-Präsident war, machte in Berlin die vielleicht treffendste Charakterisierung des damals mächtigsten Politikers der Welt die Runde.

Diese sah so aus: Trump agiert nur situativ. Wenn er morgens aufsteht, fragt er sich, was er heute tun muss, damit er abends besser dasteht. Was dafür nötig ist, kann im Widerspruch zu seinem Handeln von gestern stehen, weil es ausschließlich darum geht, seine Position aus dem Moment heraus zu verbessern.

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Damals wirkte diese Beschreibung wie ein Kontrast zur deutschen Situation: Dort der US-Präsident, der nicht einmal bis zum nächsten Tag denkt. Und hier die Bundesregierung, die stets auch die großen Linien im Blick hat.

Vielleicht ist die deutsche Politik allerdings trumpiger, als sie es wahrhaben will.

Je länger die Pandemie dauert, desto deutlicher wird, dass die Bundesregierung zu häufig aus der Situation heraus agiert. Klar, das scheint geradezu zwangsläufig zu sein. Schließlich befinden wir uns in einer außergewöhnlichen Lage, einer Jahrhundertkrise. Einerseits.

Andererseits sind seit dem ersten offiziellen Corona-Fall in Deutschland inzwischen fast 500 Tage vergangen. Und es ist bald 15 Monate her, dass der erste Lockdown verhängt wurde.

Es soll hier nicht darum gehen, dass Deutschland zu Beginn überhaupt nicht auf Corona vorbereitet war. Das wäre eine ziemlich wohlfeile Kritik. Doch seither hätte ein Konzept, das halbwegs das Adjektiv "mittel- bis langfristig" verdient, nicht geschadet. Es hätte auch so etwas wie einer Strategie entsprochen, aus anfänglichen Fehlern wirklich Konsequenzen zu ziehen.

Traurige Lehren aus der Corona-Krise gibt es viele. Doch die vielleicht bitterste politische Erkenntnis lautet: Es scheint eine Lernunfähigkeit zu geben.

Das jüngste Beispiel dafür ist der mutmaßliche Betrug bei den Schnelltests. Natürlich braucht es kriminelle Energie – aber dass es jedem, der falsch abrechnen will, bislang außerordentlich leicht gemacht wurde, ist evident. Das Problem: Die Testzentren wurden im Frühjahr von jetzt auf gleich aus dem Boden gestampft. Gesundheitsminister Jens Spahn war derart unter Druck, dass er offenbar darauf verzichtete, wirksame Kontrollmechanismen zu etablieren. Hauptsache, es wird rasch überall getestet. Und weil ja der Bund bezahlte, haben sich andere Beteiligte wie die Länder nicht weiter gekümmert.

Allerdings war, lange bevor im März die große Abstrichaktion losging, absehbar, dass die Schnelltests eine wesentliche Rolle bei Lockerungen spielen würden. Spahn und sein Ministerium hätten sich also mit einem validen Konzept vorbereiten können. Und es wäre sogar noch ausreichend Zeit gewesen, es mit allen abzustimmen.

Zumal ein abschreckender Präzedenzfall existierte: Als es im Frühjahr 2020 unter anderem an Masken fehlte, kauften Bund und Länder alles auf, was auf den Weltmärkten zu finden war. Wie schamlos sich nicht nur einzelne Abgeordnete an dieser Not bereichert haben, ist inzwischen bekannt. Dass der Staat trotzdem zunächst fast alles tat, um an die Produkte zu kommen, ist angesichts des anfänglichen Überwältigungseffektes der Krise jedoch entschuldbar. Nicht entschuldbar ist dagegen, dass aus dem Fehler kaum jemand von Rang und Namen gelernt zu haben scheint.

Das gilt auch für Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Finanzminister Olaf Scholz. Bereits im ersten Lockdown bestand das Problem nicht darin, dass die Regierung zu wenig Geld zur Verfügung gestellt hätte. Nein, knauserig war sie in dieser Krise wirklich nur beim Impfstoff.

Schwieriger war es im Frühjahr 2020 allerdings, die wirklich Bedürftigen ausfindig zu machen und all die Hilfen an die Frau und den Mann zu bringen. Da wäre es sehr nützlich gewesen, die Minister – oder zumindest einer der mit strategischen Aufgaben Betrauten in ihrem jeweiligen Umfeld – hätten sich geschworen: Das darf nicht noch einmal passieren!

Zur sinnvollen Vorbereitung auf einen erneuten Lockdown hätte unter anderem gehört, über den Sommer die diversen Zielgruppen zu definieren, die finanzielle Unterstützung für sie zu konkretisieren und ein Tool zu programmieren, mit dem Hilfen rasch beantragt werden können.

Als der zweite Lockdown im November begann, herrschten jedoch allgemeine Überraschung in der Regierung und kollektive Ungewissheit bei den Betroffenen. Tatsächlich startete die reguläre Auszahlung der sogenannten Dezemberhilfe oft erst im Februar – auch, weil es lange dauerte, bis die "technischen Voraussetzungen" geschaffen waren. Wer zum Zynismus neigte, sagte sich: "Ach, das ging aber fix. Immerhin warte ich noch auf die Novemberhilfe."

Ungläubige Nachfragen, wie ein Hochtechnologieland so unvorbereitet in den zweiten Lockdown stolpern konnte, wurden auch mit dem Hinweis kleingeredet, es habe sich um eine Vorsichtsmaßnahme gehandelt. Es hätte nur zur Verunsicherung beigetragen, so das Argument, wenn die Regierung die nächste Zwangspause bereits geplant hätte. Selbst wenn man sich diese nur bedingt glaubwürdige Behauptung zu eigen machte, hieße das: Lieber nimmt die Regierung reales Chaos in Kauf, das alle überrascht, als sich auf ein mögliches Chaos halbwegs vorzubereiten.

Einen Fehler zu machen, ist menschlich. Beim zweiten Mal ist es Nachlässigkeit und beim dritten Mal Absicht, heißt es. Entsprechend wirkt das Kabinett zuweilen, als säßen dort auch Minister, die es selbst dann noch für eine gute Idee halten, auf eine heiße Herdplatte zu fassen, wenn sie sich die Hände dabei bereits verbrannt haben.

Das ist auch deshalb ärgerlich, weil ein besseres Krisenmanagement wahrlich kein Problem mangelnder Ressourcen ist. Das Kanzleramt und fast alle Ministerien sind in den vergangenen Jahren personell deutlich aufgestockt worden. Besonders beliebt war es, im Rahmen des allgemeinen Arbeitsbeschaffungsprogramms die Leitungsstäbe auszubauen. In Organigrammen finden sich verheißungsvoll klingende Referate wie "Politische Planung" oder "Strategische Planung". Auch die Worthülse Innovation wird gern untergebracht. Hinzu kommen zig Stabs- und Geschäftsstellen für dies und das.

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Einige dieser Einheiten haben durchaus den Blick nach vorn gewagt – aber offenbar vergebens. Es wirkt, als seien die aufgeblähten Ressorts eben doch im Wesentlichen dafür da, dass ihr Minister möglichst gut dasteht. Und zwar heute. Denn wer weiß schon, was morgen ist.

Na klar: Sie können jetzt sagen, so schlimm sei es doch gar nicht. In anderen Ländern würden die Dinge noch schlechter funktionieren. Das mag sein. Aber hätten wir unzählige erfolgreiche Unternehmen, wenn diese sich mit mittelmäßigen Produkten zufriedengäben, weil Konkurrenten vermeintlich noch miesere haben?

Best in class. Heute. Morgen. Übermorgen. Und auch danach. Das sollte der Anspruch der deutschen Politik sein. Sonst müssen wir uns um das, was Politiker gern Zukunftsfähigkeit nennen, bald wirklich mehr als nur ernsthafte Sorgen machen.


Corona, Corona, Corona

Auch dieser Dienstag steht im Zeichen des Virus und der Folgen der Pandemie:

  • Gesundheitsminister Jens Spahn und RKI-Chef Lothar Wieler informieren ab 10.30 Uhr über die aktuelle Entwicklung.
  • Bereits um 10 Uhr veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit die aktuellen Arbeitslosenzahlen.
  • Außerdem nimmt die EU-Schnittstelle für ein digitales Covid-Zertifikat offiziell den Betrieb auf. Das "EU Covid-19 Digital Certificate" ist der EU-weit anerkannte Nachweis für Impfungen, aktuelle Tests und überstandene Erkrankungen, der ab Anfang Juli Reisen in Europa erleichtern soll.

Klares Wasser, trübe Brühe

Ob Sie im Sommer ins benachbarte Ausland fahren oder Urlaub in Deutschland machen: Auf die Frage, wie es um die Wasserqualität der Seen, Flüsse und Küstengewässer steht, liefert Ihnen der "Badegewässerbericht der EU" Antworten. Die Europäische Umweltagentur stellt ihn am Mittag vor.


Das Grauen von Tulsa

US-Präsident Joe Biden gedenkt im Bundesstaat Oklahoma des rassistischen Massakers von Tulsa. Vor 100 Jahren zerstörten weiße Mobs im Stadtteil Greenwood, der auch als "Schwarze Wall Street" bezeichnet wurde, unzählige von Schwarzen betriebene Unternehmen. Hunderte Häuser gingen in Flammen auf, Dutzende Menschen wurden getötet.


Was lesen?

Es ist ein wegweisendes Urteil: Der Bundesfinanzhof hat am Montag die bisherige Berechnungsgrundlage für die Besteuerung der Renten gekippt. Was aber folgt daraus für die heutigen und zukünftigen Rentner? Mein Kollege Mauritius Kloft hat alles, was Sie wissen müssen, zusammengetragen – und nach dem Urteil mit einem der Kläger gesprochen. Unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld analysiert, wie die Gerichte die Politik in der Rentenfrage vor sich hertreiben.


80 Jahre ist es her, seit die Wehrmacht mit der Einnahme Kretas die Eroberung Griechenlands abschloss. Bis heute belastet die Frage nach Reparationen für die nationalsozialistische Besatzungsherrschaft das Verhältnis von Griechenland und Deutschland. Immer wieder war es unter deutscher Herrschaft etwa zu Massakern an griechischen Zivilisten gekommen, auch dort verfolgten die Nationalsozialisten die Juden unerbittlich. Besteht deswegen auch heute noch ein Anspruch auf Reparationen an Deutschland? Nein, sagt der Historiker Heinz A. Richter im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke. Es wurde fast ein Streitgespräch, denn Richters Standpunkt ist umstritten.


Christoph Schwennicke kenne und schätze ich schon lange. Der ehemalige Chefredakteur des "Cicero", der auch beim "Spiegel" und der "Süddeutschen Zeitung" arbeitete, ist einer der profundesten Kenner des Berliner Politikbetriebs. Deshalb freue ich mich, dass wir ihn als Kolumnisten gewinnen konnten. Wie er tiefe Recherche mit großer Meinungsfreude kombiniert, beweist er mit seiner Herleitung, warum er glaubt, dass Annalena Baerbock im Herbst nicht Kanzlerin wird.

Und falls Sie – nach dem Gastbeitrag von Gerhard Schröder am vergangenen Freitag – denken, hier sei doch langsam eine Anti-Grünen-Kampagne im Gange: nein. Das ist einfach das Thema, das beide Autoren im Moment umtreibt. Es wird auch wieder andere geben.


Was mich amüsiert

Leider habe ich zu Beginn ja nicht die allerbeste Stimmung verbreitet. Sorry! Deshalb will ich Sie mit einem Cartoon verabschieden, der dem schönen Wetter besser Rechnung trägt.

Denken Sie heute vor allem an etwas, das Ihnen Freude macht!

Morgen schreibt an dieser Stelle mein Kollege Peter Schink für Sie.

Ihr

Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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