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Tagesanbruch: Der Westen sollte Selenskyj genau zuhören


Tagesanbruch
Der Westen sollte ihm genau zuhören

MeinungVon Camilla Kohrs

11.03.2022Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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Wolodymyr Selenskyj: Er fordert den Westen auf, die Kraft des Völkerrechts wiederherzustellen.Vergrößern des Bildes
Wolodymyr Selenskyj: Er fordert den Westen auf, die Kraft des Völkerrechts wiederherzustellen. (Quelle: Ukrainian Presidential Press Office/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wie gern hätte ich Ihnen heute geschrieben, dass sich die Lage in der Ukraine verbessert. Doch die – zumindest mit etwas Hoffnung erwarteten – Verhandlungen zwischen den Außenministern beider Staaten gingen gestern ohne Ergebnis zu Ende.

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Schlimmer noch: Der russische Außenminister Sergej Lawrow zeigte sich in den Gesprächen nicht einmal bereit, die Positionen seines Landes zu verhandeln – und hielt daran fest, Offensichtliches zu leugnen. "Wir haben nicht die Ukraine überfallen", sagte Lawrow in seiner fast einstündigen Pressekonferenz. Anzeichen von Kompromissbereitschaft: Null.

Es ist schwer auszuhalten: Während Städte zerbombt werden, Menschen sterben, fliehen und ihre Heimat verlieren, spulen Russlands Präsident Wladimir Putin, Lawrow und Konsorten immer wieder dieselbe Leier ab. Sie scheinen kein Stück bereit, von ihren Maximalforderungen abzuweichen.

Man darf sich nichts vormachen: Stimmt die Ukraine all diesen Bedingungen zu, ist ihre Zeit als souveräner Staat vorbei. "Man kann Kompromisse eingehen, aber diese dürfen nicht der Verrat meines Landes sein", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview mit der "Bild" dazu.

Nicht nur der "Bild", auch der "Zeit" gab Selenskyj in dieser Woche ein Interview. Und es lohnt sich, genau anzuschauen, was er dort sagt. Drei Beispiele:

"Was Russland nun mit der Ukraine macht, das werden andere Staaten mit ihren Nachbarn wiederholen wollen. Daher ist die Verteidigung der Ukraine und die Hilfe des Westens in Wirklichkeit eine globale Antikriegsaktion. Alle potenziellen Angreifer der Welt sollten wissen, was sie erwartet, wenn sie einen Krieg beginnen."

"Putins Angriff hingegen ist ein Signal an die ganze Welt: Garantien funktionieren nicht, selbst wenn die Stärksten der Welt sie unterzeichnet haben. (…) Wer in aller Welt hofft da noch auf die Macht von Verträgen? Deswegen würde eine strenge Bestrafung Russlands die Wiederherstellung der Kraft des Völkerrechts bedeuten. Der Westen ist dazu in der Lage."

"Wissen Sie, es gibt so bestimmte Werte, die man sehr schwer erklären kann, bis man im eigenen Land einen Krieg hat. Dann denkst du nicht mehr an die Reformen. (…) Nicht an Preiserhöhungen auf Gas oder Strom. Du denkst nicht mehr daran, dass du sparen willst, um in den Urlaub zu fahren. (…) Der wahre Wert des Lebens ist, dass du lebst, dass du nicht ermordet wirst. Und das muss Europa tun: das einfache Leben verteidigen und auch die wahren Werte auf den ersten Platz stellen."

Natürlich muss man nicht mit jeder Forderung Selenskyjs übereinstimmen, etwa der nach einer Flugverbotszone. Warum diese dramatische Auswirkungen haben könnte, hat meine Kollegin Liesa Wölm zusammengefasst. Allerdings – und das wird besonders deutlich – haben die westlichen Staaten nicht nur eine moralische Verantwortung, dem Land zu helfen. Es steht deutlich mehr auf dem Spiel. Selenskyjs Worte können auch als Warnung begriffen werden.

Ein erklärtes Ziel von Putin ist es, die westlichen Staaten zu spalten. Zu Beginn des Angriffes haben sie sich einig gezeigt wie lange nicht mehr. Schon jetzt aber treten Differenzen offener zutage. Ebenfalls nicht hilfreich ist das Heckmeck um die Kampfjets, die Polen und die USA eventuell, vielleicht oder lieber doch nicht der Ukraine liefern wollen (mein Kollege Bastian Brauns hat die Details für Sie). Ein uneiniger Westen aber wäre Gift für die Ukraine – und könnte Russland weiter ermutigen. Dass die EU-Staaten hinter der Ukraine stehen, könnten sie bei ihrem Gipfel heute untermauern und der Ukraine eine konkrete Beitrittsperspektive bieten. Auch bei den Sanktionen darf der Westen nicht lockerlassen: Jede russische Eskalation sollte mit neuen Maßnahmen oder auch Waffenlieferungen an die Ukraine beantwortet werden. Das Bombardement einer Geburtenklinik müsste dafür Anlass genug sein.

Dieser Krieg wird wohl noch andauern und mit der Zeit wird auch unsere Gesellschaft die Auswirkungen immer stärker zu spüren bekommen. Noch funktioniert die Verteilung der Geflüchteten. Aber was, wenn noch viele weitere Menschen kommen und die Freiwilligen das nicht mehr abfedern können? Oder wenn kein Gas mehr durch die Leitungen fließt? Selbst wenn die Bundesregierung ein Gasembargo derzeit ablehnt – allein in ihrer Gewalt liegt es nicht. Der Kreml weiß, wie abhängig Deutschland ist und könnte das nutzen. Der öffentliche Druck auf die westlichen Regierungen könnte dann steigen. Auf keinen Fall aber darf die ukrainische Regierung dazu gedrängt werden, einem Friedensvertrag zuzustimmen, mit dem sie ihren souveränen Status aufgibt. Das wäre ein Freibrief für künftige Überfälle.

► Gegen Russland wird bereits wegen Kriegsverbrechen ermittelt – ein gutes Zeichen. Es ist wichtig, dass diese Untersuchungen nun mit Nachdruck vorangetrieben werden und zu Anklagen führen. Dass das Völkerrecht – festgeschrieben nach den Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkrieges – aber an Durchschlagskraft verloren hat, ist auch die Schuld des Westens. Das zeigt sich allein am Beispiel des Irakkriegs. Die dort begangenen Kriegsverbrechen wurden kaum verfolgt. Nach dem Folterskandal im Gefängnis Abu Ghraib etwa erhielten nur einige niederrangige Soldaten milde Strafen. Whistleblower, die Kriegsverbrechen veröffentlichten, werden hingegen noch immer verfolgt. Diese Doppelmoral macht den Westen unglaubwürdig. Auch wenn vergangenes Unrecht nicht gut gemacht werden kann, ein Zeichen können die Staaten setzen: Etwa mit einer transparenten Aufarbeitung und einem Verzicht darauf, Whistleblower wie Julian Assange anzuklagen.

Natürlich ist es auch richtig und wichtig, die Gesprächskanäle zu Putin offenzuhalten, um ihm – wenn er bereit ist – einen Ausweg anbieten zu können. Der Illusion hingeben, dass Putin an einer schnellen Lösung interessiert ist, sollte man sich allerdings nicht.


Die weiteren Termine

Noch bis Samstag besucht Außenministerin Annalena Baerbock Staaten des Westbalkans. Ihre Mission: Sie wirbt dafür, dass die Staaten sich Richtung Europa orientieren – und nicht nach Russland.

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Die Agrarminister der sieben wichtigsten Industrienationen beraten sich heute zu den Auswirkungen des russischen Angriffs auf die Ukraine. Das Land ist einer der größten Produzenten von Getreide, wegen des Angriffs schießen nun die Preise in die Höhe. Am Nachmittag informiert der deutsche Minister Cem Özdemir über die Ergebnisse des Sondertreffens und stellt erste Maßnahmen zur Unterstützung der deutschen Landwirtschaft vor.

Die Corona-Inzidenzen steigen wieder, aber auch weitere Lockerungen stehen bevor. Am Vormittag informieren RKI-Chef Lothar Wieler und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach über die aktuelle Situation.


Was lesen?

Zum Krieg in der Ukraine gibt es wieder ein umfangreiches Programm:

Die Verhandlungen in der Türkei galten als Hoffnungsschimmer. Russland brachte aber nur einen Haufen neuer Lügen und Zynismus mit nach Antalya, kommentiert mein Kollege Patrick Diekmann.

Die Kollegen Fabian Reinbold und Johannes Bebermeier erklären, warum sich die Bundesregierung gegen ein Embargo für russisches Öl und Gas stemmt.

Während die Regierung nur schwer vom russischen Gas wegkommt, wird der Aufruf zum Energiesparen lauter. Ob man so Putins Kriegskassen austrocknen kann, berichten meine Kollegen Theresa Crysmann und Johannes Bebermeier.


Groß, größer, gigantisch. Nur so lassen sich die Ausmaße dessen erfassen, was die Amerikaner in den Dreißigerjahren in die Wüste bauten. Worum es sich handelte, erfahren Sie hier.


Die Spritpreise explodieren: Was tun nun die Menschen, die ohne ihr Auto nicht auskommen können? Unser Reporter Gregory Dauber hat sich an einer Tankstelle in Hamburg umgehört.


Was amüsiert mich?

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Freitag und dann einen schönen Start ins Wochenende.

Morgen hören Sie im Podcast meine Kollegin Miriam Hollstein mit den Kollegen Sven Böll und Sebastian Späth.

Ihre

Camilla Kohrs
Redakteurin Politik/Panorama
Twitter: @cckohrs

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Mit Material von dpa.

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