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Holocaust-Überlebender in Prozess: "Seien Sie mutig, wenigstens jetzt"


Einjährige Nichte tot
KZ-Überlebender zu Wachmann: "Sie sind 100-mal älter geworden"


Aktualisiert am 06.11.2021Lesedauer: 5 Min.
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Emil Farkas: Der Überlebende des KZ Sachsenhausen sagte vor dem Landgericht Neuruppin aus. Der Prozess findet in Brandenburg an der Havel statt.Vergrößern des Bildes
Emil Farkas: Der Überlebende des KZ Sachsenhausen sagte vor dem Landgericht Neuruppin aus. Der Prozess findet in Brandenburg an der Havel statt. (Quelle: Christophe Gateau/dpa)

Im Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Wachmann hat ein Überlebender ausgesagt. Der 92-jährige Emil Farkas entkam der Todesmaschinerie der Nazis. Nun hat er dem mutmaßlich beteiligten Josef S. direkt ins Gesicht gesehen – und eine Forderung gestellt.

Emil Farkas war lange still. Der Holocaust-Überlebende hatte mehr als 75 Jahre keine Worte für das, was er während des Nationalsozialismus als Jude erlebt hat. Nun hat er zum ersten Mal in einem Prozess gegen einen früheren Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen sein Schweigen gebrochen. "Ich konnte nicht reden, ich war stumm, jahrzehntelang."

Mit einem Dolmetscher und dem Mann seiner Enkeltochter betritt er am Donnerstagmorgen den Gerichtssaal in Brandenburg an der Havel. Auf der Anklagebank hat Josef S. bereits Platz genommen. Dem 100-Jährigen wird Beihilfe zum Mord in mehr als 3.500 Fällen im KZ Sachsenhausen vorgeworfen. Er hört den Ausführungen von Farkas genau zu, wippt hin und wieder mit seinem Oberkörper leicht nach vorn. Kaum eine Regung ist erkennbar.

"Wir waren nicht reich, aber wir waren glücklich"

Vor Gericht wird an diesem Tag eine Erklärung von Emil Farkas, 92 Jahre alt, verlesen. Sie ist auf hebräisch verfasst. Farkas lebt schon lange in Israel. Er war ein sportbegeisterter Junge, der schnell ein Talent für das Turnen entwickelte. Mit seinen Geschwistern und seinen Eltern – die Mutter Krankenschwester, der Vater Inhaber eines Geschäfts für orthopädische Schuhe – lebte er ein gutes Leben. "Wir waren nicht reich, aber wir waren glücklich", erzählt er im Prozess.

Doch 1941 begann in seiner Heimat, der damaligen Slowakischen Republik, die Verfolgung der Juden. Er erinnert sich, dass er stolz den gelben Judenstern auf seiner Kleidung getragen hat. Die genaue Bedeutung kennt der kleine Emil damals nicht. Bald werden die Einschränkungen und Verbote immer mehr, Farkas und seine Brüder schneiden sich ihre Schläfenlocken ab. Schließlich wird die Familie in unterschiedliche Lager deportiert. "Wir alle kämpften ums nackte Überleben", sagt der heute 92-Jährige. In diesem ersten Lager sei die "Monotonie aus Zwang und Angst" und natürlich der "Verlust der Freiheit" am schlimmsten gewesen.

Noch heute erinnert sich der Überlebende an die Deportationen, immer wieder in andere Lager. Immer wieder wie Tiere eingepfercht in Waggons. Farkas und sein Bruder werden von der Mutter getrennt. Wo der Rest der Familie ist, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand, "Ich höre immer noch meine Mutter, die ruft: 'Halte durch! Sei stark! Wir sehen uns wieder!'" Diese Worte seien es auch gewesen, die ihn immer wieder bestärkten, nicht aufzugeben. Das Ziel des Zugs ist diesmal das KZ Sachsenhausen.

Angekommen im Lager wird die Gruppe von SS-Wachmännern auf den Appellplatz geführt. Dort sind Fußballtore aufgestellt, an ihren Pfosten hängen tote Häftlinge. Dann hinein in eine Baracke, die Kleidung fort, bald auch die Haare. "Mir wurde die Nummer 119512 eintätowiert, meinem Bruder die 119513." Eine oder zwei Nächte habe Farkas noch mit seinem Bruder zusammen in einer Baracke gelebt, dann sei der Bruder weggeschickt worden, um in einer Fabrik für Siemens zu arbeiten.

Auch Emil Farkas muss zum Arbeitseinsatz. Er gehört den Schuhläufern an. Leder ist damals knapp, deshalb brauchen große Unternehmen Ersatzstoffe. Die Häftlinge im KZ Sachsenhausen müssen mit diesen Schuhen aus Ersatzmaterial täglich viele Kilometer laufen, mindestens zehn Stunden lang. Die Tage sind fast immer gleich. Farkas steht früh auf, trinkt etwas Wasser, isst ein kleines Stück Brot und beginnt noch vor seinem Einsatz, ein wenig zu turnen. "Ich nahm etwas Schnee, um mich wenigstens ein bisschen sauber zu machen. Dann ging es los mit dem Turnen. Nur so fühlte ich mich frei", erzählt er. Die Leidenschaft für den Sport hat er sich bis heute bewahrt.

Noch heute ist in der Gedenkstätte Sachsenhausen dieses Oval, auf dem Emil Farkas seine Runden lief, zu sehen. Direkt vor dem Turm A, in dem sich das Eingangstor mit dem Schriftzug "Arbeit macht frei" befindet. Von dort aus hatten die Wachmänner ein freies Schussfeld. Rund um die Uhr beobachtete die SS das Geschehen, ihre Maschinengewehre stets auf die Häftlinge gerichtet. Stets bereit. Farkas spricht von Toten durch Erschöpfung, Unterernährung, von "Todesmärschen". Ein Elektrozaun war damals um einen Teil des Lagers, das innere Dreieck, gespannt. Farkas musste mit ansehen, wie sich drei Jugendliche in den Zaun stürzten. "Sie haben sich dadurch befreit", sagt er.

Überlebender stimmt kurz ein Lied an

Während dieser Schuh-Test-Läufe mussten die Häftlinge deutsche Lieder singen. Plötzlich stimmt Emil Farkas im Prozess das Lied "Erika" an. Fast in vergnügter Tonlage singt er wenige deutsche Worte. Das Lied wird er wohl niemals vergessen. Doch dann wird seine Stimme wieder tief, sein Blick ernst. An den angeklagten Josef S. gerichtet sagt er: "Sie haben mich im Schuhläuferkommando im Lager gesehen und Sie haben mich gehört, denn wir mussten beim Marschieren das Lied von Erika singen." Der Angeklagte reagiert auf die direkte Ansprache nicht. "Ist Ihnen Ihr dunkles Geheimnis so viel wert, dass Sie sich nicht entschuldigen können für Ihren Beitrag zu meinem Leid?", fragt Farkas. Als der Übersetzer die Worte des Überlebenden auf Deutsch wiederholt, bricht seine Stimme, er weint. Im Saal ist es so still, wie womöglich noch nie seit Verhandlungsbeginn.

Zu Beginn des Prozesses hatte Josef S. erklärt, er wolle sich zu den Vorwürfen nicht äußern. Nur einen Satz sagte er bislang: "Ich bin unschuldig." Der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann hat den Angeklagten allerdings am Freitag in der Verhandlung aufgefordert, über seine Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs auszusagen. Der 100-Jährige hat erklärt, dass er nicht in Sachsenhausen, sondern in der litauischen Armee war.

Doch wenn er tatsächlich im KZ Sachsenhausen als Wachmann tätig war, ist es unmöglich, dass er von den Massentötungen nichts gewusst hat. Horst Seferens von der Gedenkstätte Sachsenhausen ist sich sicher, dass das nicht sein kann. Etwa 3.000 Wachmänner wohnten in Kasernen neben dem KZ, erhielten regelmäßig Erschießungsbefehle.

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Josef S. soll im Totenkopf-Bataillon gewesen sein. Seferens kennt die einzelnen Posten genau. "Die Wachtruppen führten auch Todesschüsse aus", sagt er. Tausende SS-Männer seien im KZ Sachsenhausen zudem ausgebildet worden. Und wie lernt man die Todesmaschinerie der Nazis am besten?

"Selbst die Oranienburger hörten die ständigen Schüsse." Als es 1941 zum größten Massenmord an etwa 12.000 sowjetischen Gefangenen kam, rauchte der Schornstein des Krematoriums wochenlang. Damals war Josef S. noch nicht in Sachsenhausen tätig, doch diese Morde beschreiben den Anfang der Tötungen in dem Lager, die Folter, den Ausbau der Massenvernichtungs-Möglichkeiten und das Regime, das dort herrschte. Josef S. soll 1942 gekommen sein.

Nach der Zeit im KZ Sachsenhausen wurde Emil Farkas erst nach Bergen-Belsen, dann nach Dachau deportiert. 1945 wurde er dort befreit. "Durch einen Zufall wurde ich gerettet und andere nicht. Nur so kann ich es mir erklären." Er fand seine Mutter in Prag, auch sein Bruder und sein Vater überlebten den Krieg. Seine Schwester und ihre damals einjährige Tochter, die Erika hieß wie in dem Lied, überlebten nicht. "Sie sind 100-mal älter geworden", sagt Farkas zu dem Angeklagten. "Seien Sie mutig, wenigstens jetzt."

Verwendete Quellen
  • Prozess gegen einen 100-jährigen KZ-Wachmann in Brandenburg an der Havel am 04. November 2021
  • Besuch des Konzentrationslagers Sachsenhausen, Gespräch mit Horst Seferens
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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