Ampel vor dem Abpfiff
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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FΓΌr FuΓballer gibt es in der Halbzeit Pausentee und eine Ansage des Trainers: FΓΌhrt die Mannschaft, spornt er sie an. Liegt sie hinten, setzt es eine Standpauke. Damit die Spieler in der zweiten HΓ€lfte Gas geben und das Spiel noch drehen.
KΓΆnnen die AmpelkoalitionΓ€re ihr Spiel noch drehen? Zwei Jahre ist die Bundestagswahl morgen her, SPD, GrΓΌne und FDP bildeten ein Team, das sie hochtrabend "FortschrittsbΓΌndnis" nannten. Von Grund auf erneuern wollten sie das Land nach den zΓ€hen Merkel-Jahren und der Corona-Weltkrise. Stattdessen eiert die rot-grΓΌn-gelbe Regierungsmannschaft zur Halbzeit der Legislaturperiode angeschlagen ΓΌber den Platz. Nach politischen Kriterien bemessen liegt das Team von Bundestrainer β¦ pardon -kanzler Olaf Scholz mit 2:6 Toren hinten. Auf den erfolgreichen Beginn folgte der Absturz. So fielen die Tore:
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1:0: In der Sozialpolitik erhΓΆhten die KoalitionΓ€re den Mindestlohn und verwandelten Hartz IV ins BΓΌrgergeld. Das freut viele Geringverdiener.
2:0: Nach Putins Angriff gaben Scholz und sein Team die richtigen Antworten β Schulterschluss mit den USA und den EU-Partnern, Bundeswehr-AufrΓΌstung, Gas- und Strompreisbremse. Gut gemacht.
Doch dann hagelte es ein Gegentor nach dem anderen:
2:1: Beim Mammutprojekt Klimaschutz braucht das Scholz-Team eigentlich gar keinen Gegner, denn es spielt gegen sich selbst. Riesenzoff ums Heizungsgesetz und VerwΓ€sserung der Sektorenziele: ein klassisches Eigentor.
2:2: In der Verkehrspolitik reichte es zwar fΓΌr das Deutschlandticket β doch beim E-Tankstellennetz, der Bahn-, Autobahn- und BrΓΌckensanierung geht es kaum voran. Millionen Pendler Γ€rgern sich jeden Tag darΓΌber.
2:3: Das Einwanderungsrecht haben die Ampelleute zwar erleichtert, auch wurden mehr als eine Million Ukrainer unkompliziert aufgenommen. Doch gegen die irregulΓ€re Migration findet die Regierung bislang kein wirksames Mittel, weder an den nationalen Grenzen noch mit den EU-Partnern. Kein anderes Thema besorgt die BundesbΓΌrger gegenwΓ€rtig so sehr wie dieses.
2:4: FΓΌr den deutschen Bildungsnotstand werden gern die BundeslΓ€nder verantwortlich gemacht β aber nur die Bundesregierung kΓΆnnte den Gordischen Knoten durchschlagen, indem sie einen nationalen Krisenplan entwirft. Werden die Schulen in der viertgrΓΆΓten Wirtschaftsnation der Welt endlich zeitgemÀà ausgestattet? Fehlanzeige.
2:5: Die Worte Digitalisierung und Deutschland sind mittlerweile Antonyme. Die Misere ist so groΓ, dass sich kein weiteres Wort darΓΌber lohnt.
Die Quittung fΓΌr ihren RΓΌckstand und ihren mannschaftsinternen Dauerzoff bekommen die Ampelleute in den Umfragen serviert. Die jΓΌngste stammt vom Wochenende und ist besonders bitter: Auf gerade mal noch 37 Prozent Zustimmung kommen die drei Regierungsparteien β der niedrigste Stand seit der Bundestagswahl. Damals lagen sie bei 52 Prozent. Das Publikum buht und verlΓ€sst in Scharen das Stadion.
Doch das Spiel geht weiter β und zack, bekommt das Scholz-Team den nΓ€chsten DΓ€mpfer verpasst, schon steht es 2:6: 400.000 neue Wohnungen pro Jahr hatten die Ampelleute versprochen, 100.000 davon sollten Sozialwohnungen sein. So wollten sie den grassierenden Wohnraummangel vor allem in GroΓstΓ€dten bekΓ€mpfen. Der Plan ist gescheitert. Zwei Jahre nach dem Ampel-Anpfiff ist das Problem grΓΆΓer als je zuvor.
Bundesweit fehlen mehr als 700.000 Wohnungen β so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr. Am stΓ€rksten betroffen sind die Metropolen Berlin, Hamburg und KΓΆln, aber auch in 70 weiteren StΓ€dten herrscht akute Wohnungsnot. Mieterbund-PrΓ€sident Lukas Siebenkotten warnte schon zu Beginn des Jahres vor einem "ungeahnten Desaster auf dem Wohnungsmarkt". Seither hat sich die Situation verschlimmert; in diesem Jahr werden wohl hΓΆchstens 200.000 neue Wohnungen entstehen.
Besonders dramatisch ist das Fehlen von Sozialwohnungen: Ende der 1980er-Jahre gab es noch vier Millionen β heute sind es nur noch gut eine Million. Dabei hΓ€tten mehr als elf Millionen Haushalte aufgrund niedriger Einkommen Anspruch darauf.
Die GrΓΌnde fΓΌr den Mangel sind vielfΓ€ltig. Die BevΓΆlkerung wΓ€chst. Immer mehr Menschen ziehen in StΓ€dte. Bauen wird durch einen Dschungel aus bΓΌrokratischen Vorschriften erschwert. Durch die Inflation sind Materialpreise in die HΓΆhe geschossen, die hohen Zinsen tun das ihre. Politische Fehlentscheidungen kommen hinzu: Viele Kommunen haben ihren Wohnbestand in den vergangenen Jahrzehnten privatisiert und Spekulanten TΓΌr und Tor geΓΆffnet. Heute kΓΆnnen sich Durchschnittsverdiener eine Wohnung in den InnenstΓ€dten von MΓΌnchen, Hamburg, Frankfurt oder DΓΌsseldorf kaum noch leisten. Auch der Zuzug der FlΓΌchtlinge hat die Lage verschΓ€rft: Vor allem Ukrainer ziehen lieber nach Berlin oder Hannover als nach Schwerin oder Salzgitter, wo es noch freie Wohnungen gibt.
Die meisten dieser GrΓΌnde hat die Ampelkoalition nicht zu verantworten. Ankreiden kann man ihr aber, dass sie nicht lΓ€ngst einen Notfallplan erarbeitet hat, um das rasant zunehmende Problem einzudΓ€mmen. Bauministerin Klara Geywitz (SPD) hat bis jetzt keinen FuΓ auf den Platz bekommen, irrlichtert zwischen Kabine und TribΓΌne umher, statt in den Strafraum zu stΓΌrmen. Gerade einmal 14,5 Milliarden Euro bis zum Jahr 2026 konnte sie Finanzminister Christian Lindner (FDP) fΓΌr den Bau von Sozialwohnungen abtrotzen. De facto brΓ€uchte es eher 50 Milliarden, wie MieterverbΓ€nde vorrechnen.
In ihrer Not greifen viele StΓ€dte zu unkonventionellen Mitteln: In Hamburg sollen BΓΌrger leerstehende Wohnungen in einem Petz-Portal melden. Frankfurt und Darmstadt verhΓ€ngen BuΓgelder von bis zu 25.000 Euro, wenn Vermieter ihre Objekte nur als Ferienwohnungen anbieten, statt Leute dauerhaft einziehen zu lassen.
Kann die Ampelkoalition ihren politischen RΓΌckstand noch aufholen? Heute hat sie die Chance, wenigstens mal ein Tor zu schieΓen: Olaf Scholz lΓ€dt am Vormittag zum Wohnungsbaugipfel ins Kanzleramt. Gemeinsam mit seinen wichtigsten Ministern und der Wohnungswirtschaft will der Chef des Dreierteams "schnell mehr bezahlbaren Wohnraum" ermΓΆglichen. Es heiΓt, dabei sollten auch unkonventionelle Ideen auf den Tisch kommen. Gestern Abend berichtete der "Spiegel" zudem, die Bundesregierung habe ein MaΓnahmenpaket beschlossen, um die kriselnde Baukonjunktur anzukurbeln. Dringend notwendig wΓ€re es. Sonst wird der RΓΌckstand der Ampel-Mannschaft bald zweistellig. Oder das rot-grΓΌn-gelbe Spiel wird noch vor dem Ende der zweiten Halbzeit abgepfiffen.
Was heute noch ansteht
Die Lage im Kosovo ist angespannt. In den fast ausschlieΓlich von Serben bewohnten Norden des Landes ist eine militΓ€risch ausgerΓΌstete Kampftruppe eingedrungen. Sie lieferte sich ein Gefecht mit kosovarischen Polizisten, ein Beamter wurde getΓΆtet. MinisterprΓ€sident Albin Kurti macht Serbien verantwortlich. Beobachter fΓΌrchten, dass der ethnische Konflikt wiederaufflammt.

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Die deutsche Wirtschaft Γ€chzt unter Inflation und hohen Energiepreisen. Im Ifo-GeschΓ€ftsklimaindex erfahren wir heute, wie die 7.000 Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes, des Bauhauptgewerbes, des GroΓ- und Einzelhandels die Aussichten fΓΌrs kommende halbe Jahr einschΓ€tzen.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) beginnt eine mehrtΓ€gige Reise ins Baltikum. Dort ist die Furcht vor weiteren russischen Aggressionen besonders groΓ. In Litauen will Deutschland 4.000 Bundeswehr-Soldaten stationieren.
Gurke des Tages
Die Aktivisten der "Letzten Generation" wollen nicht mehr nur Autofahrer blockieren, sondern nun auch Jogger. Beim Berlin-Marathon starteten sie eine Protestaktion β dank reaktionsschnellen Polizisten erfolglos, wie meine Kollegen Rahel Zahlmann und Axel KrΓΌger zeigen.
Ohrenschmaus
Wie nennt man Leute, die andere beim Wettlauf stΓΆren? Ist doch klar wie KloΓbrΓΌhe.
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Jelena Kostjutschenko ist russische Journalistin und lebt im deutschen Exil. Vor einem Jahr erkrankte die Putin-Kritikerin schwer. Hat der Kreml versucht, sie umzubringen? Hier schildert sie ihre Erlebnisse.
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Die amerikanische Gesellschaft ist tief gespalten, Washingtons globale Macht schwΓ€chelt. Trotzdem sollte man die USA nicht abschreiben, warnt der Historiker Karl SchlΓΆgel im Interview mit meinem Kollegen Marc von LΓΌpke.
Das historische Bild
Harte Kerle bevΓΆlkerten einst den Wilden Westen. Doch auch starke Frauen schrieben dort Geschichte β so wie die MeisterschΓΌtzin Annie Oakley.
Zum Schluss
Wer den Wohnungsmangel lΓΆsen will, muss kreativ sein!
Ich wΓΌnsche Ihnen einen kreativen Tag.
Herzliche GrΓΌΓe
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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