"Wie sie versucht haben, mich umzubringen"
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Jelena Kostjutschenko ist russische Journalistin, Putin-Kritikerin und lebt im deutschen Exil. Im Herbst 2022 erkrankte sie dort schwer. Ihre BefΓΌrchtung: Der Kreml wollte ihren Tod. Ein Gastbeitrag.
Schon lange haben Wladimir Putin und sein Regime die Pressefreiheit in Russland demontiert, seit der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 nahm die Repression weiter zu. Aus dem Exil heraus versuchen verschiedene russische Journalistinnen und Journalisten, weiterhin objektiv zu berichten. Eine von ihnen ist Jelena Kostjutschenko, die mittlerweile in Deutschland lebt. Als sie im Herbst 2022 schwere gesundheitliche Probleme bekam, dachte Kostjutschenko zunΓ€chst an eine Corona-Erkrankung. Dann reifte ein anderer Verdacht: Hatte das russische Regime einen Giftanschlag auf sie verΓΌbt? Im Gastbeitrag schildert Kostjuschenko die Geschehnisse. Am kommenden 18. Oktober erscheint ihr Buch "Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben".
Aus dem Russischen ΓΌbersetzt von Maria Rajer.
Lange wollte ich diesen Text nicht schreiben. Es fΓΌhlt sich eklig, unheimlich und peinlich an. Ich kann hier nicht alles schreiben, was ich weiΓ, denn ich will diejenigen nicht gefΓ€hrden, die mir das Leben gerettet haben. Am 24. Februar 2022 griff mein Land die Ukraine an. Am 24. fuhr ich im Auftrag meiner Zeitung, der "Nowaja Gaseta", fΓΌr die ich seit 17 Jahren arbeitete, in die Ukraine.
In der Nacht vom 25. zum 26. Februar 2022 ΓΌberquerte ich die polnisch-ukrainische Grenze. Dank der unglaublichen Hilfe von Ukrainerinnen und Ukrainern konnte ich in vier Wochen vier Reportagen fertigstellen: von der Grenze, aus Odessa, Mykolajiw und Cherson. Cherson war unter russischer Besatzung. Um dorthin zu gelangen, musste ich zweimal die Frontlinie ΓΌberqueren. In Cherson entfΓΌhrten und folterten russische Soldaten Menschen. Ich fand die Folteropfer.
Auf dem Weg nach Mariupol
Durch den Abgleich ihrer Berichte gelang es mir, auch den Ort zu finden, an dem sie festgehalten worden waren: ein ehemaliges GefΓ€ngnis in der Teploenergetikow 3. Ich fand auch die Namen der 44 entfΓΌhrten Menschen heraus. Ich verΓΆffentlichte den Text und gab die Daten der EntfΓΌhrten an die ukrainische Staatsanwaltschaft weiter. Die nΓ€chste Stadt, in die ich fahren sollte, war Mariupol. Mariupol leistete noch Widerstand. Es wurde gekΓ€mpft. Lange gab es keine Fluchtkorridore. Die einzige StraΓe, die ab und zu passierbar war, fΓΌhrte ΓΌber Saporischschja.
Sie wurde regelmΓ€Γig beschossen, in der NΓ€he von Mariupol gab es immer mehr russische Kontrollpunkte. Trotzdem nutzten Menschen diese StraΓe beinahe tΓ€glich, um ihre AngehΓΆrigen aus der Stadt zu bringen, die die Russen offenbar vernichten wollten. Freiwillige organisierten Kolonnen. Ich beschloss, mit so einer Kolonne mitzufahren. Am 28. MΓ€rz 2022 kam ich nach Saporischschja. Ich wartete gerade an einem Kontrollpunkt (Soldaten der Terrorabwehr prΓΌften meine Dokumente und Akkreditierung), als immer mehr Nachrichten von Freunden bei mir eingingen: "Diese Wichser", "Kopf hoch", "Melde dich, wenn du Hilfe brauchst".
Jelena Kostjutschenko, Jahrgang 1987, ist russische Investigativjournalistin. 17 Jahre lang arbeitete sie fΓΌr die kremlkritische "Nowaja Gaseta", spΓ€ter fΓΌr das Nachrichtenportal "Meduza" mit Sitz im lettischen Riga. Am 18. Oktober 2023 erscheint ihr Buch "Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben" (ΓΌbersetzt von Maria Rajer).
So habe ich erfahren, dass die "Nowaja Gaseta" ihre Arbeit eingestellt hatte. Zum zweiten Mal in dem Jahr hatte sie eine Warnung vom FΓΆderalen Dienst fΓΌr die Aufsicht im Bereich der Informationstechnologie und Massenkommunikation bekommen, also der russischen Medienaufsicht, es drohte der Entzug der Lizenz. Ich hatte seit dem Γberfall auf die Ukraine damit gerechnet, aber ich hatte nicht erwartet, dass es so wehtun wΓΌrde. Ich beschloss, trotzdem nach Mariupol zu fahren. Ich wΓΌrde den Text irgendwo anders verΓΆffentlichen.
Am 29. MΓ€rz 2022 traf ich mich mit Freiwilligen und Privatpersonen, die nach Mariupol wollten, um ihre AngehΓΆrigen herauszuholen. Ich fand einen Mann, der sich bereit erklΓ€rte, mich in seinem Auto mitzunehmen, obwohl ich einen russischen Pass habe. Wir wollten am 31. MΓ€rz fahren. Den Tag vor der Abfahrt verbrachte ich im Hotel und versuchte, Kraft zu tanken. Da rief mich eine Kollegin von der "Nowaja" an. Sie fragte, ob ich nach Mariupol fahren wΓΌrde. Ich war ΓΌberrascht β davon, dass ich nach Mariupol wollte, wussten nur zwei Menschen in der Redaktion: der Chefredakteur Dmitri Muratow und meine Redakteurin Olga Bobrowa.
"Ermordung einer Journalistin vorbereitet wird"
Ich sagte: "Ja. Ich fahre morgen." Sie erwiderte: "Mich haben Informanten kontaktiert. Man weiΓ, dass du nach Mariupol fΓ€hrst. Sie sagen, dass die Kadyrowzy den Befehl haben, dich zu finden." Die Kadyrowzy, eine tschetschenische Untereinheit der russischen Nationalgarde, waren aktiv an den KΓ€mpfen um Mariupol beteiligt. Das wusste ich. Meine Kollegin sagte: "Sie werden dich nicht gefangen nehmen, sie werden dich umbringen. Das steht bereits fest." Es war, als wΓ€re ich gegen eine Wand gerast. Es rauschte in den Ohren, und alles wurde weiΓ.
Ich sagte: "Das glaube ich nicht." Sie erwiderte: "Das habe ich denen auch gesagt. Sie haben mir eine Tonaufnahme vorgespielt, in der du mit jemandem ΓΌber Mariupol sprichst und ihr die Fahrt plant. Ich habe deine Stimme wiedererkannt." Ich legte auf und setzte mich aufs Bett. Ich dachte gar nichts, ich saΓ nur da. 40 Minuten spΓ€ter rief mich ein Informant vom ukrainischen MilitΓ€rischen Nachrichtendienst an. Er sagte: "Uns liegen Informationen vor, dass in der Ukraine die Ermordung einer Journalistin der 'Nowaja Gaseta' vorbereitet wird. Dein Steckbrief ist an jedem russischen Kontrollpunkt."
Eine Stunde spΓ€ter rief mein Chefredakteur Muratow an: "Du kannst nicht mehr nach Mariupol. Du musst die Ukraine sofort verlassen." Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, die Ukraine zu verlassen. Am nΓ€chsten Morgen weckte mich die Nachricht eines Redakteurs der "Nowaja": Die Staatsanwaltschaft und die russische Medienaufsicht hatten von der "Nowaja" gefordert, meine Reportagen aus der Ukraine von der Webseite zu nehmen β sonst wΓΌrden sie die ganze Seite sperren.
Die "Nowaja" gab der Forderung nach. Komischerweise gab mir das den Rest. Ich konnte nicht mehr aufhΓΆren zu weinen. SpΓ€ter wurden die TrΓ€nen von Zorn abgelΓΆst, der vollstΓ€ndig von mir Besitz ergriff. Ich suchte einen anderen Weg nach Mariupol, um die russischen Kontrollpunkte zu umgehen. Aber es gab keinen. Der einzige Weg fΓΌhrte ΓΌber Saporischschja, und dort warteten sie auf mich. Ich konnte mir meine Ohnmacht nicht eingestehen. Rationale Argumente nΓΌtzten nichts. Das Einzige, was mich schlieΓlich aufhielt, war der Gedanke daran, was mit dem Menschen passiert, der zustimmt, mich in seinem Auto mitzunehmen.
"NatΓΌrlich nervt sie das"
Wenn ich ermordet werde, wird auch er nicht verschont. In der Nacht vom 1. zum 2. April 2022 verlieΓ ich die Ukraine. Ich verlieΓ das Land in einem sehr schlechten Zustand: Ich hatte LΓ€use, Mumps, eine posttraumatische BelastungsstΓΆrung. Freunde nahmen mich abwechselnd bei sich auf. Meine Partnerin Jana kam und kΓΌmmerte sich um mich, sie passte auf, dass ich aΓ und schlief. Ich wollte wieder zu KrΓ€ften kommen, die Arbeit an meinem Buch beenden und dann nach Hause zurΓΌckkehren, nach Russland. Meine Arbeit, mein ganzes Leben, meine Mutter und Schwester waren dort.
Je unheimlicher die Nachrichten aus der Heimat waren, desto eindringlicher fΓΌhlte ich: Mein Platz ist dort. Ich dachte darΓΌber nach, dass man mich umbringen wollte. Aber je lΓ€nger ich darΓΌber nachdachte, desto ruhiger wurde ich. Heute erscheint es mir lΓ€cherlich und peinlich, was mir damals durch den Kopf ging. Ich wusste nicht, wer den Mord in Auftrag gegeben hatte, deswegen nannte ich die MΓΆrder in Gedanken einfach "sie". Ich dachte: Wahrscheinlich war es eine emotionale Entscheidung. Der Krieg lΓ€uft nicht so, wie sie es wollten, die Nerven liegen blank. Und ich bin gerade aus Cherson zurΓΌck, ich bin direkt vor ihrer Nase vorbeigefahren, natΓΌrlich nervt sie das.
Dann haben sie Nachforschungen angestellt und herausbekommen, dass ich nach Mariupol unterwegs war β die Stadt, die ein einziges Kriegsverbrechen ist β und wollten verhindern, dass ich es dorthin schaffe. Zwischen dem letzten ukrainischen und dem ersten russischen Kontrollpunkt liegen mehrere Kilometer, die niemand kontrolliert. Die russischen Soldaten kΓΆnnten behaupten, ich sei nie bei ihnen angekommen. Im Krieg verschwinden stΓ€ndig Menschen. Vielleicht haben mich ja ukrainische Soldaten umgebracht? Immerhin bin ich eine russische Journalistin, und die Ukrainer hassen bekanntlich alle Russinnen und Russen.
Ich dachte: Ich habe ΓΌberlebt und gut. Am Abend des 28. April rief mich Muratow an. Er sprach sehr sanft mit mir. Er sagte: "Ich weiΓ, du willst nach Hause, aber du darfst nicht nach Russland zurΓΌck. Hier bringen sie dich um." Ich legte auf und brΓΌllte. BrΓΌllend stand ich mitten auf der StraΓe. Einen Monat spΓ€ter konnten wir uns treffen. Muratow erklΓ€rte mir, sie wΓΌrden es wie ein Hassverbrechen aussehen lassen. "Die Rechten hassen Lesben, und du bist lesbisch." Ich schrieb an meinem Buch. Ich schrieb und dachte an nichts sonst.
Folgen eines Hackerangriffs
In meinem Kopf war kein Platz fΓΌr etwas anderes als den Text, und das waren die besten Tage. Ende September sprach ich wieder mit Muratow. Ich bat ihn, herauszufinden, ob ich nach Russland zurΓΌckkehren kΓΆnne. Ein paar Tage spΓ€ter sagte er: "Nein, nein, nein." Ich fand eine Wohnung in Berlin und zog dorthin. Am 29. September 2022 nahm ich einen Job beim russischen Exilmedium "Meduza" an. Wir entschieden, dass meine erste Recherchereise in den Iran gehen sollte. Ich war bereits im Iran gewesen und wusste, wie ich dort arbeiten muss. Ich fand Menschen, die mir helfen wΓΌrden, lieΓ mir ein Visum ausstellen, kaufte Kleidung.
Die darauffolgende Recherchereise sollte in die Ukraine gehen. "Meduza" bat mich, vor meiner Abreise in den Iran ein ukrainisches Visum zu beantragen. Die Webseite, auf der man das Antragsformular ausfΓΌllen und einen Termin bei der Botschaft vereinbaren konnte, funktionierte nicht. Bei der Hotline des ukrainischen AuΓenministeriums hieΓ es, dass die Webseite gehackt worden war und der Schaden bisher nicht behoben werden konnte, eine Terminvereinbarung sei nicht mΓΆglich. Ich suchte nach Kontakten bei der Botschaft. Es gelang mir, einen Termin im Konsulat in MΓΌnchen auszumachen.
Es gibt keine Entschuldigung dafΓΌr, aber ich muss gestehen, dass ich meine Reise nach MΓΌnchen ΓΌber den Facebook-Messenger besprach. Er ist nicht sicher, das wusste ich natΓΌrlich. Aber ich war nicht in Russland, ich war in Deutschland. Ich dachte gar nicht an die elementaren Sicherheitsvorkehrungen, die ich jahrelang befolgt hatte. Am Abend des 17. Oktober 2022 fuhr ich nach MΓΌnchen. Es war eine lange Zugreise im GroΓraumwagen. Ich zog meine Schuhe aus, legte mich auf den Sitz und schlief ein. Menschen gingen an mir vorbei, streiften meine Beine, ich wachte auf, zog die Beine ein, schlief weiter.
Am Morgen des 18. Oktober 2022 kam ich in MΓΌnchen an. Ich fuhr zu einer Freundin und versuchte noch etwas zu schlafen, danach fuhr ich ins Konsulat. Die Konsulatsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nahmen meine Dokumente entgegen und fragten, was ich in der Ukraine vorhΓ€tte. Aber sie konnten mir kein Visum ausstellen, weil auch ihr System von dem Hackerangriff betroffen war. Wir einigten uns darauf, dass ich wiederkommen wΓΌrde. Meine Freundin holte mich beim Konsulat ab, und wir gingen essen.
"Brach ich in TrΓ€nen aus"
Wir saΓen drauΓen in einem Restaurant. WΓ€hrend wir aΓen, kamen zweimal Bekannte von ihr an unseren Tisch β ein Mann und zwei Frauen. Ich dachte noch, wie klein MΓΌnchen doch ist, alle kennen sich. Ich ging auf die Toilette, kam zurΓΌck und dachte immerzu ans Visum. Die Chancen, ein Visum zu bekommen, standen schlecht, aber vielleicht wΓΌrde es ja klappen. SpΓ€ter brachte meine Freundin mich zum Bahnhof und fragte mich: "WeiΓt du, dass du nicht gut riechst? Ich besorge mal ein Deo." Sie fand keines. Ich weiΓ noch, wie sehr mich ihre Worte wunderten. Sie ist ein sehr taktvoller Mensch und hΓ€tte das nie gesagt, wenn ich nicht wirklich furchtbar gestunken hΓ€tte.
Im Zug fand ich meinen Platz und ging sofort auf die Toilette. Ich versuchte, mich mit nassen PapiertΓΌchern zu waschen. Offensichtlich hatte ich stark geschwitzt. Der SchweiΓ roch merkwΓΌrdig und streng β nach verfaultem Obst. Ich ging zurΓΌck zu meinem Sitz und machte mich daran, mein Manuskript zu redigieren. Kurze Zeit spΓ€ter wurde mir bewusst, dass ich einen Absatz wieder und wieder las. Ich horchte in mich hinein. Ich hatte Kopfschmerzen. Vor drei Wochen hatte ich Corona gehabt, und ich fragte mich, ob ich mich noch einmal angesteckt haben kΓΆnnte. Ich rief Jana an und erzΓ€hlte, dass ich mich nicht gut fΓΌhlte.
Ich sagte noch: "Hoffentlich ist es kein Corona, wie soll ich sonst in den Iran." Ich versuchte, weiter an dem Buch zu arbeiten, aber es ging mir immer schlechter. Die Kopfschmerzen wurden so stark, dass mir das Sehen wehtat. Ich schwitzte wieder, ich ging auf die Toilette, um mich abzutrocknen. Als ich am Bahnhof ausstieg, wurde mir klar, dass ich nicht wusste, wie ich nach Hause kommen sollte. Ich wollte hinausgehen und mir ein Taxi rufen, aber allein der Gedanke, die App zu ΓΆffnen und mich auf der Karte orientieren zu mΓΌssen, versetzte mich in Panik. Lange suchte ich den Γbergang vom Bahnsteig zur U-Bahn.
Dann brach ich in TrΓ€nen aus, weil ich nicht wusste, in welche Richtung ich fahren musste. Andere FahrgΓ€ste halfen mir. Von der U-Bahnstation bis zu mir nach Hause lΓ€uft man fΓΌnf Minuten. Ich brauchte sehr lange. Alle paar Schritte musste ich meine Tasche abstellen, sie kam mir unwahrscheinlich schwer vor, ich musste mich zwischendurch erholen. Auf der Treppe rang ich nach Luft. Ich dachte, wie ΓΌbel mich Corona doch zugerichtet hatte. Zu Hause legte ich mich gleich schlafen. Ich hoffte, dass es mir danach besser gehen wΓΌrde. Es ging mir nicht besser. Es ging mir schlechter. Ich wachte von Bauchschmerzen auf.
Γrzte unschlΓΌssig
Es war ein seltsamer Schmerz β stark, aber nicht scharf, es war, als wΓΌrde er an- und ausgeschaltet. Ich versuchte mich aufzusetzen und legte mich sofort wieder hin. Mir war so schwindlig, dass sich der ganze Raum zu drehen schien. Mit jeder Umdrehung wurde mir ΓΌbler. Ich schaffte es noch bis zur Toilette und musste mich ΓΌbergeben. Ich schrieb weiter mit den Leuten im Iran. Ich weinte. Meine erste Recherchereise am neuen Arbeitsplatz und dann so was! Die Bauchschmerzen wurden immer schlimmer. Selbst die Haut zu berΓΌhren, tat weh. Diese und die darauffolgende Nacht konnte ich nicht schlafen β kaum war ich eingeschlafen, wachte ich von den Schmerzen wieder auf.
Mir wurde schwindlig, sobald ich aufstand oder mich aufsetzte. Am dritten Tag war klar, dass ich nicht in den Iran reisen wΓΌrde und dass es kein Corona war. In Berlin ist es nicht einfach, schnell zu einem Arzt zu kommen. Ich bekam erst fΓΌr den 28. Oktober 2022 einen Termin, zehn Tage spΓ€ter. Es war eine einfache allgemeinmedizinische Praxis in meinem Bezirk. Die Γrzte β sie waren zu zweit β sagten gleich, ich hΓ€tte Post-Covid-Symptome. "Das kann bis zu einem halben Jahr dauern. Wenn es in einem halben Jahr nicht besser wird, kommen Sie wieder." Sie machten einen Ultraschall, es war alles in Ordnung, und klopften meinen Bauch ab.
Ich ΓΌberredete sie noch, Blut abzunehmen. Danach verlieΓ ich beruhigt die Praxis, offenbar war es nichts Schlimmes und wΓΌrde bald weggehen. Die Blutwerte, vor allem die Leberwerte, waren schlecht. Die Enzyme GOT (ASP) und GPT (ALT) waren fΓΌnfmal so hoch, wie sie sein sollten. Man nahm noch eine Urinprobe. Im Urin war Blut. Nun war den Γrzten nicht mehr zum Lachen zumute. Sie ΓΌberwiesen mich an eine erfahrenere Kollegin. Ihre Diagnose lautete, dass es vermutlich ein Hepatitis-Virus sei, das ich mir im Krieg eingefangen hΓ€tte. "Wir bestimmen es und beginnen mit der Therapie", sagte sie.
Alle Hepatitis-Tests waren negativ. Meine Symptome verΓ€nderten sich. Meine Bauchschmerzen nahmen etwas ab, mir war nicht mehr ganz so schwindelig. Aber ich hatte keine Kraft. Mein Gesicht schwoll an. Dann folgten Schwellungen an den HΓ€nden. Meine Finger wurden dick wie WΓΌrstchen. Mit MΓΌhe bekam ich meine Ringe ab und konnte sie nicht wieder aufziehen. Auch meine FΓΌΓe schwollen an. Die Schwellungen wurden immer schlimmer, meine Kinnlinie verschwand, mein Gesicht war nicht mehr meins. Vor dem Spiegel brauchte ich geraume Zeit, um mich wiederzuerkennen.
"Ich musste lachen"
Manchmal bekam ich Herzrasen wie bei einem Sprint. Manchmal brannten meine HandflΓ€chen und FuΓsohlen, wurden knallrot und glΓ€nzten. Ich war sofort erschΓΆpft von allem. Es fiel mir schwer, die Treppe hinunterzugehen. Manchmal gingen wir spazieren, aber nach 15 Minuten oder einer halben Stunde war ich so erschΓΆpft, dass wir umkehren mussten. Ich schlief nicht mehr. Nun nicht mehr wegen der Schmerzen. Es war, als hΓ€tte mein Gehirn vergessen, wie man es macht: einschlafen. Stundenlang lag ich da, versuchte, Jana nicht zu wecken, starrte an die Decke und ΓΌberlegte, was mit mir los sein kΓΆnnte.
Meine Leberwerte wurden immer schlechter. Im Urin war immer noch Blut. Ich ging weiterhin von Arzt zu Arzt. Sie stellten Hypothesen auf, machten Untersuchungen, stellten neue Hypothesen auf. Autoimmunerkrankungen, schwere NierenbeckenentzΓΌndung, Systemerkrankungen. "Meduza" schaltete auch noch einen Arzt ein. Er lieΓ die Hepatitis-Tests wiederholen β negativ. Auf dem Heimweg aus dem Krankenhaus bekam ich eine Nachricht von ihm: "KΓΆnnte es sein, dass Sie vergiftet wurden?" Ich schrieb zurΓΌck: "So gefΓ€hrlich bin ich nicht."
Ich erzΓ€hlte Jana davon und wir lachten: Na klar, wenn eine russische Journalistin etwas hat, kann sie nur vergiftet worden sein. Die einfachste ErklΓ€rung ΓΌberhaupt. Am 12. Dezember 2022 war ich wieder bei der Allgemeinmedizinerin, es folgte noch eine Runde Tests: Die Werte hatten sich wieder verschlechtert, das GPT (ALT) war siebenmal zu hoch. Wir saΓen im Empfangszimmer, sie blΓ€tterte durch meine Akte. Dann sagte sie: "Jelena, es gibt nur zwei MΓΆglichkeiten. Die erste ist, dass die Antidepressiva, die Sie nehmen, plΓΆtzlich anders wirken. Die zweite ist β versuchen Sie sich nicht aufzuregen β, dass Sie vielleicht vergiftet wurden."
Ich musste lachen. Die Γrztin schwieg. Ich sagte: "Das ist unmΓΆglich." Sie sagte: "Wir haben alles andere ausgeschlossen. Es tut mir leid. Sie mΓΌssen in die Toxikologie der CharitΓ©." Die nΓ€chsten drei Tage lag ich da und dachte nach. WorΓΌber, weiΓ ich heute nicht mehr. Jana sagt, am ersten Tag hΓ€tte ich nur erklΓ€rt, das sei alles Unsinn, die Γrzte hΓ€tten sich geirrt, sie kΓΆnnten einfach keine richtige Diagnose stellen und hΓ€tten keine Lust weiterzusuchen. Danach hΓ€tte ich geschwiegen. Dann hΓ€tte ich "Meduza" angerufen und besprochen, was nun zu tun sei. Um sich auf Giftstoffe untersuchen zu lassen, muss man sich erst an die Polizei wenden.
Besuch von der Polizei
Ich wandte mich also an die Polizei. Bei der Polizeiwache schickte man mich gleich ins Krankenhaus. Dorthin kamen dann Polizeibeamtinnen und -beamte und befragten mich und die Γrztinnen und Γrzte. Das erste VerhΓΆr war bei der Berliner Kriminalpolizei und dauerte neun Stunden. Die Polizisten interessierte alles: Woran ich gearbeitet hatte, woran ich vorhatte zu arbeiten, mit wem ich in der Ukraine Kontakt hatte, zu welchen Kolleginnen und Kollegen ich jetzt Kontakt habe. Ich sollte mich an jede Minute des 17. und 18. Oktober 2022 erinnern. Meine Wohnung wurde auf RadioaktivitΓ€t untersucht. Auch ich wurde auf RadioaktivitΓ€t untersucht.
Die Kleidung, die ich in MΓΌnchen getragen hatte, wurde mitgenommen. Die Polizeibeamten ΓΌberprΓΌften meine Wohnung auf "Sicherheit". Der Beamte fragte: "Warum haben Sie die VorhΓ€nge offen? Man kann Sie vom Balkon gegenΓΌber erschieΓen." Die Polizeibeamten sagten, ich mΓΌsste Sicherheitsvorkehrungen beachten. Welche? "Wechseln Sie die Wohnung, wΓ€hlen Sie immer einen anderen Weg nach Hause. Tragen Sie drauΓen eine Sonnenbrille." "Und das reicht?", fragte ich. "Das erhΓΆht Ihre Chancen." Die Polizisten waren sauer auf mich. ZunΓ€chst lieΓen sie es sich nicht anmerken, aber nach dem dritten VerhΓΆr wurden sie gesprΓ€chiger.
Der Chefermittler war fΓΌr die Aufdeckung des Tiergartenmordes an dem tschetschenischen Kommandeur Selimchan Changoschwili zustΓ€ndig gewesen, das war 2019. Der MΓΆrder wurde dank Zeugen und Videokameras schnell gefasst. Er hatte einen Pass auf den Namen Wadim Sokolow, aber Polizisten und Journalistinnen fanden heraus, dass sein wirklicher Name Wadim Krassikow lautet und er Verbindungen zum FSB hat. In Deutschland wurde er zu lebenslanger Haft wegen "Mordes im Auftrag des russischen Staates" verurteilt. Der Richter sprach von "Staatsterrorismus". 2022 versuchte Russland im Zuge eines Gefangenenaustauschs zweimal, Krassikow auf die Listen zu setzen, Deutschland lehnte ab.
Ein Jahr zuvor hatte derselbe Ermittler den Fall Pjotr Wersilows bearbeitet, Mitglied von Pussy Riot und MitbegrΓΌnder von Mediazona. Wersilow war im Delirium und mit KrΓ€mpfen mit einem Privatjet aus Moskau in die CharitΓ© eingeliefert worden. Erst in Berlin merkten Wersilows Freunde, dass die CharitΓ© observiert wird. Die Berliner Polizei stellte Wersilow unter Personenschutz und nahm Ermittlungen auf.
Ermittlungen wieder aufgenommen
"Bei den Untersuchungen konnte nichts festgestellt werden, nicht einmal eine Substanz", sagte mir der Ermittler. "Warum?" "Weil man ein Labor nicht fragen kann, ob eine Person vergiftet wurde. Nur, ob eine bestimmte Substanz im Organismus nachweisbar ist. Und es gibt Tausende solcher Substanzen. Deswegen sind GiftanschlΓ€ge auch so ein beliebtes Mordmittel. Ich verstehe nicht, warum Sie so spΓ€t zu uns gekommen sind. Sie hΓ€tten sofort, sobald Ihnen im Zug schlecht wurde, die Polizei rufen mΓΌssen. Wir hΓ€tten Sie vom Bahnhof abgeholt", sagte er.
"Ich dachte nicht, dass es eine Vergiftung ist." "Warum nicht?" "Der Gedanke kam mir absurd vor, ich bin doch in Europa." "Und?" "Ich dachte, ich wΓ€re in Sicherheit." "Genau damit macht ihr uns wahnsinnig", sagte der Ermittler. "Ihr kommt hierher und denkt, ihr seid im Urlaub. Als wΓ€re hier das Paradies. Keiner denkt daran, dass man aufpassen muss. Bei uns passieren politische Morde. Bei uns sind russische Geheimdienste aktiv. Eure Sorglosigkeit β Ihre und Ihrer Kollegen β kennt keine Grenzen."
Γber den Stand der Ermittlungen wurde ich nicht informiert. Am 2. April war ich auf einer Journalistenkonferenz, wo mich Roman Dobrochotow, der Chefredakteur von "The Insider", ansprach. Er nahm mich ein paar Schritte zur Seite und sagte: "Lena, ich habe eine sehr persΓΆnliche Frage, aber zuerst mΓΆchte ich dir etwas sagen. Christo Grosew von Bellingcat [Anmerkung der Redaktion: ein nicht-staatliches investigatives Recherchenetzwerk] und ich recherchieren gerade eine Serie von GiftanschlΓ€gen in Europa. Die Opfer sind russische Journalistinnen. Ich wollte dich fragen: Hat die Tatsache, dass du lΓ€nger nichts verΓΆffentlicht hast, etwas mit deinem Gesundheitszustand zu tun?" Und ich erzΓ€hlte ihm alles, was ich Ihnen gerade erzΓ€hlt habe.
Am 2. Mai 2023 bekam ich ein Schreiben von der Berliner Staatsanwaltschaft, dass die Ermittlungen eingestellt worden seien. Es konnte kein Mordversuch festgestellt werden. "Anhand der vorliegenden Blutproben konnte eine Vergiftung nicht eindeutig nachgewiesen werden", hieΓ es. Die Γrzte, die "The Insider" und Bellingcat berieten, teilten mir mit, dass die wahrscheinlichste ErklΓ€rung fΓΌr das, was mit mir passiert war, eine Vergiftung mit Chlorkohlenwasserstoffen sei. Ich gab diese Information an die Berliner Polizei weiter. Am 21. Juli nahm die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wieder auf.
"Seid vorsichtig!"
Wie geht es mir heute? Die Schmerzen, die Γbelkeit und die Schwellungen sind verschwunden. Aber meine KrΓ€fte sind nicht wiedergekehrt. Ich habe meine Stelle bei "Meduza" aufgegeben β Recherchereisen sind in absehbarer Zeit undenkbar. Momentan kann ich drei Stunden tΓ€glich arbeiten. Es werden mehr, aber sehr langsam. Es gibt Tage, an denen ich gar nichts machen kann. Dann liege ich da und versuche, mich nicht zu hassen. Beim Schreiben dieses Textes habe ich mich bemΓΌht, mich chronologisch an alle wichtigen Details zu erinnern.
Aber welche Details sind wichtig? WΓ€hrend meiner Zeit bei der "Nowaja Gaseta" wurden vier meiner Kolleginnen und Kollegen ermordet. Ich war bei der Beerdigung des Journalisten Michail Beketow, er war mein Freund gewesen. Ich wusste, dass Journalistinnen und Journalisten ermordet werden. Aber ich wollte nicht daran denken, dass ich ermordet werden kΓΆnnte. Vor diesen Gedanken schΓΌtzten mich Ekel, Scham und ErschΓΆpfung. Ich fand den Gedanken widerwΓ€rtig, dass Menschen meinen Tod wΓΌnschen kΓΆnnten. Es war mir peinlich, so etwas zu sagen β sogar zu Freunden, von Polizisten ganz zu schweigen.
Und ich fΓΌhlte, wie erschΓΆpft ich war und dass ich nicht noch einmal fliehen konnte. In ein paar Wochen erscheint mein Buch, in dem ich beschreibe, wie sich der Faschismus in Russland entwickelt hat. Das Buch erscheint in vielen Sprachen. Die Polizeibeamten finden, dass die Publikation zu einem Trigger werden kΓΆnnte. Dass die Menschen, die mich in der Ukraine ermorden wollten, und die es vielleicht auch in Deutschland versucht haben, es wieder versuchen werden. Ich mΓΆchte leben. Deswegen schreibe ich diesen Text.
AuΓerdem mΓΆchte ich, dass meine Freundinnen und Freunde, Aktivistinnen und politische FlΓΌchtlinge, die sich momentan im Ausland befinden, vorsichtig sind. Dass sie vorsichtiger sind, als ich es war. Wir sind nicht in Sicherheit und werden nicht in Sicherheit sein, solange sich das politische Regime in Russland nicht Γ€ndert. Durch unsere Arbeit rΓΌckt sein Ende nΓ€her, aber es wehrt sich. Wenn es euch plΓΆtzlich schlecht geht, schlieΓt die MΓΆglichkeit einer Vergiftung bitte nicht sofort aus, sagt es euren Γrztinnen und Γrzten. KΓ€mpft fΓΌr euch. Sollte euch so etwas bereits zugestoΓen sein, wendet euch bitte an "The Insider" oder Bellingcat, sie suchen nach den Leuten, die euch umbringen wollen.
Die in GastbeitrΓ€gen geΓ€uΓerten Ansichten geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.