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Europawahl 2024: Nach SPD-Debakel: Wechsel im Kanzleramt?


Tagesanbruch
Die gute Nachricht nach der Wahl

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 10.06.2024Lesedauer: 6 Min.
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Spitzenpolitiker Nouripour, Wagenknecht, Merz und Lindner am Wahlabend.Vergrößern des Bildes
Spitzenpolitiker Nouripour, Wagenknecht, Merz und Lindner am Wahlabend. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

in Krisenzeiten erstarken die politischen Ränder: Das ist die erste Erkenntnis der Europawahl, sowohl im Hinblick auf die ganze EU als auch auf Deutschland bezogen. In Frankreich ist der Triumph des Rassemblement National so erdrückend, dass Präsident Emmanuel Macron noch gestern Abend das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angekündigt hat. In Deutschland gewinnt ganz rechts trotz diverser Skandale die AfD hinzu; nicht einmal extremistische Umtriebe und mutmaßliche Spionageverwicklungen scheinen der Protestpartei zu schaden. Von links kommend und rechts um Stimmen fischend, erringt das BSW bei seiner ersten Wahl einen Achtungserfolg. Enttäuschte Linken- und SPD-Anhänger sind tausendfach zu der neuen Partei übergelaufen.

Die zweite Erkenntnis ist ebenso augenfällig: Lassen die Regierenden kein klares Profil erkennen, sehnen sich viele Menschen nach starken Persönlichkeiten. Die Niederlage der SPD ist in erster Linie dem blassen Kanzler anzukreiden, Europa hin oder her. Falls die Sozialdemokraten auch die ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst so deutlich verlieren, dürfte sich die Debatte um einen Wechsel an der Spitze – Pistorius statt Scholz – nicht mehr wegmoderieren lassen. Wenn schon eine Randpolitikerin wie Sahra Wagenknecht den Schattenmann im Kanzleramt überstrahlt, müssen im Hinblick auf die Bundestagswahl im nächsten Jahr bei den Genossen alle Alarmglocken schrillen.

Video | Europawahl: So reagierten die Parteien auf ihr Ergebnis
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Quelle: reuters

Die dritte Erkenntnis erklärt die Klatsche für die Grünen: Es genügt nicht, für die größten Herausforderungen – Klimakrise, Artensterben, Ukraine-Krieg – klare Antworten und Fachkompetenz vorweisen zu können. Versäumt man es, die eigenen Positionen skeptischen Menschen schlüssig zu erklären und fällt den Bürgern stattdessen mit Hopplahopp-Aktionen wie dem Heizungsgesetz ins Haus, reißt man Wunden, die nicht mehr verheilen. Der massive Stimmenverlust für die deutschen Grünen ist auch eine späte Quittung für die verkorkste Energiepolitik der Ampelkoalition.

Erkenntnis Nummer vier ist weniger eindeutig, aber nicht minder heikel: Es genügt nicht, auf die Schwäche der Gegner zu setzen, wenn man selbst wenig Strahlkraft besitzt. Das hat CDU-Chef Friedrich Merz gestern Abend erfahren müssen. Gemeinsam mit der CSU hat er die Europawahl hierzulande gewonnen, aber viel Schwung gibt ihm der Sieg für die kommenden Wahlkämpfe nicht. Dafür ist das Ergebnis zu weit entfernt von früheren Unions-Triumphen. Die umstrittene Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen, aber auch Merz' maue persönliche Umfragewerte verpassten der CDU-Kampagne gleich zwei Makel. Kein Wunder, dass Markus Söder immer noch auf ein Machtmanöver hofft, wie unsere Chefreporterin Sara Sievert zu berichten weiß. Dennoch meint unser Politikchef Christoph Schwennicke: Beim Griff nach der Kanzlerkandidatur wird Merz kaum noch jemand in den Arm fallen können.

Und die fünfte Erkenntnis? Ist eine große Erleichterung. Ja, Europa ist mit dieser Wahl nach rechts gerückt. Die ultrarechten Fraktionen und rechtsextreme Abgeordnete werden im neuen EU-Parlament stärkeren Einfluss bekommen. Das wird Kompromisse in ohnehin angespannten Zeiten erschweren. Doch immer noch gibt die große Mehrheit der Bürger hierzulande demokratischen Parteien ihre Stimme. Das ist ein starkes Zeichen, das sich gar nicht laut genug betonen lässt. Die deutsche Demokratie ist stark und lebendig.

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Nach der Wahl beginnt die Arbeit

Die Bürger haben entschieden, nun beginnt das politische Feilschen um Koalitionen und Posten. Das Mitte-Rechts-Bündnis EVP beansprucht wieder den Vorsitz der EU-Kommission: Amtsinhaberin Ursula von der Leyen soll fünf Jahre weitermachen. Dafür wird sie allerdings Verbündete suchen müssen – und diese wohl eher in der gestärkten rechten Hälfte des Parlaments finden. Das dürfte Folgen für ihren Kurs auf den fünf wichtigsten Politikfeldern haben:

1. Ihre ambitionierte Klimaschutzpolitik wird von der Leyen kaum so weiterführen können. Klimaneutralität bis 2050, Verringerung der CO2-Emissionen um 55 Prozent bis 2030: Diese Ziele stehen wieder infrage; ob die bereits beschlossenen Gesetze wirklich umgesetzt werden, muss bezweifelt werden. Vor allem der eigentlich ab 2027 geltende Emissionshandel beim Autoverkehr und beim Heizen könnte kassiert werden.

2. Bisher verfolgt die EU-Kommission eine harte Linie gegen Putins Kriegsregime; ohne die Unterstützung aus Brüssel hätte Kiew dem Aggressor kaum so lang standhalten können. Auf dieser Basis hätte von der Leyen die widersprüchliche Außen- und Verteidigungspolitik der einzelnen EU-Staaten zu einem Gesamtkonzept zusammenschweißen und womöglich sogar irgendwann die Grundlage für eine europäische Armee legen können. Das dürfte nun passé sein. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik bleibt ein Frühstücksdirektor.

3. Ein Drittel des EU-Haushalts fließt in die Landwirtschaft. Die meisten Höfe und Betriebe arbeiten jedoch nicht auf Qualität, sondern auf Masse: Überdüngte Böden, aufgeblähte Agrarkonzerne und verdrängte Kleinbauern sind die Folge. Ihre nach fünfjährigen Verhandlungen durchgesetzten Umweltvorschriften hat die EU-Kommission wegen der Bauernproteste schon vor der Wahl kassiert. Nach der Wahl dürfte sie ihren Reformwillen endgültig begraben.

4. In die neue Legislaturperiode wird das Feilschen um den mittelfristigen Finanzrahmen der EU fallen. Dabei geht es um sage und schreibe 1,2 Billionen Euro, die zu verteilen sind. Mehr für den Arten- und Klimaschutz oder mehr für Autobahnen und Mastbetriebe: Auch solche Weichenstellungen werden von den neuen Mehrheiten beeinflusst.

5. Die EU muss dringend ihr Wirtschaftswachstum ankurbeln, um nicht von China und den USA abgehängt zu werden. Bürokratie, Digitalisierungsmängel, nationaler Egoismus und fehlende Privatinvestoren bei Zukunftstechnologien wie der Künstlichen Intelligenz hemmen den ganzen Kontinent. Hier neue Standards im Sinne der Gemeinschaftsidee zu setzen, dürfte nun schwieriger werden: Die rechten Parteien beargwöhnen jeden ausgegebenen Euro und verteidigen nationale Interessen.

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Fazit: Mutige und weitsichtige Entscheidungen in Brüssel werden künftig nicht unmöglich – aber schwieriger.


Bundesballermänner kicken sich warm

In vier Tagen eröffnet die deutsche Fußball-Nationalmannschaft mit ihrem ersten Gruppenspiel gegen Schottland die Europameisterschaft. Beobachter aus Sport, Politik und Medien sind sich einig: Das Turnier bietet die Chance, Deutschland aus der Krisenstimmung zu kicken – oder den Menschen zwischen Flensburg und Füssen wenigstens vier Wochen lang unbeschwerte Sommerlaune zu bescheren. Wenn … ja, wenn das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann mitspielt statt mitschlurft.

Das Potenzial ist da: Mit Kroos, Musiala, Gündoğan und Neuer hat die DFB-Mannschaft mehrere Weltklassespieler in ihren Reihen. Dass er aus den einzelnen Stars ein Spitzenteam formen kann, diesen Beweis ist Nagelsmann bislang jedoch schuldig geblieben. Die letzten Vorbereitungsspiele gegen Griechenland und die Ukraine waren eher Wackelpartien.

Trotzdem verbreiten die DFB-Bosse Optimismus. So auch beim öffentlichen Training der Nationalmannschaft heute Nachmittag im fränkischen Herzogenaurach, für das sich mehrere tausend Fans angekündigt haben. Immerhin das Interesse an den Bundesballermännern wächst also wieder.


Höher, schneller, weiter

Zwischen Europawahl und Fußballvorfreude könnte die Leichtathletik glatt untergehen. Dabei ist die Europameisterschaft richtig spannend. Heute Abend stehen in Rom mehrere Entscheidungen auf dem Programm: bei den Frauen der Stabhochsprung (20.15 Uhr), der Hammerwurf (21.30 Uhr) und der 400-Meterlauf (21.50); bei den Männern der 400-Meterlauf (21.40 Uhr), der 3.000-Meter-Hindernislauf (22 Uhr) und der 200-Meterlauf (22.50 Uhr). Zuschauen können Sie im ZDF, Berichte und Hintergründe liefert unser Sportressort.


Vom Schrecken zum Frieden

Es war ein bestialisches Massaker: Heute vor 80 Jahren, am 10. Juni 1944, ermordeten deutsche Soldaten der SS-Panzerdivision "Das Reich" im westfranzösischen Oradour-sur-Glane fast 300 männliche Zivilisten. Anschließend trieben sie 350 Frauen und Kinder in der Dorfkirche zusammen und töteten auch diese – mit Atemgift, Handgranaten und Schüssen. "Wir bekamen den Auftrag, mit unseren Maschinengewehren durch die Kirchentür auf die Frauen und Kinder zu schießen", berichtete einer der Soldaten später vor Gericht. "Es war ein furchtbares Schreien und Weinen. Voller Verzweiflung versuchten manche Frauen ins Freie zu kommen. Sie wurden aber alle erschossen." Schließlich brannten die SS-Männer den Ort nieder.

Die Ruinen des Dorfs sind bis heute als Mahnmal erhalten, aber zunehmend vom Verfall bedroht. Auch deshalb ist Frank-Walter Steinmeier die heutige Reise so wichtig: Als erster Bundespräsident besucht er den Schreckensort an einem Jahrestag des Massakers – gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber nach all den Schrecken der Vergangenheit empfinde ich die deutsch-französische Freundschaft immer noch als ein beglückendes Wunder.


Neue Apfeltechnik

Welche Antwort gibt Apple auf die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz? Bisher wirkte der zweitwertvollste Konzern der Welt ratlos, sein Konkurrent Microsoft war ihm dank ChatGPT enteilt. Nun aber munkelt man in der Tech-Branche, dass auch die Apple-Leute einen Deal mit der führenden KI-Sprachschmiede eingetütet haben. Bewahrheitet sich das Gerücht, könnte sich die Art und Weise, wie Millionen Menschen ihre Smartphones nutzen, bald stark verändern. Denn dann wird auch Google – bisher ebenfalls noch im Experimentierstadium – schnell nachziehen müssen. Ein Gespräch mit der neuesten ChatGPT-Version ist jedenfalls hundertmal bequemer als das umständliche Eintippen von Suchanfragen. Heute Abend wissen wir, wohin die Reise geht. Unsere Digitalreporter Marcel Horzenek und Steve Haak werden berichten.


Ohrenschmaus

Angesichts des Wahlergebnisses brauche ich heute etwas Positives aus Frankreich. Ah, da ist es ja schon.


Lesetipps


Wie geht es nun weiter in Brüssel: Wann tritt das neue Parlament zusammen, wie formieren sich die Fraktionen, welche Posten sind zu vergeben? Die Kollegen von Tagesschau.de haben die Antworten.


Zum Schluss

Die Ampelleute haben endlich einen Plan.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Wochenstart.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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