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Wahlen in Großbritannien: Der nächste Trump kommt aus Europa


Tagesanbruch
Der nächste Trump kommt aus Europa

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.06.2024Lesedauer: 7 Min.
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Rechtspopulist Nigel Farage bei einer Rede in der Arbeiterstadt Blackpool.Vergrößern des Bildes
Rechtspopulist Nigel Farage bei einer Rede in der Arbeiterstadt Blackpool. (Quelle: Phil Nobletag/REUTERS)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wir leben in anstrengenden Zeiten. Verführer, Hetzer und die Verfechter von einfachen Scheinlösungen scheinen ein leichtes Spiel zu haben. Manchmal kann man den Eindruck bekommen, ein weltweiter Sturm auf die demokratischen Bastionen habe begonnen.

Mit Beispielen für den beängstigenden Trend könnten wir die Straße pflastern. Wir müssen uns nur umschauen: Frankreich steuert auf die Parlamentswahl zu wie die Titanic auf den Eisberg und wird, wenn nicht noch ein Wunder geschieht, selbst im günstigsten Fall anschließend unregierbar sein. In den USA kündigen Trump und seine Leute für den Fall ihrer Wiederwahl einen Rachefeldzug an. In Ungarn hat Orbán die Demokratie schon weitgehend demontiert, in der Slowakei ist die linkspopulistische Regierung gerade dabei, und in Italien denkt die postfaschistische Premierministerin Meloni darüber nach, wieviel "post" man eigentlich noch braucht. Das politische Berlin wiederum starrt auf die kommenden Landtagswahlen im Osten wie das Kaninchen auf die Schlange. Man kommt kaum zum Luftholen.

Doch es gibt ein Völkchen in Europa, das immer ein bisschen anders sein wollte als die anderen. Andere Nationen wollen rein in die EU, sie jedoch sagten Goodbye. Mainstream findet man dort unattraktiv, Exzentrik geht immer. Der vorvorletzte Regierungschef trat Tag für Tag mit einer Frisur ins Rampenlicht, die aussah, als sei sein Föhn explodiert. Seine Nachfolgerin wurde in einen Zweikampf mit einem Salatkopf geschickt – um zu sehen, ob sie sich länger im Amt halten kann, als der Salatkopf frisch bleibt. Der Salatkopf gewann.

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Das Völkchen lebt auf einer Insel, aber eine Insel der Glückseligen ist es nicht. Chaos, Krisen, falsche Versprechungen, populistischen Zinnober, all das kennt man dort nur allzu gut. Dennoch: Kommende Woche gehen die Briten zur Wahl. Und das Ergebnis wird ganz anders ausfallen, als wir das in letzter Zeit gewohnt sind.

Es bahnt sich ein Umschwung historischen Ausmaßes an. Noch nie hat Labour, die Arbeiterpartei und Großbritanniens Gegenstück zur SPD, in den Umfragen mit einem so gewaltigen Vorsprung vor der Konkurrenz geführt. Mit mehr als 20 Prozentpunkten Abstand liegt sie vor der Regierungspartei, den konservativen Tories, seiner Majestät Entsprechung zur deutschen CDU/CSU. Den Vergleich zu den Schwesterparteien in Bayern und Berlin mag man allerdings nur widerwillig ziehen, denn die britischen Konservativen sind aufgerieben und fix und foxy am Ende.

Überraschend ist die radikale Wende bei den Briten nicht. Erstaunlich ist eher, dass sie erst jetzt kommt. Angesichts des Personals, das die Tories aufgeboten haben, um ihr Eiland zu regieren, grenzt ihr Beharrungsvermögen an ein Wunder. Da war der Polit-Clown Boris Johnson, der Mann mit dem explodierenden Föhn, den seine Lügen schließlich aus dem Amt zwangen – nachdem aufgeflogen war, dass in seinem Amtssitz während des Corona-Lockdowns rauschende Partys stiegen. Kaum erinnern kann man sich hingegen an Liz Truss, deren Amtszeit als kürzeste der britischen Geschichte in die Annalen einging (die wird seitdem in Salatköpfen gemessen). In nur 49 Tagen schaffte sie es, Großbritanniens Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs zu treiben.

Seit ihrem Abgang eiert Premier Rishi Sunak über die Politbühne. Im Vergleich zum Gruselkabinett vor ihm agiert er auf den ersten Blick angenehm normal, was unter den gegebenen Umständen heißt: nicht völlig durchgeknallt, zugleich aber glücklos, ohne Richtung und ohne Rückgrat. Sein Wahlkampf ist zur Parodie geraten, wie mein Kollege Julian Seiferth berichtet, gleich von der ersten Sekunde an. Kaum trat er vor seinem Amtssitz in der Downing Street vor die Presse, um Neuwahlen anzukündigen, öffnete der Himmel seine Schleusen. Niemand hatte für ihn einen Schirm. Das Bild vom durchweichten Premierminister verfolgt ihn nur deshalb nicht ständig, weil er vergleichbare Rohrkrepierer seitdem auch trocken hinbekommt. Beim Smalltalk mit dem Wahlvolk erkundigte er sich zum Beispiel in Wales, wie sehr die Leute der Europameisterschaft entgegenfiebern (Wales ist in der Qualifikation rausgeflogen). Bodenständig fuhr er aufs Land zum Schafe füttern (die Schafe liefen weg). Fototermin beim Bäcker, Sunak schaut ein Brot an (so, als sähe er so was zum ersten Mal). Seine Partei veröffentlicht ihr erstes Wahlkampfvideo, patriotisch weht die Flagge (Flagge hängt falsch rum). Auftritt in Belfast, am besten wo? Dort, wo die Titanic zusammengezimmert wurde. Man kann es sich nicht ausdenken.

Mittlerweile sind handfeste Skandale hinzugekommen. Einige seiner Mitarbeiter haben ihr Insider-Wissen genutzt, um in Wettbüros auf den Wahltermin zu setzen, als das Datum außer ihnen noch niemand kannte. Schnell noch Kasse machen, bevor wir an die Luft gesetzt werden, scheint die Devise gewesen zu sein. Die billige Korruption rundet das Gesamtbild ab. In der bevorstehenden Abstimmung, das zeigen die Umfragen, geht es den Briten inhaltlich um genau ein zentrales Anliegen: Rache. Der Tag der Abrechnung ist gekommen. Labour wird abräumen und die Tories werden voraussichtlich das schlimmste Ergebnis seit 100 Jahren einfahren. Wenn es ganz okay läuft. Sonst seit 150 Jahren.

In der deutschen Trauerkloß-SPD würde mancher sicher gerne mit der triumphierenden Schwesterpartei die Rollen tauschen. Zugleich scheinen sich die Briten erfolgreich gegen den Trend zum Rechtspopulismus zu stemmen, der anderswo unaufhaltsam zu sein scheint. Eigentlich schade, dass das nur eine schöne Illusion ist. Denn von hinten schleicht sich ein böser Clown an die geschwächten Tories heran – und in manchen Wählergruppen auch schon an ihnen vorbei: Nigel Farage und seine "Reform"-Partei machen das, was in unserem harmlosen Bild bisher auffällig fehlte: hetzen, lügen, die unzufriedenen ehemaligen Brexit-Wähler einsammeln. Einst hatte Farage sich als Galionsfigur für den Brexit gegen das bitterböse, geldsaugende Monster Europa positioniert. Aber nachdem nun von seinem Propagandamärchen nichts mehr übrig ist, hat er sich auf das Zetern gegen Migration verlegt. Die hat jüngst dramatisch zugenommen – und das, obwohl auch die regierenden Konservativen gegen Migranten und Flüchtlinge Stimmung gemacht und eine massive Reduzierung der Zahlen versprochen haben.

Genützt hat es den Tories nicht, aber die giftige Stimmung ist geblieben. Immer noch da ist auch eine verbreitete Haltung gegen "die da oben", ebenso der Eindruck der Fremdbestimmung durch eine ferne, selbstbezogene Politikerkaste. Während der Brexit-Kampagne haben Rechtspopulisten wie Farage, aber auch ultrarechte Tories dieses Misstrauen und die Unzufriedenheit angeheizt und zur Waffe gegen Brüssel geschmiedet. Brüssel ist jetzt weg, aber die Waffe noch da – und Farage zurück.

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Und wie: Schon wirbt der rechte Flügel der Tories dafür, nach der erwarteten Wahlkatastrophe einen radikalen Neustartversuch zu wagen: indem man Farage ins Boot und vielleicht sogar an die Parteispitze holt. Die früher mal ehrwürdigen britischen Konservativen würden dann denselben Verwandlungsprozess durchlaufen wie in den USA die Republikaner mit Donald Trump: von den radikalen Kräften nicht besiegt, sondern von ihnen übernommen. Es würde den Weg vollenden, den die Tories seit dem Brexit eingeschlagen haben. Lange haben sie auf die Themen der rechtsradikalen Hetzer gesetzt und deren Vokabular salonfähig gemacht. Anbiederung und Aushöhlung gehen Hand in Hand.

Fazit: Populistische Sprüche stärken die Populisten. Ressentiments, die man weckt, legen sich danach nicht wieder schlafen. Es sind altbekannte Lektionen, die die Konservativen auf der Insel uns vorführen. So anders sind die Briten also doch nicht. Aber wir im beschaulichen Deutschland sollten um Himmels willen alles tun, um nicht denselben Irrweg einzuschlagen!


Die letzte Chance

Bei der Fußball-EM entscheidet sich, welche Teams die letzten Tickets fürs Achtelfinale lösen. Während die Portugiesen als schon Sieger der Gruppe F feststehen und entspannt in das Duell mit Georgien (21 Uhr bei RTL) gehen können, hat der Gegner noch eine minimale Chance auf die K.o.-Phase. In einer aussichtsreichen Position liegen vor dem abschließenden Vorrundenspieltag auch die Türken, die als Gruppenzweiter auf Tschechien (21 Uhr in der ARD) treffen.

Besondere Brisanz birgt die Situation in der Gruppe E: Da haben alle vier Teams einmal gewonnen. Sowohl die Slowakei und Rumänien (18 Uhr in der ARD) als auch die Ukraine und Belgien (18 Uhr bei RTL) haben vor dem Gruppenfinale das Weiterkommen selbst in der Hand. Ein Sieg reicht jedem Team aus dem Quartett. Durch den Modus mit 24 Teams und 6 Gruppen, aus denen die 4 besten Dritten weiterkommen, wissen die Slowaken und Rumänien aber auch vor dem Anpfiff: Bei einem Remis würden beide Teams sicher unter den besten Drei der Gruppe bleiben und ins Achtelfinale einziehen.

Alles klar? Falls nicht: einfach zuschauen und mitfiebern!


Das Ende einer Odyssee

Julian Assange ist auf dem Weg in seine Heimat Australien. Nachdem der Wikileaks-Gründer sich am Mittwochmorgen (Ortszeit) bei einem Termin vor einem US-Gericht auf den Nördlichen Marianen der Verschwörung zur unrechtmäßigen Beschaffung und Verbreitung von geheimen Unterlagen schuldig bekannt hatte, durfte er das Gebäude als freier Mann verlassen. Lesen Sie mehr zu der überraschenden Wende in dem Fall hier.


Team für Brüssel

Das künftige EU-Führungsteam steht: Die Deutsche Ursula von der Leyen soll weiter die Kommission leiten, die estnische Regierungschefin Kaja Kallas soll den Posten der EU-Außenbeauftragten bekleiden, der frühere portugiesische Regierungschef António Costa soll dem Rat der Staats- und Regierungschefs vorstehen. Damit kann der EU-Gipfel morgen halbwegs geschmeidig über die Bühne gehen – und Olaf Scholz heute in seiner Regierungserklärung im Bundestag einen ersten Erfolg verkünden.


Ohrenschmaus

In diesen Sommertagen ist Berlin ein Traum. Als ich gestern das Fenster öffnete, tönte mir ein 50 Jahre alter Klassiker entgegen. Habe mitgesungen.


Lesetipps

Gestern fragte ich im Tagesanbruch, zu welchem Thema Sie mehr wissen möchten. Viele Leser haben geantwortet, wofür ich herzlich danke. Die meisten möchten mehr über die anstehende Parlamentswahl in Frankreich und den Aufstieg der Rechten erfahren. Meine Kollegin Laura Mielke hat die Hintergründe aufgeschrieben.


AfD-Politiker haben einen weiteren Skandaltrip nach Russland unternommen. Unsere Rechercheure Annika Leister und Jonas Mueller-Töwe sind ihnen auf die Schliche gekommen.


Sie fragen sich, was die Aufregung um Künstliche Intelligenz soll, haben womöglich sogar ein bisschen Angst vor KI? Dann schauen Sie doch mal, wie ChatGPT meinem Kollegen Marcel Horzenek in der Küche hilft.


Zum Schluss

Die Ampelpolitik hat Folgen im Alltag.

Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag. Heute Nachmittag bekommen alle Tagesanbruch-Abonnenten eine Sonderausgabe: das Update zum amerikanischen Wahlkampf.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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