Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Plötzlich fehlt etwas

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
beginnen wir den Tag mit einer erfreulichen Beobachtung. Wir leben in Zeiten permanenter Erregung, auf TikTok, X und Co. wird eine Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben, Wutgeschrei und Beschimpfungen bestimmen den Ton. Deshalb ist es eine Nachricht, wenn das Gezeter zur Abwechslung mal verstummt.
In der Vergangenheit hat die bloße Erwähnung eines Buchstabens und einer Zahl Menschenmassen auf die Barrikaden getrieben – nicht nur digital: Steine flogen, Autos brannten, Schlagstöcke knackten Knochen. Viel Zoff, brachiale Gewalt, ausgelöst durch eine schlichte Abkürzung: den Buchstaben G, mit einer Nummer, mehr hat es früher nicht gebraucht.
An diesem Sonntag ist es wieder so weit, dass die Regierungschefs der G7-Staaten sich treffen. Diesmal sogar zum Jubiläumsgipfel: zum 50. Mal diskutieren sie hinter gut gesicherten Türen über das Wohl und Wehe der westlichen Industriestaaten. Mister Trump wird sich einfinden, Briten, Franzosen, Italiener und Japaner ihren führenden Kopf entsenden, der gastgebende Premier aus Kanada bittet zu Tisch. Auch der Bundeskanzler nimmt in der Runde Platz.
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Sieben Mächtige plus die Spitze der EU – ein elitärer Klub, dessen Zusammenkunft früher alle Leute in Rage brachte, die eine Verschwörung der Superreichen gegen die Masse der Weltbevölkerung witterten. Und heute? Läuft der G7-Gipfel in den Rocky Mountains unter ferner liefen. Größere Proteste oder gar Straßenschlachten sind nicht zu erwarten.
Das liegt nicht nur am entlegenen Veranstaltungsort, sondern auch an den veränderten Voraussetzungen. Die Supermächtigen tuscheln nicht mehr einträchtig unter derselben Decke, sondern zerren daran um die Wette – dafür hat der orangefarbene Riese aus dem Weißen Haus gesorgt. Nicht einmal beim Geld geht es gemeinsam: Washingtons Zölle sorgen für Zoff. Die Treffen mit dem G – ob G7 oder G20 – haben ihr Aufregerpotential verloren, weil die Globalisierung, für die sie standen, in die Krise geraten ist. An die Stelle der vermeintlichen Weltherrschaft des Kapitals sind tiefe Gräben getreten.
Im Rückspiegel zeigt sich, dass die Buhmann-Veranstaltungen von einst in Wahrheit ein Projekt von Idealisten waren. Das gemeinsame Interesse am dicken Verdienen werde über die nationalen Egoismen siegen, glaubten die Verfechter der neuen Weltordnung. Es ist fast schon rührend, mit welcher Naivität so viele schlaue Köpfe der Idee vom weltumspannenden Produzieren, Verschiffen und Verkaufen hinterherliefen.
Im Zeichen des Mammons werde die politische, ideologische, strategische Konkurrenz von Staaten keine Rolle mehr spielen, glaubten die Globalisten. Und sie schienen ja auch recht zu haben: Die chinesischen "Kommunisten", die längst in Anführungszeichen gehörten, waren genauso dick im Geschäft wie die Turbokapitalisten aus den USA und so gut wie jede Nation dazwischen. Grenzen? Wie rückständig. Es sah aus, als hätten die Schlagbäume ausgedient; an der Lieferkette glitten die Waren geschmeidig von Kontinent zu Kontinent. Wie blauäugig das war, haben wir mittlerweile auf die harte Tour gelernt. Ketten kann man kappen, Grenzen schließen und Pipelines abdrehen. Pandemie, Krieg und die Konflikte zwischen Russland und dem Westen sowie zwischen China und den USA haben die globalistischen Traumtänzer auf den harten Boden der Realität zurückgeholt.
Nun wachsen die Handelshemmnisse wieder. Zollschranken kehren zurück. Rund um den Globus hat man entdeckt, dass man sich in gefährliche Abhängigkeiten verstrickt, wenn man sich zu sehr auf den einen, günstigsten Lieferanten verlässt – egal, ob es um Masken in einer Pandemie, Akkus für E-Autos oder Computerchips für Waschmaschinen geht. Wer will, dass das Fließband in einer Krise nicht stillsteht, shoppt nun nicht mehr alles möglichst billig in der Ferne, sondern vieles lieber gegen Aufpreis in der verlässlichen Nachbarschaft.
Das ist sicherer, aber es kostet. Mit der billigen Energie aus Russland ist es vorbei, um Putins Kriegsmaschinerie nicht noch weiter zu ölen. Auch vom russischen Gas-Import will die EU sich lösen. Im Verhältnis zu China hat sich das Wörtchen "Systemkonkurrenz" zurückgemeldet, was so viel heißt wie "Trau, schau, wem". Und bei unseren amerikanischen Freunden braucht man eigentlich jede Woche einen neuen Begriff. Aber "Chaos" kann man immer nehmen, und "Freunde" ersetzen wir besser durch "Spezis". Putins imperiale Gelüste, Xis Streben nach Dominanz und Trumps Ego stehen für die Gefahren, gegen die man sich in unberechenbaren Zeiten wappnen muss. Die Politik hat sich mit Macht zurückgemeldet und den Traum vom ungehemmten globalen Wirtschaften mit einer kalten Dusche beendet.
Sollten wir ihm nachtrauern? Die Globalisierung sollte die Welt nicht besser machen. Sie war nicht als karitatives Projekt gedacht, sondern als Selbstbereicherung. Die Bedingungen, unter denen in China unsere Haushaltselektronik zusammengeschraubt und in Bangladesch unsere Billigklamotten genäht werden, bewegen sich auf einer Skala, die von verbesserungswürdig bis schockierend reicht. Wer täglich zwölf Stunden mit mechanischen Handgriffen verbringt, sich zum Schlafen in eine spartanische Stockbettbude zwängt und höchstens einmal im Jahr die Familie zu Gesicht bekommt, ist kein Gewinner der Globalisierung, sondern ihr Opfer: So erscheint es uns, wenn wir aus unserer Wohlstandswelt in die fernen Werkshallen schauen, die unseren Konsumdurst stillen. Doch es hat einen Grund, dass diejenigen, die unter so harten Bedingungen arbeiten, nicht fluchtartig das Weite suchen.
Denn was uns zu Recht schlimm erscheint, empfinden viele Betroffene dennoch als Verbesserung. Die extreme Armut von Asien über Afrika bis Lateinamerika hat abgenommen. In China, das auf der Welle des anschwellenden Welthandels nach oben gesurft ist wie keine andere Nation, ist das Massensterben in Hungersnöten nur noch eine Erinnerung. In den Jahren der entfesselten Globalisierung ist die Armut weltweit zurückgedrängt worden – jedenfalls so lange die Party noch lief.
Was man dem Austausch von Waren und Dienstleistungen alles verdankt, werden wir auch im reichen Deutschland womöglich bald besser zu schätzen wissen, falls hohe Zölle den Handel in die Knie zwingen. Die genaue Erläuterung übernimmt dann das Arbeitsamt. Beim G7-Gipfel in Kanada braucht jedenfalls niemand gegen die Exzesse der Globalisierung Sturm zu laufen. Denn das Gespenst des weltweiten Kapitalismus ist vor allem dann besonders furchterregend, wenn es verschwindet.
Boeing crasht
Mehr als 290 Menschen sind beim Absturz eines Passagierflugzeugs in der westindischen Millionenstadt Ahmedabad gestorben. Die genaue Opferzahl war zunächst ebenso unklar wie die Unfallursache. Während wie durch ein Wunder einer der 242 Fluggäste überlebte, gab es auch am Boden viele Tote – die Air-India-Maschine vom Typ Boeing 787-8 Dreamliner auf dem Weg nach London hatte kurz nach dem Start an Höhe verloren und war in einem Wohngebiet eingeschlagen.
Für den Flugzeughersteller ist die Katastrophe ein weiteres Glied in einer langen Pannenkette: Erst im Dezember 2024 war eine Boeing in Südkorea abgestürzt, 179 Menschen starben. Im April 2024 hatten sich bei einer Boeing während des Flugs Teile der Triebwerksverkleidung gelöst. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Man muss es wohl so sagen: Wenn Sie bei Langstreckenflügen auf jeden Fall sicher ankommen wollen, sollten Sie keine Boeing besteigen. Hier finden Sie heraus, welcher Flugzeugtyp von welcher Airline auf welcher Stecke eingesetzt wird.
Geldpumpe im Bundesrat
Mit Steuerentlastungen für Unternehmen will die schwarz-rote Bundesregierung die schwächelnde Wirtschaft auf Trab bringen. Heute steht der vom Kabinett vollmundig vorgestellte "Investitionsbooster", der erweiterte Abschreibungsmöglichkeiten beim Kauf neuer Maschinen und Elektrofahrzeuge vorsieht, erstmals auf dem Prüfstand des Bundesrates.
Der Redebedarf in der Länderkammer ist groß: Zwar unterstützen die Ministerpräsidenten das Vorhaben prinzipiell, fordern aber einen Ausgleich für ihre Einnahmeausfälle, die sie auf fast 50 Milliarden Euro taxieren. Viel Zeit für eine Einigung bleibt nicht: Am 26. Juni soll der Bundestag über das Sofortprogramm entscheiden; der Bundesrat müsste in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause am 11. Juli folgen.
Biontech expandiert
Als im Jahr 2020 der Wettlauf um einen Corona-Impfstoff entbrannte, beteiligten sich sowohl das Mainzer Pharmaunternehmen Biontech als auch sein Tübinger Rivale Curevac. Doch während Biontech mit seinem Produkt auf mRNA-Basis reich und berühmt wurde, zogen die Baden-Württemberger ihren ersten Impfstoffkandidaten wegen geringer Wirksamkeit aus dem Zulassungsverfahren zurück. Nun will Biontech den Konkurrenten übernehmen; Mitgründer Uğur Şahin erhofft sich von dem milliardenschweren Aktiendeal weiteres Know-how auf dem Weg zu Krebstherapien.
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Ohrenschmaus
Das Wort des Tages lautet Paraskavedekatriaphobie: So bezeichnen Wissenschaftler die Angst vor Freitag, dem 13. Also einem Tag wie heute. Ich kann damit nicht viel anfangen. Aber einen furchtlosen Freitags-Song empfehlen, das kann ich.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen harmonischen Freitag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.