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Ex-Außenminister Gabriel: Russland-Papier der SPD ist "schlimme Verirrung"


Gabriel zu Russland-Papier der SPD
"Es ist wirklich eine schlimme Verirrung"

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel

12.06.2025 - 10:39 UhrLesedauer: 7 Min.
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Er kritisiert das Russland-Papier der SPD-Linken scharf: Ex-Parteichef Sigmar Gabriel (hier auf einer Veranstaltung im Jahr 2024). (Quelle: IMAGO/Ying Tang)
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Prominente SPD-Linke fordern in einem Papier einen außenpolitischen Kurswechsel und Gespräche mit Moskau. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel hält den Vorstoß für eine Vernebelung der Realität – und macht auch der aktuellen SPD-Spitze Vorwürfe.

Sie wollen eine "Rückkehr zur Zusammenarbeit" mit Russland, mehr Diplomatie im Ukraine-Krieg und ein Ende von "Konfrontation und Hochrüstung": Namhafte Sozialdemokraten um die Bundestagsabgeordneten Ralf Stegner, Rolf Mützenich und den früheren SPD-Chef Norbert Walter-Borjans attackieren in einem Papier die Außen- und Sicherheitspolitik der Regierung und ihrer eigenen Parteiführung. Das "Friedensmanifest" wird seitdem teils heftig kritisiert – auch in den eigenen Reihen.

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Auch der ehemalige SPD-Vorsitzende und frühere Bundesaußenminister Sigmar Gabriel verurteilt das Russland-Papier der SPD-Linken und nennt es eine "intellektuelle Verirrung". Im Interview mit t-online macht Gabriel zudem SPD-Chef Lars Klingbeil schwere Vorwürfe: Anstatt inhaltlich Führung zu zeigen, würde die SPD-Spitze heikle Debatten "kommunikativ wegbügeln".

t-online: Herr Gabriel, was dachten Sie, als Sie das "Friedensmanifest" Ihrer Parteikollegen Ralf Stegner und Rolf Mützenich gelesen haben?

Sigmar Gabriel: Ich habe gedacht, da geht viel Nostalgie in den Köpfen der Autoren um. Ihr Blick auf die Realität ist nostalgisch vernebelt.

Inwiefern?

Die Autoren nehmen die Folie der Entspannungspolitik in den 70ern und legen sie auf die gegenwärtige Lage, in der Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt. Das passt vorn und hinten nicht.

Was ist heute anders?

Willy Brandts Entspannungspolitik gelang zu einer Zeit, als die Sowjetunion vor allem ein Ziel verfolgte: die Grenzen zu sichern, die sie mit viel Blut im Zweiten Weltkrieg erkämpft hatte. Die Bundesrepublik und der Westen erkannten die sogenannte "Oder-Neiße-Linie" als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges an. Der Westen verlangte im Gegenzug von Moskau, die Menschenrechte zu achten. Das war es im Grunde, was 1975 in der Schlussakte von Helsinki beschlossen worden ist und was bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine letztlich Kern einer stabilen Friedensordnung in Europa war. Das heutige Russland ist aber keine Status-quo-Macht wie die Sowjetunion damals, sondern eine revisionistische Macht, die mit militärischer Gewalt gegen seine Nachbarn vorgeht. Diesen zentralen Unterschied verschleiern die Autoren des Papiers komplett.

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(Quelle: Reiner Zensen via www.imago-images.de)

Zur Person

Sigmar Gabriel war unter anderem Bundeswirtschaftsminister (2013-2017) und Bundesaußenminister (2017-2018). Er war von 2009 bis 2017 SPD-Vorsitzender und von 2013 bis 2018 Vizekanzler. Gabriel ist seit 2019 Vorsitzender der Atlantik-Brücke und sitzt im Aufsichtsrat mehrerer Unternehmen.

Das Manifest fordert unter anderem mehr diplomatische Initiativen und eine "schrittweise Rückkehr zur Zusammenarbeit mit Russland". Wie realistisch ist das?

Auch das wird verschwiegen: dass es bereits zahlreiche diplomatische Initiativen gibt und gegeben hat. Ex-Kanzler Olaf Scholz hat sich für Verhandlungen eingesetzt, der französische Präsident Macron hat vor wenigen Monaten seine Diplomaten mit Vertretern Russlands in Istanbul verhandeln lassen und auch der jetzige US-Präsident Donald Trump versucht, Putin zu einem Waffenstillstand zu drängen. Bisher endeten ausnahmslos alle Gespräche damit, dass der Kreml hinterher seine Angriffe noch intensivierte. Es wäre wünschenswert, mit Russland über die Sicherheitsarchitektur in Europa zu reden, aber die minimale Voraussetzung dafür wäre doch, dass Wladimir Putin wenigstens einen Waffenstillstand akzeptiert. Aber nicht mal dazu ist er bereit. Putin hat die Ukraine überfallen und wähnt sich im Krieg gegen den Westen. Das Papier enthält nicht einmal die Forderung an Moskau, die Angriffe zu beenden und eine Waffenruhe zu verkünden. Es ist wirklich eine schlimme Verirrung.

Die Autoren fordern auch einen Kurswechsel in der deutschen Verteidigungspolitik: Die "Alarmrhetorik" und "riesigen Aufrüstungsprogramme" würden Deutschland nicht sicherer machen, sondern die Lage weiter eskalieren. Wie schätzen Sie das ein?

Mein Rat an die Autoren wäre, mal mit unseren osteuropäischen Freunden und Partnern in den baltischen Staaten oder in Polen darüber zu reden. Dann würden sie mit solchen Behauptungen vielleicht vorsichtiger sein. Diese Länder spüren die militärische Bedrohung sehr konkret und sehr direkt. Es ist eine leider typisch deutsche Arroganz, es besser zu wissen als alle anderen. Wenn diese Forderung Gegenstand deutscher Politik werden soll, übersehen die Autoren die wichtigste Erkenntnis für die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg: dass wir nie wieder allein in Europa agieren dürfen, dass wir nie wieder einen Sonderweg gehen.

Unsere Nachbarn verfügen über eine sehr präsente Erinnerung, wohin Europa gesteuert wurde, wenn Deutsche eine eigene Russlandpolitik entwickelt haben. Es ist doch merkwürdig, dass ausgerechnet führende Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion, die jahrelang die Ukraine-Politik des SPD-Bundeskanzlers Olaf Scholz unterstützt haben, nur wenige Wochen nach dem Wechsel im Kanzleramt auf einmal eine Kehrtwende dieser Politik fordern. Das sieht sehr nach Flucht aus der Verantwortung aus. Indem man die Augen vor der Realität verschließt, entsteht kein Frieden.

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Auch die Steigerung der Verteidigungsausgaben wird kritisiert: Eine Erhöhung auf 3,5 oder 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sei "irrational" und sicherheitspolitisch unbegründet. Das Geld solle besser in Armutsbekämpfung und Klimaschutz investiert werden. Übertreibt es Deutschland mit seinen Rüstungsausgaben?

Die Autoren geben vor, sich auf Willy Brandt zu beziehen, aber verklären die Brandt'sche Entspannungspolitik. Die fand nämlich mit einem Anteil der Verteidigungsausgaben von vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts statt. Also dem Doppelten dessen, was die Autoren heute schon für falsch halten. Für Brandt waren die hohen deutschen Verteidigungsausgaben und die Verankerung im westlichen Verteidigungsbündnis Voraussetzungen für seine Entspannungspolitik. Ohne diese Klarheit und ohne eine verteidigungsfähige Bundeswehr als verlässlicher Partner in der Nato wäre er doch von Moskau nicht ernst genommen, sondern als Spielball betrachtet worden. Militärische Stärke und Diplomatie sind eben keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille.

Aber müsste die deutsche Politik nicht mehr tun, um einen Waffenstillstand zu erreichen? Kann es ein "Zuviel" an diplomatischen Bemühungen überhaupt geben?

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Niemand wehrt sich gegen die Forderung nach Diplomatie. Und fast jeden Tag gibt es Versuche, Russland zu diplomatischen Verhandlungen zu bewegen und wenigstens einen Waffenstillstand zu vereinbaren. Die Autoren dieses Papiers nehmen das schlicht nicht zur Kenntnis. Es wird auch mit keinem Wort erwähnt, dass Putin Gesprächsangebote ablehnt oder nur zum Schein führt und ansonsten weiter Bomben auf die Zivilbevölkerung wirft. Aber mich stört noch eine andere Sache.

Welche?

Da steht zum Beispiel, wir bräuchten nicht weiter aufzurüsten, die Europäer seien ja heute schon Russland militärisch überlegen. Das schreiben Rolf Mützenich und Ralf Stegner, die maßgeblich mit daran schuld sind, dass der Bundeswehr bis 2024 so wichtige Verteidigungsmittel wie bewaffnete Drohnen verwehrt wurden. Wenn Deutschland heute also in den kommenden Jahren einigermaßen verteidigungsfähig wird, dann nicht wegen der Autoren, sondern trotz ihnen.

Die Unterzeichner des Manifests werfen auch dem Westen vor, die europäische Sicherheitsordnung untergraben zu haben und nennen als Beispiel die Nato-Intervention im Kosovo 1999. Zu Recht?

Die Autoren machen auch hier eine Rolle rückwärts. Formal stimmt das, der Nato-Einsatz war nicht von einem UN-Mandat gedeckt. Aber der damalige Kanzler Schröder und sein Außenminister Fischer waren überzeugt, dass der Einsatz mit deutscher Beteiligung einen Völkermord beendet, der auch tatsächlich stattgefunden hat. Anscheinend sind die Bilder aus Srebrenica bei den Autoren in Vergessenheit geraten. Genau aus diesem Grund haben die Vereinten Nationen ja später die "Responsibility to protect" aufgenommen, um solche Einsätze mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen. Das zu verschweigen und den damaligen Nato-Einsatz mit Beteiligung der Bundeswehr auf eine Stufe zu stellen mit dem brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, ist schon eine ziemliche intellektuelle Verirrung, die man sonst nur bei der Linkspartei und der AfD findet. Vor allem aber ist es eine Verunglimpfung der Leistung der damaligen Sozialdemokratie.

Fraktionschef Matthias Miersch hat sich von dem Papier distanziert, nennt es aber einen "Debattenbeitrag". Auch die Parteispitze argumentiert, man sei als Volkspartei nun mal breit aufgestellt. Kann die SPD diesen Spagat lange durchhalten?

Nein. Den Fehler begeht die sozialdemokratische Führung bereits seit einiger Zeit: Heikle Debatten werden nur kommunikativ weggebügelt, aber man zeigt inhaltlich keine Führung. Das ist einer der zentralen Gründe, warum das Profil der SPD in der Öffentlichkeit in vielen Bereichen so unklar ist. Und deshalb können wir unsere früheren Wählerinnen und Wähler auch nicht mehr überzeugen.

Was erwarten Sie von SPD-Chef Klingbeil?

Gegen Debattenbeiträge ist nichts einzuwenden, aber die SPD-Führung müsste klar sagen, wofür die Partei steht. Solange das nicht geschieht, gibt es diese Verwirrung bei den Menschen und wir müssen uns nicht über Wahlniederlagen wundern.

Ralf Stegner argumentiert etwa, die SPD dürfe dem BSW und der AfD nicht den Friedensbegriff überlassen. Können Sie wenigstens diesen Punkt nachvollziehen?

Die SPD soll und muss laut und deutlich über Wege zum Frieden reden, daran gibt es doch keinen Zweifel. Sie soll aber nicht die Realität auf den Kopf stellen und so tun, als sei die angeblich fehlende Gesprächsbereitschaft des Westens der Grund dafür, dass weiter gekämpft werde. Nein: Es wird weiter gekämpft, weil der Kriegsherr in Moskau das so will. Und solange das so ist, werden wir die Ukraine auch militärisch unterstützen müssen, damit sie nicht untergeht. Und solange Russland nicht einmal einem Waffenstillstand zustimmt, wird die Diplomatie den Frieden nicht erringen können.

Sozialdemokraten berichten immer wieder von Bürgerdialogen, in denen die Angst vor einer Eskalation des Krieges geschildert wird. Muss man darauf als Regierungspartei nicht eingehen?

Diese Angst gibt es natürlich in der Bevölkerung. Aber es ist auch nicht in Ordnung, den Menschen etwas vorzumachen. Damit werden wir nichts erreichen. Es gibt auch ein großes Bedürfnis nach Sicherheit. Die SPD muss klarmachen, dass wir unsere Verteidigungsausgaben steigern und die Ukraine unterstützen, um letztlich unsere eigene Sicherheit zu erhöhen und die Freiheit unserer Kinder und Enkelkinder zu sichern. Würde Russland den Krieg gegen die Ukraine auf dem Schlachtfeld oder am Verhandlungstisch gewinnen, dann ist Krieg als Mittel zurück in der europäischen Politik und unsere Kinder werden in einem gefährlichen Europa aufwachsen.

Wie groß ist die Strömung innerhalb der SPD, die solche Positionen teilt?

Das lässt sich schwer abschätzen, aber die SPD-Führung hat sich ja bisher während der Kanzlerschaft von Olaf Scholz für einen klaren Kurs entschieden. Dazu braucht es politische Führung. Wenn die nicht kommt, darf man sich über Realitätsverlust nicht wundern.

Würde ein offensives Dazwischengehen der Parteiführung die SPD nicht zerreißen?

Nein, das glaube ich nicht. Was ist die Alternative? Es ist ein unausgesprochener Konflikt, der immer wieder ausbricht und Wähler irritiert. Das zu ignorieren, ist keine Erfolgsstrategie. Die SPD hat zuletzt immer so getan, als sei Geschlossenheit das Wichtigste. Aber es hat dazu geführt, dass unter der Überschrift der Geschlossenheit der größte Unsinn erzählt werden konnte. Geschlossenheit ist nicht alles. Positionen wie in dem Papier sind natürlich legitim, aber genauso legitim ist es, ihnen zu widersprechen, wenn man vom Gegenteil überzeugt ist. Das war bei der SPD ja bis vor Kurzem noch der Fall.

Vielen Dank, Herr Gabriel, fürs Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Sigmar Gabriel
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