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Flucht aus Russland: Fachkräfte wollen unbedingt in den Westen


Russische Fachkräfte fliehen
"Ich wollte in den Westen"


Aktualisiert am 22.09.2022Lesedauer: 5 Min.
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Russen kommen auf dem Hauptbahnhof in Helsinki an (Archivbild): Viele russische Fachkräfte hoffen auf einen Neuanfang in der EU. (Quelle: Giulio Paletta/imago-images-bilder)

Immer mehr junge, gut ausgebildete Leute verlassen Russland, weil sie den Krieg und Putin ablehnen. Ein Moskauer IT-Experte berichtet aus dem Exil in Helsinki.

Andrej wusste, dass er seine Familie in Moskau zurücklassen müsste. Dass er sie und seine Freundinnen und Freunde so schnell nicht wiedersehen würde. Dass er sich in der Fremde ein neues Leben aufbauen müsste. Trotzdem wollte er weg aus Russland, dem Land, das er eigentlich "sein Land" nennt, wo er studierte, Ingenieur und IT-Experte wurde, reiste und lebte. Doch der Krieg änderte alles. "Die Entscheidung war sehr emotional", sagt er. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine war für ihn der Moment gekommen, zu gehen.

Andrej ist 32 Jahre alt und heißt nicht wirklich so, er will aber nicht erkannt werden, jetzt wo er sich ein neues Leben aufbaut. Von Helsinki aus spricht der Russe mit t-online, nimmt sich seine Mittagspause für ein ausführliches Telefonat. "Ich wollte in den Westen", sagt er. "Im Idealfall in die EU, zu einem europäischen Unternehmen." Das wollen derzeit viele junge, gut ausgebildete Russinnen und Russen. Sie packen ihre Sachen und gehen.

Allein aus der IT-Branche flohen bereits im ersten Monat nach Kriegsbeginn etwa 70.000 Spezialistinnen und Spezialisten, das teilte der russische Verband für elektronische Kommunikation mit. Gerade sie sind hochmobil, können problemlos von überall arbeiten. Weitere 100.000 Emigrantinnen und Emigranten erwartete der Verband in den Monaten darauf.

Klar ist aber: Seit Beginn des Kriegs sind tatsächlich schon Hunderttausende geflohen – aus etlichen Branchen. Nun treibt viele Zurückgeblieben die Furcht von der Teilmobilmachung um. Viele Russen sind alarmiert: Könnte es sie treffen?

Eine Russin, die anonym bleiben will, berichtet t-online, Freunde von ihr, potenzielle Reservisten, beratschlagten bereits, wie man das Land verlassen könne, fürchteten aber, dass es zu spät sei. Unsicher sei, ob Russland für die Betroffenen jetzt die Grenze schließe. Frauen, vermutet sie, würden nur einberufen, wenn sie militärische Vorerfahrung haben.

Doch abgesehen von Menschen, die jetzt das Land wegen der Mobilisierung panikartig verlassen wollen, haben bereits in den vergangenen Monaten Ingenieure und IT-Expertinnen, Medien- und Kunstschaffende, Mitarbeitende aus der Wissenschaft, dem Medizinbereich Russland den Rücken gekehrt. Sie eint, dass sie Präsident Wladimir Putin und seinen Angriffskrieg ablehnen. Viele fürchten Repressionen.

Die USA locken explizit Fachkräfte aus Russland an

In der Vergangenheit hatte die Abwanderung begünstigt, dass im Ausland um russische Fachkräfte geworben wurde: In den USA etwa hatte Präsident Joe Biden bereits im April Einreiseerleichterungen für russische Wissenschaftlerinnen und Forscher verkündet. Wer einen Master oder Doktortitel hat, konnte fortan zum Arbeiten übersiedeln, ohne, wie sonst üblich, einen unterschriebenen Arbeitsvertrag vorlegen zu müssen. Auch Deutschland erleichterte nach einiger Zeit die Visaerteilung für politische Geflüchtete aus Russland.

Bei Andrej wurden es nicht die USA oder Deutschland, auch wenn er sehr breit suchte, wie er sagt. Letztlich war es Finnland, das ihn aufbrechen ließ. Eines der ersten Jobangebote erhielt er aus Helsinki, und Andrej zögerte nicht. Obwohl er weder Land noch Leute kannte.

Aufbruchsstimmung bei Tech-Gigant Yandex

Kurz nach Kriegsbeginn war er bereits nach Georgien geflüchtet, so wie es viele Menschen aus Russland tun, weil die Einreise leicht für sie ist. Andrej arbeitete vorerst von dort im Homeoffice für seinen Arbeitgeber Yandex weiter.

Yandex, das ist jener Tech-Riese in Russland, der es mit eigener Suchmaschine, Taxiunternehmen, Lieferdiensten, Forschungssparten zu autonomem Fahren und weiteren Konzernzweigen mit Großkonkurrent Google aufnimmt. Yandex unterhält einen modernen, weitläufigen Campus in der russischen Hauptstadt, dort herrscht mitunter Start-up-Atmosphäre, viele junge Russinnen und Russen schätzen das Gefühl, Teil eines Aufbruchs zu sein, Silicon Valley in Moskau, so die Idee. Auch Andrej gefiel das, eigentlich.

Unzufrieden war er allerdings schon länger mit der Regierung. Aber solange die Politik sein Leben nicht zu sehr beschränkte, er noch einigermaßen frei arbeiten und seinem Alltag nachgehen konnte, nahm er es hin. Der Überfall auf die Ukraine und die anschließenden Gesetzesverschärfungen hätten dann aber ein Ausmaß angenommen, das ihn schockiert habe, sagt er.

Die Meinungsfreiheit in Russland ist nach Kriegsbeginn einmal mehr eingeschränkt worden. Kritik an der sogenannten Spezialoperation in der Ukraine kann als Kritik an der Armee ausgelegt und drakonisch bestraft werden. Ähnlich war es bislang, verwandte man das Wort "Krieg". Ob sich das mit der nun verkündeten Teilmobilmachung ändert, muss sich zeigen.

Angst vor dem Militärdienst

Für Andrej kam hinzu, dass das Risiko immer mitschwang, dass er eines Tages für das Militär eingezogen werde, sagt er. Seit diesem Mittwochmorgen kursiert ein Schreiben in Telegramkanälen, der Erlass zur Teilmobilisierung. Der, sagt Andrej, sei so allgemein gehalten, dass jetzt viele rätselten, wen genau die Mobilmachung treffen werde. Die Angst sei groß. Er selbst fühlt sich in Helsinki sicher. Im Ausland rekrutiere Russland nicht.

Doch umso mehr sieht er sich jetzt in seiner Flucht bestätigt. "Ich bin aus Protest gegen die Politik meiner Regierung gegangen", sagt er. Er wollte nicht mehr in dem Land leben, das seinen Nachbarn angreift, seine Bürger zum Kriegsdienst verpflichtet, sich international isoliert und zunehmend für Unternehmen – auch in seiner Branche, der Tech-Branche, unattraktiv wird.

Immer mehr Konzerne ziehen sich seit Kriegsbeginn aus Russland zurück. Modefirmen wie Adidas, Kaffeehauskonzerne wie Starbucks schließen Filialen, teils übergangsweise, teils dauerhaft. Laut der Yale School of Management sind es derzeit mehr als 1.000 Firmen. Kürzlich verabschiedete sich McDonald's. Kurz danach eröffnete eine Kette mit nahezu identischem Konzept, nur unter anderem Namen, einem russischen: "Lecker und Punkt". Das Signal: Die russische Wirtschaft kann auch ohne westliche Konzerne.

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Und aus der Politik gab es Bestrebungen, der Wirtschaft beizuspringen. Ein Dekret wurde verabschiedet, wonach hoch qualifizierten Softwareentwicklern Steuern erlassen werden sollen. Auch sollten männliche Mitarbeiter von IT-Unternehmen von der Wehrpflicht ausgenommen werden. Letzteres könnte nun hinfällig sein. Ob also Gegenmaßnahmen tatsächlich greifen, um den Braindrain Russlands, also die Abwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte, aufzufangen, ist zweifelhaft.

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"Die Politik interessiert sich nicht groß dafür"

Auch Andrej sieht für seine Branche, insbesondere für Tech-Firmen und Start-ups, einen massiven Wandel voraus – "vor allem bei kleineren russischen Unternehmen, die teils westlich finanziert sind", sagt er. Viele würden ihre Kontakte im Ausland nutzen und abwandern. Außerdem fehle es seiner Branche an politischer Repräsentation. "Was diesen Unternehmen passiert, passiert einfach. Die Politik interessiert sich nicht groß dafür."

Er selbst fühlte sich nach kurzer Zeit in Georgien unwohl als "Hybrid-Emigrant", wie er sagt. Zumal unklar war, wie sehr die Sanktionen der USA und EU russische Konzerne wie seinen Arbeitgeber Yandex künftig beeinträchtigen würden. (Mehr zur Wirkung der Sanktionen lesen Sie hier.) Andrej durchforstete in jeder freien Minute Jobportale, schrieb Bewerbungen. Finnland erwies sich als Glücksgriff.

Rückkehr? Ungewiss

Die dortige europäische Firma bot ihm die Chance, im gleichen Bereich zu arbeiten, wie er es zuvor in Moskau getan hatte. Was genau das ist, will er nicht öffentlich sagen, auch am Telefon schwingt die Angst mit, er könnte sich in Schwierigkeiten bringen. Nur so viel verrät er: Seine Firma sei im Bereich Robotik tätig.

Fraglich ist, ob Ausgewanderte wie der Spezialist Andrej zurückkommen – und wann. Für Andrej steht fest: Nicht nur der Krieg müsste enden, es müsste sich mehr tun. Auch wenn das bedeutet, dass er seine Familie kaum noch sieht. Mit der Teilmobilmachung rückt seine Heimkehr in weite Ferne. "Ich hoffe auf ein schnelles Ende des Kriegs", sagt er. "Aber bevor ich zurückkehre, bräuchte es nicht weniger als einen Wandel im politischen System. Zu viel mehr demokratischen Strukturen, in denen die Zweige der Politik unabhängiger voneinander sind."

Verwendete Quellen
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