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Ukraine-Brief von Wagenknecht und Schwarzer: "Sie haben gar nichts verstanden"


Aufruf gegen Waffenlieferungen
"Sie haben gar nichts verstanden"

MeinungVon Liane Bednarz

Aktualisiert am 14.02.2023Lesedauer: 6 Min.
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Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer haben einen Offenen Brief an die Ukraine geschrieben.Vergrößern des Bildes
Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer haben einen Offenen Brief an den Bundeskanzler und gegen Waffenlieferungen geschrieben. (Quelle: Rolf Vennenbernd/dpa)

Deutsche Friedensbewegte fordern von Kiew, mit Putin zu verhandeln. Das zeugt von Ignoranz, meint die Publizistin Liane Bednarz, die durch die Ukraine gereist ist.

Es ist ausgerechnet der Hammerhai, den die Bombe erwischt hat. Er flog heraus aus der Verankerung in der Wand im Naturkundemuseum von Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Das Museum ist weltweit bekannt und Teil der örtlichen Karasin-Universität. Plump liegt der stolze Knorpelfisch nun auf dem Boden.

Die Szene ist sinnbildlich. Putin will der Ukraine seine Stärke zeigen. Sie brechen. Aber sein Sieg über den ausgestopften Hammerhai ist nur vorläufig. Denn die Ukraine bietet dem Herrscher in Moskau die Stirn. Sogar hier in Charkiw, der Metropole, die zu Beginn des Kriegs rund drei Monate lang unter massivem Artilleriebeschuss gestanden hat. Und derzeit wieder Ziel von Raketenangriffen ist.

Die Ukrainer wehren sich gegen den Kremldespoten mit demonstrativ guter Laune im Angesicht des täglichen Horrors. Was in einem bemerkenswerten Gegensatz zur Jammerei deutscher Schreiber offener Briefe steht, von denen gerade erst wieder ein neuer erschienen ist. Dieses Mal angezettelt vom Duo Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer (mehr dazu lesen Sie hier).

Ukrainischer Zweckoptimismus

Der Direktor Rostislav Luniachek und seine beiden engsten Mitarbeiter führen mich durch das Naturkundemuseum. Insgesamt 190 Fenster sind zerstört, zerborsten durch Detonationen. Überall sieht man hässliche Holzabdeckungen. Aber Rostislav und sein Team geben sich zweckoptimistisch. Man müsse jetzt eben durch diese Zeit durchkommen. Es sei nun einmal, wie es ist.

Ich frage sie, wie sich ihr Leben verändert habe und erhalte als Antwort: "Im Jahr 2022 vergaßen wir die Wissenschaft und die Exkursionen. Unsere wissenschaftlichen Mitarbeiter erlernten die Berufe des Schweißers, Schreiners, Glasers und Verputzers. Alle Anstrengungen konzentrierten sich auf den Erhalt unserer Sammlungen."

Dazu trägt Deutschland signifikant bei. Die Initiative Kulturgutschutz ("Ukraine Art Aid Center") um den Greifswalder Kunsthistoriker Kilian Heck unterstützt viele Museen in der Ukraine. Sie hat auch einen Trockner ins Naturkundemuseum geliefert, der die durch eine Detonation getroffene und durchnässte Decke mit Warmluft behandelt.

Der trotzige Humor im Museum gegen den Schrecken des Krieges ist verblüffend. Lachend wird mir eine Katze gezeigt, die im März 2022 dort geboren wurde. "Javelin" heiße sie und sei nun das Maskottchen. "Javelin" ist der Name einer US-Panzerabwehrwaffe.

Trotz allem Optimismus hat Charkiw gleichwohl etwas von einer Geisterstadt. Im Gegensatz zu anderen Städten des Landes wie Kiew, Odessa und Lwiw sind alle Kultureinrichtungen geschlossen. Ich besuche das Naturkundemuseum wie auch weitere Kulturstätten in den nächsten Tagen nur in Form einer Privatführung. Die Angst vor russischen Angriffen ist zu groß. Verständlich, denn die Grenze ist gerade einmal 20 Kilometer entfernt.

Die Juristin und Publizistin Liane Bednarz.
Liane Bednarz. (Quelle: imago/imago-images-bilder)

Publizistin Liane Bednarz

Die Juristin und Publizistin Liane Bednarz ist im Januar 2023 in die Ukraine gereist. Zusammen mit dem Sprecher der deutschen Schriftstellervereinigung PEN Berlin, Deniz Yücel, hat sie zwei Feuerwehrautos, Stromgeneratoren und weitere Ausrüstung in die ostukrainische Stadt Charkiw gebracht.

Die Willensstärke der Ukrainer ist faszinierend

Anders als in Lwiw im Westen, das ich ein paar Tage später besuche, ist die Beleuchtung von Gebäuden in Charkiw abends abgeschaltet. Auch die Restaurants leeren sich viel früher und nicht erst um 22 Uhr. Die Sperrstunde beginnt schon um 22.30 Uhr und nicht um 23 Uhr. So sehr das Leben selbst im ostukrainischen Winter bei zweistelligen Minusgraden tagsüber erwacht, so schnell zieht es sich am frühen Abend auch wieder zurück. Finster liegt sie dann da, die klirrend kalte Stadt.

Und dennoch: Die Willensstärke der Menschen ist faszinierend. Am ersten Abend gibt es im Staatlichen Akademischen Wiktor-Afanasjew-Puppentheater ein Treffen mit Serhij Zhadan, der als coolster Literat der Ukraine gilt, sozusagen ein Christian Kracht auf Ukrainisch mit einem Debütroman namens "Depeche Mode". Das Theater ist eigentlich auch geschlossen, aber an diesem Abend findet eine Vorstellung für Kinder statt. Ausnahmsweise.

"Wir glauben, dass alles gut wird"

Eine Schauspielerin, die extra aus Kiew angereist ist, zeigt die beeindruckende Geisteshaltung der Ukrainer. Sie sagt: "Wir glauben, dass alles gut wird, weil wir Ukrainer sind. Wir lieben unser Land und wir glauben, dass die Wahrheit gewinnen wird, selbstverständlich". Kurz darauf darf ich mir die Katakomben des Theaters ansehen. Sie befinden sich sehr weit unten, denn das Theater liegt im Gebäude einer denkmalgeschützten Bank.

Dort leben Menschen. Bis heute. Um sich zu schützen. Sie sind geflüchtet aus den Hochhäusern am Rande der Stadt. Serhij Zhadan wohnte am Kriegsbeginn auch drei Monate dort. Es fühlt sich unbehaglich an, die spärlichen Schlafplätze mit den wenigen Habseligkeiten zu sehen.

Ich schäme mich für die Bequemlichkeit so vieler Deutscher. Und für die Briefschreiber erst recht. Die nicht verstehen wollen, dass die Ukrainer sich nur das erhalten möchten, was wir Deutschen seit 1945 haben: Frieden. Sie haben sich seit der Unabhängigkeit 1990 Freiheiten geschaffen, sie streben gen Westen. Teil der russischen Diktatur zu werden und all diese Freiheiten zu verlieren, ist für sie eine unerträgliche Vorstellung.

Der Stahlbeton rettete Charkiw

Das ist das, was in Deutschland zu wenig verstanden wird. Es geht nicht primär um die Erhaltung des Territoriums. Sondern darum, dass alle Menschen, die in besetzten Gebieten leben, ein Leben in einer Diktatur erwartet. Mit gar keinen Freiheiten mehr. Diese Vorstellung ist das, was für die Ukrainer besonders unerträglich ist.

Ich kannte diese Geisteshaltung bereits von meiner ersten Ukraine-Reise im Mai/Juni 2022, die mich nach Lwiw, Kiew, Butscha und Irpin führte. Hier im Osten herrscht dieselbe Haltung. Auch das Gerücht, dass ursprünglich russischsprachige Ukrainer nun bemüht seien, Ukrainisch zu sprechen, erweist sich als zutreffend.

Vor allem aber ist der Stolz auf die Wehrhaftigkeit der Stadt kurz vor der Grenze zu Russland enorm ausgeprägt. Und bei dieser Wehrhaftigkeit haben ausgerechnet Hochhäuser eine entscheidende Rolle gespielt. Ja, es waren wirklich Hochhäuser, die verhindert haben, dass Charkiw völlig dem Erdboden gleichgemacht wurde. Während viele Menschen aus eben solchen flohen, weil sie ein so leichtes Ziel für Raketen sind, wurden zeitgleich andere Hochhäuser der Stadt deren Trutzburg.

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Was ist ihr Geheimnis, also das der schützenden Hochhäuser? Die Antwort lautet: Stahlbeton. Ja, es war Stahlbeton, der vielen Menschen dort das Leben gerettet hat. Teile der Verwaltungsregion rund um Charkiw, dem Oblast Charkiw, waren besetzt. Zwar konnten die Russen die Stadt selbst nicht einnehmen, aber ihre Panzer und Raketenwerfer feuerten im Frühjahr 2022 drei Monate lang auf die Millionenstadt. Gegen den Stahlbeton hatten sie jedoch keine Chance.

Gewiss, die Hochhäuser sind sichtbar beschädigt, aber eben nicht zusammengefallen. In vielen Zimmern brennt sogar Licht. Trotz. Mut. Nicht aufgeben. Der Geist der Ukraine eben. Schon wieder.

Der Geist der Ukraine

Vielleicht nennt man es am besten eine Mischung aus stoischer Haltung und guter Laune, die, wie gesagt, in einem grotesken Gegensatz zu den hiesigen Briefschreibern steht. Und die sämtliche Bevölkerungsschichten erfasst. Von alt bis jung, von links bis konservativ. Jammern und Wehklagen ist zumindest allen Ukrainern, mit denen ich spreche, völlig fremd.

Ich treffe Iryna Shramko, die Direktorin des Archäologischen Museums der Karasin-Universität und ihren wissenschaftlichen Mitarbeiter Stanislav Zadnikov. Und bin baff. So, als sei das alles völlig normal, erzählen sie mir, die ersten knapp drei Monate des Krieges in einer U-Bahn-Station gelebt zu haben, um sich vor dem Beschuss zu schützen, aber jeden Morgen ins Museum gegangen zu sein, um die Exponate in Sicherheit zu bringen. Das Museum liegt im Keller der Universität. Insofern war es vor Beschuss sicher.

Staunend frage ich nach, wie so ein Leben denn ganz praktisch für sie funktioniert habe, vor allem mit Kleidung und Dusche. Die Antwort: Dafür sei man kurz nach Hause gegangen und dann wieder zurück zum Schlafplatz in der U-Bahn gekehrt. So sei es einfach gewesen. Und ihre Aufgabe habe nun einmal darin bestanden, sich um die Exponate zu kümmern. Erneut kein Jammern. Nicht einmal im Ansatz.

Gute Stimmung im Opernhaus

Ein paar Tage später zurück in Lwiw ist der Trotz ebenso ausgeprägt. Es ist Freitagabend. Die Oper hat schon seit Monaten wieder geöffnet. Und was wird gespielt? "Die Fledermaus" von Johann Strauß. Vielleicht die lustigste und heiterste Operette überhaupt. Auf Facebook fragt jemand bewundernd, wie man so sein kann. So heroisch. Statt eines Trauerspiels so ein Stück aufzuführen.

Die Stimmung im schönen Opernhaus ist bestens. Menschen trinken Sekt in den Pausen, die es anders als in Deutschland nach jedem Akt gibt. Und das in permanenter Gegenwart des Krieges. Kurz vor dem Beginn der Vorstellung kommt eine Durchsage. Falls es Luftalarm gebe, müssten alle schnell in den Keller, aber solange der Alarm nicht länger als eine Stunde andauere, würde man weiterspielen. Dann stimmt das Orchester sozusagen als Vor-Ouvertüre die Nationalhymne an. Die Besucher fassen sich an die Brust.

In der Stadt selbst ist der Pragmatismus ebenfalls allgegenwärtig. Jetzt, im Winter, ist es anders als noch im letzten Frühjahr vor allem laut. Wegen der Strom-Generatoren. Überall in der Altstadt vor den Geschäften brummen sie. Oder sind zumindest für den Fall der Fälle da. Nach der Oper geht es in ein Restaurant. Plötzlich geht der Strom aus. Es dauert keine Minute, bis ein Generator anspringt. Und zack, ist das Licht wieder da. Niemand verzieht eine Miene. Kriegsnormalität.

Als ich gen Polen abreise, denke ich wie schon oft: Das deutsche Briefschreibertum hat nichts, aber auch gar nichts von der Ukraine und ihrer Seele verstanden. Sie hat getreu der Ballade in "Mackie Messer" Zähne, die Ukraine. Sie ist selbst ein Hai gegen den Aggressor aus Moskau. Da fällt ein einzelner aus der Wand gefallener Hammerhai in der Ostukraine nicht weiter ins Gewicht.

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