Krieg in der Ukraine Es droht der Zusammenbruch
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die russische Armee stößt im Osten der Ukraine immer schneller vor. Schon bald könnten Wladimir Putins Truppen vor der letzten großen ukrainischen Verteidigungslinie in Donezk stehen. Die Lage für Kiew ist ernst.
Explosionen in der Nähe von Moskau. Als Reaktion auf die verheerenden russischen Drohnen- und Raketenangriffe auf die Ukraine in der vergangenen Woche griff die ukrainische Armee am Sonntag kritische Infrastruktur in Russland an. Die Drohnen flogen über russisches Staatsgebiet und stürzten sich auf ihre Ziele, vor allem Kraftwerke, eine Pipeline wurde getroffen. Auf den Videos, die seit dem Wochenende im Netz kursieren, ist allerdings nicht ersichtlich, wie groß der Schaden an der russischen Infrastruktur ist.
Die Angriffe sind die Vergeltung, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj angekündigt hatte. Doch die Anzahl der eingesetzten Drohnen war überschaubar. Russland dagegen beschießt auch am Dienstag wieder U-Bahnhöfe, Supermärkte oder Sportstätten. Wladimir Putin nimmt zivile Opfer nicht nur in Kauf, sondern seine Armee greift sie gezielt an. Diese russische Strategie ist nicht neu, aber sie wirkt sich zunehmend schrecklich auf die Lage in der Ukraine aus, in der die Menschen schon jetzt Angst vor einem Winter in Dunkelheit haben. Und abseits des russischen Raketenterrors sieht es auch militärisch für die Ukraine schlecht aus.
Russland scheint vor allem im Osten der Ukraine immer mehr auf der Siegerstraße zu sein. Putins Truppen rücken immer schneller vor und kommen immer näher an die letzte große Verteidigungslinie im Donbass. Sollte die russische Armee diese überwinden, könnte die komplette Region für die Ukraine verloren sein.
Skepsis: War die Kursk-Offensive strategisch richtig?
Auch deshalb steht Selenskyj in der Ukraine innenpolitisch unter Druck. Es war ein riskantes Manöver, Anfang August eine Offensive in der russischen Region Kursk zu starten, anstatt die ukrainischen Verbände im Osten der Ukraine zu verstärken. Die genauen Zahlen sind unklar, aber in Südrussland sollen 10.000 bis 20.000 ukrainische Soldaten und schweres militärisches Gerät im Einsatz sein.
Diese Kräfte fehlen aktuell im Donbass. Und damit stellt sich die Frage: War es das aus ukrainischer Perspektive wert?
Experten sind bei der Bewertung der Kursk-Offensive noch zurückhaltend. Die Motive der Ukraine für den Angriff auf Russland liegen aber auf der Hand: Es würde vermutlich Jahre dauern, das eigene Staatsgebiet im Osten zu befreien. Zu stark sind mittlerweile die russischen Verteidigungsstellungen. Kursk dagegen wurde von Russland kaum geschützt. Das bot Kiew eine Chance für große Raumgewinne.
Dieses Ziel wurde aus ukrainischer Perspektive erreicht. Etwa 1.000 Quadratkilometer will die ukrainische Armee seit Anfang August erobert haben. Bislang konnte Russland diese Offensive zwar deutlich verlangsamen, aber eben noch nicht stoppen. Zum Vergleich: Russland soll im selben Zeitraum etwa 500 Quadratkilometer im Donbass erobert haben.
Trotzdem ist es natürlich für Selenskyj schwer vermittelbar, warum er Territorium in Donezk teilweise fast ohne Gegenwehr aufgibt. Bislang ist es der Ukraine immer gelungen, der russischen Armee bei Rückzugsgefechten schwere Verluste zuzufügen. Denn das ist die Logik des Abnutzungskriegs: Wer den längeren Atem hat, weniger schnell erschöpft ist, diese Seite wird wahrscheinlich den Krieg gewinnen. Der Ukraine kann es also egal sein, wo gekämpft wird – solange das Abnutzungsverhältnis passt.
Nato-General warnt vor Niederlage
Diese Logik passt auch auf Kursk: Russland muss nun das eigene Staatsgebiet unter Inkaufnahme wahrscheinlich hoher Verluste wieder zurückerobern. Der Militärexperte Gustav Gressel wies zudem im Gespräch mit dem ZDF darauf hin, dass der ukrainische Angriff auf Südrussland auch politische Gründe hat. Kiew wollte wahrscheinlich Handlungsfähigkeit demonstrieren, denn die Unterstützung aus den USA und Deutschland ist derzeit zögerlich.
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Selenskyj wollte damit wahrscheinlich demonstrieren, dass westliche Investitionen sich lohnen und die Ukraine noch immer in der Lage ist, erfolgreiche Operationen durchzuführen. Der politische Kampf des ukrainischen Präsidenten ist momentan noch wichtiger als der gegenwärtige militärische Druck in Kursk oder Donezk.
Auch die Versorgungslage ist für die Ukraine weiterhin dramatisch. Selenskyj warb am Montag erneut dafür, westliche Waffen auch weiter im Landesinneren von Russland einsetzen zu dürfen. Denn diese westliche Fessel für die Ukraine besteht noch immer. Hinzu kommt, dass die ukrainische Armee modernere Waffensysteme aus dem Westen benötigen wird, um der Quantität an Soldaten und Material etwas entgegensetzen zu können.
Doch das ist aktuell nicht in Sicht. Die USA sind auf den Wahlkampf fokussiert, Frankreich hat noch keine neue Regierung, Deutschland halbiert seine Ukraine-Hilfe. Der ehemalige Nato-Oberkommandant Philip Breedlove betonte gegenüber dem US-Nachrichtenmagazin "Newsweek": "Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird die Ukraine letztendlich verlieren." Die Ukraine kämpft demnach weiterhin an einigen militärischen und politischen Fronten.
Ukrainische Verteidigung im Donbass könnte zusammenbrechen
Kiew möchte in Kursk also schnelle militärische Erfolge erzielen. Doch Selenskyjs Schachzug könnte sich als Fehler erweisen: Denn überrollt Russland die ukrainische Armee im Osten, könnte das Vertrauen in die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine weiter erschüttert werden.
Ein gutes Beispiel dafür, was aktuell im Osten des Landes passiert, ist die russische Einnahme der Bergbaustadt Nowohrodiwka in der Oblast Donezk. Die Stadt wurde in wenigen Tagen komplett erobert, obwohl Gebäude aus Beton oder ein Bergwerk eine Verteidigung möglich gemacht hätten. Aber die ukrainische Armee verteidigte hier kaum, zog sich zurück, während russische Verbände vor allem mit Infanterie und Schützenpanzern die Stadt unter ihre Kontrolle brachten. Auf Drohnenbildern der russischen Armee sind kaum Zerstörungen zu sehen.
Die Ukraine scheint die russische Armee in diesem Frontabschnitt derzeit nicht mehr in Rückzugsgefechte verwickeln zu können. Möglich ist, dass die ukrainische Armee auf ihre gut ausgebaute Verteidigungslinie bei Prokowsk vertraut. Das Problem: Es ist die letzte verbliebene ukrainische Linie in Donezk. Sollte hier Russland ein Durchbruch gelingen, würde Putins Armee wahrscheinlich den kompletten Donbass unter ihre Kontrolle bringen.
Die gute Nachricht aus Perspektive Kiews ist allerdings, dass Russland dafür noch Jahre brauchen könnte. Trotzdem steht Selenskyj innenpolitisch unter Druck. Während Russland Truppen nach Kursk verlegt, könnte auch die Ukraine zunehmend gezwungen sein, die Front im Donbass zu stärken – es ist ein ständiges Schachspiel, bei dem Kiew ein strategisches Ziel der Kursk-Offensive bislang nicht erreicht hat: die Schwächung der russischen Angriffsintensität in Donezk.
Russland zeigt keine Verhandlungsbereitschaft
Im Gegenteil. Putin scheint gewillt zu sein, einen Teil seines Territoriums zeitweise aufzugeben, für einen Sieg im Osten der Ukraine. Auch im Informationsraum tobt zwischen Kiew und Moskau gegenwärtig ein wilder Kampf um die Deutungshoheit. Selenskyj betont die ukrainischen Erfolge in der Region Kursk, Putin lobt dagegen russische Gewinne im Donbass. Die Armee mache in der Ostukraine Fortschritte in einem "Tempo, wie wir es lange nicht mehr hatten", erklärte der russische Präsident am Montag in der Mongolei.
Auch der Kreml steht unter Druck, schließlich kündigte Putin auch am Montag wieder an, die ukrainischen "Banditen" aus Russland vertreiben zu wollen. Aber damit scheint sich Moskau Zeit zu lassen, man vertraut darauf, dass die ukrainische Offensive nun weitestgehend gestoppt wurde. Auch das ist wiederum eine Taktik mit hohem Risiko, denn je länger sich ukrainische Truppen in der Region festsetzen, desto schwieriger wird es für Russland, diese Gebiete zurückzuerobern.
Laut Selenskyj ist es ein weiteres Ziel der Kursk-Offensive, Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen. Auch das klappt bislang offensichtlich nicht. Der Kreml lässt in diesen Tagen keinen Zweifel daran, dass Russland aktuell Verhandlungen ablehnt. Putin sagte noch im März: "Jetzt zu verhandeln, nur weil ihnen die Munition ausgeht, wäre irgendwie lächerlich von unserer Seite." Kremlsprecher Dmitri Peskow betonte wiederholt seine Skepsis, dass auch Donald Trump den Krieg nicht beenden könne.
Das zeigt vor allem eines: Russland setzt auf Sieg. In der Psychologie hat man eine Begrifflichkeit für ein solches Verhalten: eskalierendes Commitment. Es beschreibt einen Geisteszustand, in dem ein Mensch schon sehr viel in eine Sache investiert hat – Zeit, Geld, Prestige oder eben Menschenleben. In dem Zustand neigen Menschen dazu, an einer Sache festzuhalten, um diese Verluste wettzumachen. In diesem Bild ist Putin ein Spieler, der im Casino schon sehr viel verloren hat und trotzdem weitermacht. Ob er am Ende gewinnt, die Ukraine unter seine Kontrolle bringt, liegt aber vor allem in den Händen des Westens. Darüber können auch die aktuellen Entwicklungen nicht hinwegtäuschen.
- mdr.de: Russland verzeichnet offenbar stärkste Geländegewinne seit fast zwei Jahren
- deepstatemap.live: Aktueller Frontverlauf
- spiegel.de: Ukraine attackiert Kraftwerke bei Moskau
- zdf.de: Offensive auf Kursk verlangsamt sich
- fr.de: Früherer Nato-Kommandant warnt: Neue Wende im Ukraine-Krieg droht
- zeit.de: Russland erobert laut Putin Gebiete in Kursk zurück
- deutschlandfunk.de: Russische Armee rückt in der Ostukraine weiter vor
- Nachrichtenagenturen dpa und afp