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Champions-League-Finale: FC Chelsea – Der wahre Zauber des Thomas Tuchel


Deutscher Coach vor CL-Coup
Thomas Tuchel, der perfektionistische Pragmatiker

  • Dominik Sliskovic
Von Dominik Sliskovic

Aktualisiert am 29.05.2021Lesedauer: 5 Min.
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Thomas Tuchel: Der deutsche Coach greift mit dem FC Chelsea nach dem Champions--League-Titel.Vergrößern des Bildes
Thomas Tuchel: Der deutsche Coach greift mit dem FC Chelsea nach dem Champions--League-Titel. (Quelle: AFLOSPORT/imago-images-bilder)

Zum zweiten Mal in Folge steht Thomas Tuchel im Finale der Champions League. Mit dem FC Chelsea will der 47-Jährige seine Senkrechtkarriere früh krönen. Helfen könnte dabei sein neu entdeckter Pragmatismus.

Für Thomas Tuchel ist die Ausgangslage vor dem Champions-League-Finale gegen Manchester City (Samstag, ab 21 Uhr im Liveticker bei t-online) klar. "Wir sind da, um den Titel zu holen", sagte der deutsche Cheftrainer der "Blues" im Interview mit DAZN. Dabei ist es eine mittelgroße Sensation, dass sich die Londoner im Estadio do Dragao in Porto gegen den Premier-League-Konkurrenten und amtierenden englischer Meister um den Henkelpott duellieren werden – und zu weiten Teilen der Verdienst Tuchels.

Vor gut vier Monaten übernahm der frühere Trainer des FSV Mainz 05 und Borussia Dortmund das Team von der Stamford Bridge. Unter Klublegende Frank Lampard war das vor der Saison für über 200 Millionen Euro verstärkte Starensemble in einen chaotischen Abwärtsstrudel geraten, zeitweise stand der sechsfache englische Meister nur auf Platz zwölf der Tabelle, die Abwehr glich einem Schweizer Käse, ein strukturiertes Spiel nach vorne war trotz Ausnahmeaufbauspielern wie Jorginho, N'golo Kanté und Mateo Kovacic nicht erkennbar.

Tuchel mit Chelsea zu Beginn zehn Mal in Folge ungeschlagen

Tuchel gelang, all dies innerhalb kürzester Zeit zu ändern. Gleich die ersten zehn Ligapartien unter dem neuen Übungsleiter blieb Chelsea ohne Niederlage, in der Champions League räumte das Team das Abwehrbollwerk Atletico Madrid mit zwei Siegen aus dem Weg, später dessen Lokalrivalen und Rekordtitelträger Real. Noch vor dem letzten Anpfiff der Saison kann sich Tuchel für seine Verdienste auf die Schultern klopfen lassen: Punktedurchschnitt von 2,0, Einzug ins Endspiel der Champions League, zudem die Qualifikation für die kommende Königsklasse-Spielzeit mit Platz vier in der Premier League gesichert.

Blickt man auf diese vergangenen 123 Tage fragt man sich unweigerlich: Wie ist es Tuchel gelungen, Chelsea so markerschütternd zu transformieren? Die Antwort liegt dabei nicht so sehr in seinem wiederholt heraufbeschworenen taktischem Mastermind, sondern vielmehr in seiner Menschenführung. Wer die Übertragung von Chelsea-Partien nicht direkt nach dem Abpfiff ausgeschaltet hat, hat den wahren Zauber des Trainers Thomas Tuchel zumindest ein Stück weit aus der Ferne beiwohnen dürfen.

Motzten die Profis noch vor Kurzem über die einseitige, autoritäre Kommunikation und die kaltherzige Menschenführung Lampards, der sich nach Partien ganz offensichtlich nur widerwillig zu einem obligatorischen Abklatschen seiner Spieler durchringen konnte, sieht man nun an selber Stelle viele lächelnde Gesichter, lange, innige Umarmungen und taktische Zwiegespräche. "Wir Spieler spüren seit dem ersten Treffen, seit dem ersten Spiel diese tolle Verbindung zu ihm", sagte Mittelfeldass Kovacic der BBC über Tuchel. "Es ist, als sei er schon seit zwei Jahren bei uns." Der Gepriesene selbst erwiderte darauf kürzlich bei der BBC fast schüchtern: "Ich will nicht über mich selbst reden, ich mache einfach das, was ich kann, auf die bestmögliche Weise."

Tuchels Selbstverständnis: Ich diene einzig meinen Spielern

Der einschlagende Erfolg Tuchels beim FC Chelsea ist auch seinem Selbstverständnis als Trainer geschuldet. "Fußball ist ein Spiel der Spieler. Wir Trainer dienen einzig unseren Spielern", ließ er sich einst zitieren. Ausgerechnet mit dieser für einen Fußballtrainer altruistischen Moral eckt der gebürtige Schwabe an – eben weil der Fußball viel mehr Protagonisten als die 22 Spieler auf dem Platz hat. In Dortmund verbannte er Chefscout Sven Mislintat vom Trainingsgelände und forderte bei Klub-Patron Hans-Joachim Watzke mehr Mitspracherecht in der Transferpolitik, bei Paris Saint-Germain – seiner letzten Station vor Chelsea – zweifelte er immer wieder subtil die Entscheidungskompetenz von Sportdirektor Leonardo an.

"Transferfenster können Stimmungskiller sein", sagte Tuchel kürzlich auf seine Zeit bei PSG angesprochen. Er fühle sich bei Chelsea auch so wohl, weil "es hier bis hierhin nur ums Coachen geht." Dennoch erwarten viele englische Experten keinen Stimmungs-GAU, wenn am 1. Juli der Sommerschlussverkauf auf dem Fußballmarkt beginnt – auch weil die von Klubbesitzer Roman Abramowitsch eingesetzte Generaldirektorin Marina Granovskaia Personen wie Tuchel, die hitzige Diskussionen trotz aller Emotionalität konstruktiv und auf Augenhöhe führen können, sehr schätzt.

Dass Tuchel seine Arbeit so ernst und verbissen angeht, hat auch mit seiner fußballerischen Herkunft zu tun. Unter Ralf Rangnick spielte er beim SSV Ulm Regionalliga, musste noch vor dem Durchmarsch des Klubs in die Bundesliga seine aktive Karriere im Alter von nur 24 Jahren wegen eines Knorpelschadens im Knie beenden. Tuchel begann BWL zu studieren, jobbte als Barkeeper in Stuttgart, verlor den Traum vom Leben im und vom Fußball jedoch nicht aus den Augen. Wenn nicht als Profi, dann als Trainer. Die Ausgangslage war steinig, doch der Glaube war da.

"Eine Fußballmannschaft zu trainieren ist etwas, was du erlernen und verstehen musst, und nicht etwas, was du tust, weil es dein letzter Strohhalm ist, oder weil es dir wie der logische nächste Schritt nach 400 Profieinsätzen vorkommt." Noch so ein Satz, der Tuchels Selbstverständnis unterstreicht und seinen Arbeitseifer erklärt. Als Trainer strebt er nicht weniger als die Perfektion an, weil es immer etwas zu verbessern gibt – und weil es ihm Rangnick, noch so eine Trainergrande ohne Profispielererfahrung, als junger Fußballer vorgelebt hat.

Guardiola sagte Tuchels Weltkarriere voraus

"Er analysiert einfach alles, Disziplin ist das A und O für seine Arbeit", erzählte Christian Heidel dem "Kicker". Tuchels Förderer aus Mainzer Tagen weiter: "Jedes Training muss perfekt sein, jede Vorbereitung muss perfekt sein, jedes Spiel muss perfekt sein. Und an jeden stellt er die gleichen Anforderungen wie an sich selbst." Es ist dieser Ethos, der Pep Guardiola seinen Biografen Marti Perarnau bereits 2015 notieren ließ, Tuchel sei der Trainer mit dem größten Potenzial im Weltfußball – aber auch der Grund, dass seine Sympathiepunkte bei den BVB-Fans nie den Negativbereich verließen. Tuchel musste erst lernen, dass, wenn er aus Performancegründen strikt auf Gluten und Alkohol verzichtet, seine Spieler seinem Vorbild nicht vollends folgen müssen.

Die spannendste Transformation hat auch deshalb Tuchel selbst vollzogen. Nach seinem unrühmlichen Aus beim BVB konzentrierte er sich verstärkt auf die Arbeit auf dem Platz und die Ansprache in der Kabine. Allüren und Attitüden von Superstars wie Neymar und Kylian Mbappé moderierte er gekonnt ab und lernte mit ihnen im Arbeitsalltag umzugehen. Der Perfektionist Tuchel ließ sich nach und nach ein dickes Fell aus Pragmatismus anwachsen.

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So agierte er bei seinem Amtsantritt in London auch zunächst als Zuhörer, horchte, wie man so schön sagt, in die Mannschaft rein, statt wie viele Trainer den Fehler zu machen, sein bevorzugtes Spielsystem auf die einem noch nahezu unbekannte Mannschaft zu oktroyieren. Tuchel erkannte in den Gesprächen, dass das ansonsten von ihm auch bevorzugte 4-3-3, das Lampard spielen ließ, dem Gegner zu viel Zugriffsmöglichkeiten in den Mittelfeldhalbräumen gab, das Umschaltspiel durch zwei tief gebundene Außenverteidiger und nur einem unmobilen Sechser lahmte. Der Taktiktüftler stellte auf ein hochflexibles 3-4-2-1 um, durch das die klar definierte Dreierkette mehr Absicherung bei Tempogegenstößen erhielt und führte die Doppelsechs ein, die insbesondere Kanté entlastete. Verloren die "Blues" unter Lampard im 4-3-3 gegen Meister Manchester City Anfang Januar noch 1:3, gewannen sie das Rückspiel in der neuen Grundformation unter Tuchel mit 2:1.

Auch deshalb zeigt sich Chelsea-Legende Frank Sinclair begeistert vom neuen Coach. Der BBC sagte der frühere jamaikanische Naitonalspieler: "Es gab diesen massiven Umschwung in der Teamleistung, den man Tuchel nicht hoch genug anrechnen kann."

Trotz all des Lobs für seinen neu entdeckten Pragmatismus wird Tuchel auch weiterhin seinen Traineridealen treu bleiben. Auch vor dem Champions-League-Finale gegen ManCity, seinem zweiten Anlauf auf den Henkelpott, nachdem er im vergangenen Jahr im Endspiel von Lissabon mit Paris gegen den FC Bayern unterlag. "Wenn ich Spieler wäre, wäre ich nicht sicher, ob ich die Geschichte meines Trainers hören wollen würde, der im vergangenen Jahr mit einem anderen Team im Finale stand", erklärte Tuchel vor der Abreise nach Portugal. Schließlich ist es ja das Finale der Spieler.

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