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EU-Streit mit Impfherstellern: Das ist auch von der Leyens Debakel


Von der Leyens Impfdebakel
Die Moralapostel

MeinungVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 29.01.2021Lesedauer: 5 Min.
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Ursula von der Leyen (CDU) bei einer Videokonferenz beim Weltwirtschaftsforum in Davos: Die EU-Kommissionschefin nimmt die Impfhersteller in die Pflicht, zugesagte Liefermengen einzuhalten.Vergrößern des Bildes
Ursula von der Leyen (CDU) bei einer Videokonferenz beim Weltwirtschaftsforum in Davos: Die EU-Kommissionschefin nimmt die Impfhersteller in die Pflicht, zugesagte Liefermengen einzuhalten. (Quelle: dpa-bilder)

Die EU erhält vorerst viel weniger Impfdosen als geplant. Nach der schlechten Nachricht tobt in Brüssel ein heftiger Streit. Die Kommission gibt ausschließlich den Herstellern die Schuld – trotz eigener Fehler.

Moral ist in der Politik oft ein Feigenblatt. Für Politiker ist sie aber vor allem die Möglichkeit, sich am Ende einer ausweglosen Debatte zumindest "im Recht" zu fühlen. Im Streit zwischen der Europäischen Union und den Impfherstellern um verzögerte Lieferungen wird in Brüssel derzeit viel mit Moral argumentiert.

Die EU-Kommission erinnert die Hersteller an ihre moralische und gesellschaftliche Verpflichtung, die versprochenen Liefermengen im ersten Quartal einzuhalten. Aber auch hier gilt, besonders für ein politisches Schwergewicht wie die EU: Wer am Ende bei der Einhaltung von Verträgen auf Moral pochen muss, hat auch schlecht verhandelt. Und selbst Fehler gemacht.

Impfdebakel wird zum Misserfolg für die EU

Das gilt insbesondere für Ursula von der Leyen, die als Kommissionschefin die europäische Impfkampagne zur Chefinnensache erklärte. Seither verkaufte sie jede Impfstoff-Zulassung mit Herstellern in der Corona-Pandemie als großen Erfolg – und sie trat bei jedem neuen Vertrag vor die Presse, um ihn zu verkünden. Der Gedanke dahinter ist nachvollziehbar: Die EU soll zeigen, dass sie derartige, fundamentale Krisen gemeinsam und geschlossen bewältigen kann. Nach dem Brexit, nach den Zerwürfnissen in Fragen der Migrations- und Flüchtlingspolitik, ist die Pandemie eine existenzielle Bewährungsprobe für die EU.

Doch spätestens seit dem Bekanntwerden des Impfdebakels wird es immer schwieriger für von der Leyen, die Strategie der Kommission in der Krise als Errungenschaft europäischer Zusammenarbeit zu verkaufen. Kritik an eben dieser Strategie begegnet man wiederum mit Moral: Stimmen, die beispielsweise die europaweite Zulassung der Impfstoffe hinterfragen, werden schnell als "Impfnationalismus" und "uneuropäisch" abgetan.

Dabei gibt es vier elementare Fehleinschätzungen von der Leyens und der EU-Kommission, die maßgeblich für die gegenwärtige Impfsituation verantwortlich sind:

1. Tempo und Preisdrückerei

Bei der Beschaffung der Impfdosen durch die EU zeigt sich, dass das Volumen der Bestellung für die Bevölkerung ausreicht, das Tempo der Lieferungen allerdings nicht. Momentan wurden bis zu 2,3 Milliarden Dosen – teils fest, teils als Option – von sechs Herstellern bestellt: Biontech-Pfizer (bis zu 600 Millionen) und Moderna (160 Millionen), deren Impfstoffe schon genehmigt sind, sowie Astrazeneca (400 Millionen), Johnson & Johnson (400 Millionen), Curevac (405 Millionen) und Sanofi (300 Millionen).

Die EU war mit dem Abschluss der Verträge mit den Impfherstellern schlichtweg langsamer als beispielsweise Großbritannien, die USA oder Israel. Der Vertrag mit Biontech/ Pfizer wurde erst am 11. November abgeschlossen. Die Länder, die früher bestellt haben, erhalten bei Knappheit den Vorzug. Das durfte die EU nicht überraschen, zumal jedes Unternehmen in der Marktwirtschaft nach diesem Schema agiert.

Von der Leyen weist diese Kritik zurück. Dass Großbritannien früher bestellt habe, spiele für die Lieferpflichten des Unternehmens keine Rolle. "Das ist nicht wie beim Bäcker, wo man Schlange steht", sagte sie. Doch offenbar handeln die Impfhersteller nach eben dieser Bäcker-Logik – das ist die Realität.

Zum fehlenden Tempo trug die schleppende Verhandlung vor den Vertragsabschlüssen bei. Die zuständige Kommissarin Stella Kyriakides versuchte zum Beispiel die Preise des Anbieters Biontech/ Pfizer zu drücken. Osteuropäischen Regierungen war der Impfstoff, der am schnellsten fertig wurde, schlichtweg zu teuer.

2. Impfhersteller sind keine wohltätigen Vereine

Die Moralisierung der Impfstofflieferungen schlägt auch deshalb fehl, weil es sich bei den Anbietern um Unternehmen handelt, die primär aus eigenem wirtschaftlichen Interesse handeln. Die Unternehmen handeln momentan mit dem vielleicht wertvollsten Gut auf der Welt – und so treten sie in den Verhandlungen auf. Auch davon schien die EU überrascht zu sein. Es gilt auch hier: Nicht wer mehr bestellt, bekommt mehr Impfstoffe, sondern wer mehr bezahlt.

Das ist auch ein Grund, warum die Lieferungen in die USA und nach Israel erfüllt wurden. Dass es hierbei um harte Wirtschaftsinteressen geht, zeigt sich schon in den Verhandlungen. Biontech und Pfizer hatten Insidern zufolge versucht, im Vertrag zu verankern, dass sie nicht für Lieferengpässe haftbar gemacht werden können und dass juristische Streitigkeiten vor einem internationalen Schiedsgericht ausgetragen werden. Darauf ließ sich die EU offenbar aber nicht ein.

"Die EU-Mitgliedstaaten sind sich einig: Impfhersteller haben moralische, gesellschaftliche und vertragliche Verpflichtungen aufrechtzuhalten", meint EU-Gesundheitskommissarin Kyriakides. Vertrauen und Moral sollten allerdings keine Grundlage für das Einhalten von Verträgen sein.

3. Schwachpunkte im Vertrag

Momentan eskaliert vor allem der Streit zwischen der EU und dem Impfstoffhersteller Astrazeneca. Dabei steht Wort gegen Wort: Die EU geht davon aus, dass sich das Unternehmen für eine Lieferung über 80 Millionen Impfdosen im ersten Quartal vertraglich verpflichtet hat – liefern können sie nun tatsächlich nur 31 Millionen.

Der Chef von Astrazeneca, Pascal Soriot, hält dagegen: Es gebe keine festen Zusagen des Unternehmens im Hinblick auf die Liefermengen: "Wir haben unseren 'best effort' zugesagt, dass wir uns im besten Sinne bemühen.", sagte Soriot der "Welt". Er verwies auf die langsamen Vertragsverhandlungen mit der EU, Großbritannien habe die Verträge drei Monate früher unterzeichnet.

Bislang wurde nur der Vertrag mit dem Impfanbieter Curevac in Teilen veröffentlicht, darin ist eine vertragliche Verpflichtung über Liefermengen geregelt. Das gelte scheinbar auch für Astrazeneca: "Der Vertrag ist glasklar", sagte von der Leyen. Den Vertrag hat die EU am Freitag veröffentlich, aber wichtige Passagen des Dokuments wurden allerdings unter Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse geschwärzt. Darunter sind auch die für das erste Quartal vorgesehenen Liefermengen. Die Veröffentlichung ist demnach eine Farce.

Doch selbst wenn das auch auf die Einigungen mit Astrazeneca zutrifft, ist sich das Unternehmen intern über diesen Umstand und über die juristischen Konsequenzen bei Nichteinhaltung des Vertrages bewusst. Großbritannien scheint daher zumindest Verträge mit Astrazeneca zu haben, in denen Verstöße strenger sanktioniert werden. Dort gibt es keine Engpässe bei den Lieferungen des Unternehmens.

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4. Naivität bei der Finanzierung der Forschung

Europa habe viel "investiert, um die Entwicklung der weltweit ersten COVID-19-Impfstoffe zu unterstützen", erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Damit will sie die Impfstoffhersteller in die Pflicht nehmen, ihre Lieferzusagen einzuhalten. Moralisch ist das nachzuvollziehen, aber rechtlich nicht bindend.

So habe beispielsweise Astrazeneca eine Zusage von der EU über 336 Millionen Euro für die Forschung und die Sicherung der Produktion erhalten. Dies sei mit dem Versprechen zur Bereitstellung der Impfdosen verknüpft gewesen.

Auch dabei hätte im Bewusstsein der EU verankert sein müssen, dass man mit Monopolisten verhandelt, die momentan über einen riesigen Absatzmarkt verfügen. Besonders wenn Brüssel die Forschung des Impfstoffes mitfinanziert, müssen Lieferversprechungen eingehalten werden – deutlich schärfere Sanktionen bei Vertragsbrüchigkeit wären dabei angebracht gewesen.

Es ist Zeit für Fakten, nicht für Moral

All diese Fehler sind umso bemerkenswerter, weil es eigentlich viele Gründe für eine geschlossene europäische Strategie im Kampf gegen Corona gibt. Von der Leyen und die EU-Kommission bedenken dabei aber nicht: Wenn sie sich vor den eigenen Fehlern wegducken – Kritik mit Moral anstatt mit Argumenten begegnen – wird das letztlich viel mehr Vertrauen kosten.

In der gegenwärtigen Situation kann die EU nur noch juristisch gegen die fehlenden Impflieferungen vorgehen, das würde langwierige Prozesse bedeuten, die Europa in der Pandemie nicht weiterhelfen. Das politische Schwert dagegen wäre schärfer: Man könnte Impfexporte regulieren und das Patent auf die Herstellung des Impfstoffes aussetzen – so wie die Welthandelsorganisation (WTO) es zur schnelleren Impfstoffproduktion vorgeschlagen hat.

Anstatt aber die eigene Verantwortung in dem Impfchaos klar zu benennen, läuft ein endloses Drama der (moralischen) Schuldzuweisungen zwischen der EU und den Impfherstellern. Das verbaut die Sicht auf das Problem und auf einen konstruktiven Diskurs, wie wir schnellstmöglich aus diesem Schlamassel herauskommen können. Eines ist klar: Selbst wenn die Hersteller durch die Verzögerung bei den Lieferungen vertragsbrüchig werden, hat die EU-Kommission bei der Beschaffung Fehler gemacht.

Die müssen offen diskutiert werden, besonders weil sie Menschenleben kosten werden. Es ist nun an der Zeit, dass von der Leyen der Kritik nicht mehr mit Moral, sondern mit Fakten begegnet.

Verwendete Quellen
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