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Bedrohen die Taliban den Westen? "Wir alle sollten sie fürchten"


Ahmad Massoud
"Das kann Putin überhaupt nicht gebrauchen"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 28.04.2023Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Ein Taliban-Kämpfer in den Straßen Kabuls (Archivbild): Die Religionskrieger führen ein äußerst repressives Regime in dem Land.Vergrößern des Bildes
Ein Taliban-Kämpfer in den Straßen Kabuls (Archivbild): Die Religionskrieger führen ein äußerst repressives Regime in dem Land. (Quelle: Antonin Burat / Le Pictorium)

Russlands Krieg gegen die Ukraine dominiert die Weltpolitik, Afghanistan unter den Taliban scheint vergessen. Das könnte sich als gewaltiger Fehler erweisen, warnt mit Ahmad Massoud ein Gegner der Terroristen.

2021 zogen die westlichen Truppen aus Afghanistan ab, seitdem herrschen die Taliban mit eiserner Faust. Der Westen hofft derweil, dass sich die islamistischen Terroristen mit dem Hindukusch zufriedengeben werden. Aber werden sie das auch tun? Niemals, sagt mit Ahmad Massoud ein eingefleischter Gegner der Taliban. Massoud ist Anführer der Nationalen Widerstandsfront von Afghanistan, bereits sein Vater, Ahmad Schah Massoud, hatte gegen die Taliban gekämpft.

Fast zwei Dutzend Terrorgruppen würden derzeit in Afghanistan trainieren, warnt Massoud, der gerade in Wien für eine Konferenz (Wiener intra-Afghanistan Treffen) über die Zukunft seines Landes geweilt hat. Geduldet von den Taliban, die für Islamisten geradezu ein Vorbild seien. Welche Gefahr für die Welt bestehe, was der Westen in Afghanistan falsch gemacht habe und was sich Massoud für sein Land wünscht, erklärt er im Interview.

t-online: Herr Massoud, wie ist die derzeitige Lage in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban?

Ahmad Massoud: Ganz Afghanistan ist mittlerweile eine Art Nordkorea, ein einziges gigantisches Gefängnis, das die Taliban mit brutalster Gewalt kontrollieren. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, grundlegende Menschenrechte? Das alles existiert nicht, es ist die Hölle auf Erden. Die Taliban beherrschen die Menschen durch Angst.

Spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine vom Februar 2022 ist das Interesse der Weltöffentlichkeit an Afghanistan versiegt. Wird sich das noch als Fehler erweisen?

Immer, wenn irgendwo anders ein Krieg ausbricht, wird Afghanistan vergessen. Das war 2003 schon so, als der Irakkrieg ausbrach, das ist auch im Augenblick mit Russlands Krieg gegen die Ukraine der Fall. Aber damals wie heute ist das ein großer Fehler. 2003 führte es dazu, dass Afghanistan wieder ein Hotspot für das Erstarken des Terrorismus werden konnte. Das hat sich dann auch furchtbar gerächt.

Und wie ist es gegenwärtig?

Aktuell sind 21 Terrorgruppen in Afghanistan aktiv. Diese Terroristen laufen dort frei herum, völlig unbehelligt von den Taliban. Sie rekrutieren, trainieren und bereiten sich vor – dabei können sie sich in völliger Sicherheit wähnen. Das kann doch niemand wollen! Die Geschichte lehrt uns eindringlich, dass es keine Option ist, Afghanistan sich selbst zu überlassen. Nein, wir brauchen eine konkrete Lösung für mein Land.

Ahmad Massoud, geboren 1989, ist Anführer der Nationalen Widerstandsfront von Afghanistan. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul im August 2021 versuchte Massoud, Widerstand im Pandschir-Tal zu organisieren, musste aber schließlich ins Exil gehen. Massoud hat in Großbritannien Politikwissenschaft studiert und ein Jahr an der Royal Military Academy Sandhurst verbracht.

Der Westen hat sich mit den Taliban mehr oder weniger arrangiert – im Glauben, dass sie sich an die geschlossenen Vereinbarungen halten werden.

Die Vereinbarung mit den Taliban dient dem Zweck der vermeintlichen Eindämmung des Problems. So soll die Situation zumindest nicht schlimmer werden. Aber das funktioniert einfach nicht auf diese Weise und erweist sich so als eine überaus falsche Politik. Die zudem die Menschen Afghanistans allein lässt.

War die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan nicht geradezu eine Blaupause für andere islamistische Terrorgruppen weltweit?

Die verschiedenen Terrorgruppen – seien sie eher regional oder international – unterscheiden sich nicht viel von den Taliban. Sie teilen die gleiche Ideologie, die Bereitschaft zu terroristischen Aktivitäten und zum Blutvergießen. Die Taliban haben bewiesen, dass man damit erfolgreich sein kann. Meine Antwort lautet also, ja, Afghanistan dient Terroristen weltweit als Vorbild: Eines Tages werden wir unser Land übernehmen – und die Welt wird uns auch anerkennen, wenn wir nur entschieden und ausreichend brutal auftreten. So lässt sich diese Sichtweise zusammenfassen.

Rund zwei Jahrzehnte waren westliche Truppen in Afghanistan engagiert. Am Ende blieb ein großes Scheitern. Lässt sich daraus zumindest eine Lehre für die Zukunft ziehen?

Der Einsatz in Afghanistan hat eine große Ermüdung im Westen erzeugt. Müdigkeit kann er sich aber nicht leisten. Weder in Bezug auf Afghanistan noch auf die Ukraine. Der Westen ist sich allerdings nicht einmal einig, wenn es um die Unterstützung für die Ukraine geht. Derartige Verwirrung wird aber sofort ausgenutzt. Die Taliban genießen so etwas geradezu, denn es spielt ihnen in die Hände. Für mein Land sieht der Westen nur Eindämmung vor, die einzigen Nutznießer sind die Taliban.

Was war Ihrer Meinung nach der größte Fehler, den der Westen in Afghanistan begangen hat?

Die Art und Weise, wie die afghanische Regierung 2001 installiert worden ist, war ein Kardinalfehler. Die ganze Macht wurde in die Hand eines einzigen Mannes gegeben, andere dadurch komplett davon ausgeschlossen. Das führte zu Korruption, Uneinigkeit und gar Spaltung innerhalb der afghanischen Nation. Aber der Westen hat noch einen zweiten Fehler begangen.

Meinen Sie die afghanische Armee? Sie hat den Taliban wenig Widerstand geleistet bei deren Vormarsch.

Es war eine Armee, die nur den Amerikanern diente. Sie war nach US-Vorbild aufgebaut worden, mit großem Budget, stark abhängig von Technologie und sogenannten Auftragnehmern, die etwa die Wartung erledigt haben. Als dann die Amerikaner auf dem Rückzug waren, gingen auch die Auftragnehmer, während die afghanischen Soldaten sehr wenig Erfahrung darin hatten, die Taliban zu bekämpfen. Die Widerstandskämpfer in den Neunzigerjahren …

… zu denen auch Ihr Vater Ahmad Schah Massoud gehörte …

… waren dagegen viel besser darauf vorbereitet. Sie sehen, ohne Kenntnis der wahren Probleme Afghanistans war es nicht möglich, sie zu lösen. Es hätte ein System gefunden werden müssen, das für das Land funktioniert und es zum strategischen politischen Partner gemacht hätte. So war es hingegen das Rezept für ein Desaster.

Wie denken die Menschen in Afghanistan heute über den Westen?

Der Abzug der westlichen Truppen war eine Katastrophe. Es herrscht Enttäuschung, manche empfinden es auch als Verrat, weil wir 20 Jahre und länger gegen den Feind gekämpft haben. Dann standen wir plötzlich vor dem Nichts. Besonders verwirrend wirkte dann die Erklärung, dass bewaffneter Widerstand inakzeptabel sei und es eine politische Lösung geben müsse. Verhandeln Sie aber einmal mit den Taliban! Dass allerdings auch nach dem Fall Kabuls die humanitäre Hilfe fortgesetzt wurde, war sehr wichtig für die Menschen.

Versteht die afghanische Bevölkerung, dass der Westen die Ukraine nun unterstützt, Afghanistan aber nicht weiter?

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Eher nicht. Westliche Werte werden in der Ukraine verteidigt, aber bei uns nicht? Das ist in der Tat eine Frage an den Westen, die sich aus afghanischer Sicht nur unbefriedigend beantworten lässt. Viele empfinden es als Heuchelei.

Wie tief ist der Rückhalt der Taliban in der Bevölkerung?

Sie werden stärker und stärker, denn sie gründen immer mehr Madrasas, also Schulen, in denen ihre Ideologie gelehrt wird. Es ist eine riesige Gehirnwäsche, von der sich die Taliban eine verstärkte Rekrutierung versprechen.

Dieser Ideologie entsprechend können sich die Taliban allen Versprechungen zum Trotz doch nicht nur mit Afghanistan begnügen.

So ist es auch. Der Dschihad (in diesem Kontext ist gewaltsamer Kampf im Sinne eines "Heiligen Kriegs" gemeint, Anmerkung der Redaktion) hört niemals für sie auf. So versichern die Taliban anderen terroristischen Gruppierungen ihre Unterstützung, die Vorgehensweise ist immer gleich. Eine extremistische Gruppe soll die Hauptstadt eines Landes erobern, dann wird sie schon anerkannt werden. Zugleich wird von diesem Staat aus die Ideologie auf andere ausgedehnt. Und so weiter und so weiter. Schauen Sie sich doch an, was aktuell in Mali passiert. Und vorher in Syrien und dem Irak, wo der Islamische Staat gewütet hat.

Also ist es nur eine Frage der Zeit, bis der islamistische Terror wieder grassiert?

Ich befürchte es. Für Terroristen ist Afghanistan ein sicherer Hafen, dort werden sie ausgebildet, um dann andernorts zuzuschlagen. Insofern war der westliche Rückzug aus Afghanistan eine sehr kurzsichtige Entscheidung. Wir haben den Amerikanern damals dringend davon abgeraten, ein Abkommen mit den Taliban zu schließen. Aber sie haben nicht auf uns gehört – und mit dem Leben der Menschen in Afghanistan gespielt.

Nun nehmen auch andere Staaten Einfluss auf Afghanistan. Was ist etwa mit Russland und China? Beide fürchten ein Erstarken des Islamismus.

Russland ist sich unsicher, wie es mit den Taliban umgehen soll. Eine Destabilisierung Zentralasiens ist das, was Wladimir Putin überhaupt nicht gebrauchen kann. Deshalb beobachtet Russland die Lage in Afghanistan genau. Eine konkrete Politik verfolgt Moskau für das Land aber nicht.

China hingegen schon.

Die Chinesen spielen die Rolle des Friedensstifters, sie wollen nicht, dass Afghanistan wieder zum Schlachtfeld wird. Frieden ist auch viel besser fürs Geschäft.

Nun drangsaliert China die muslimischen Uiguren in seiner Provinz Xinjiang. Ist das überhaupt kein Problem für die islamistischen Taliban?

Die Taliban machen zwar Geschäfte mit China, nehmen aber nicht zur Kenntnis, was dort geschieht.

Sie selbst sind von den Taliban ins Exil gezwungen worden. In welches Afghanistan möchten Sie eines Tages zurückkehren?

Afghanistan soll ein Land werden, das frei von jeder Art Extremismus ist. Alle Terrorgruppen müssen das Land verlassen, das afghanische Volk soll selbst über sein Schicksal entscheiden. Ich bin überzeugt, dass der Großteil der Afghaninnen und Afghanen die Herrschaft der Taliban ablehnt – und die Demokratie in meiner Heimat eine Zukunft hat.

Ist ein Wandel in Afghanistan überhaupt denkbar? Die Taliban sind schwer zu vertreiben.

Wichtig ist es zunächst, alle demokratischen Kräfte Afghanistans miteinander in Austausch zu bringen. Gemeinsam wollen wir allmählich Druck auf die Taliban aufbauen, überhaupt in einen Dialog zu kommen. Vor allem wollen wir dem Westen beweisen, dass wir Afghanen die Werte, die er uns gepredigt hat, nicht aufgeben.

Werden die Taliban aber letztlich nicht nur auf militärischen Druck hin nachgeben?

Die Taliban sind überaus aggressiv, ja. Es wird Waffen brauchen, um sie zu vertreiben. Genauso aber wird die Wahrheit benötigt: Immer wieder höre ich, dass die Taliban nicht so gefährlich wären wie der Islamische Staat. Einfach aus dem Grund, weil sich die Taliban anders als der Islamische Staat auf Afghanistan beschränken würden. Aber glauben Sie mir, die Taliban sind einfach klüger, sie verbergen ihre wahren Absichten. Wir alle sollten sie wirklich fürchten.

Eine letzte Frage: Haben Sie jemals daran gedacht, aufzugeben?

Nein. Denn ich liebe mein Land und mein Volk. Ich hatte immer wieder die Möglichkeit, eine andere Nationalität anzunehmen. Aber ich habe stets abgelehnt. Denn ich will nichts weiter, als in Afghanistan leben und dort auch irgendwann sterben.

Herr Massoud, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Ahmad Massoud via Videokonferenz
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