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Russland | Exil-Diplomat: "Ein Angriff auf die Nato ist Putin zuzutrauen"


Russischer Exil-Diplomat warnt
"Die Gefahr wächst dramatisch"

InterviewVon Marc von Lüpke, Florian Harms

14.02.2024Lesedauer: 9 Min.
Interview
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Wladimir Putin: Exil-Diplomat Boris Bondarew schließt einen russischen Angriff auf Nato-Territorium nicht aus.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Exil-Diplomat Boris Bondarew schließt einen russischen Angriff auf Nato-Territorium nicht aus. (Quelle: Vyacheslav Prokofyev/dpa)

Russland bekriegt die Ukraine – können sich wenigstens die Staaten der Nato sicher fühlen? Nein, warnt der frühere russische Diplomat Boris Bondarew: Putins Ambitionen reichen noch viel weiter.

Wie weit wird Wladimir Putin gehen? Diese Frage stellen sich Politiker und Experten überall in Europa. Denn noch kämpfen Russlands Truppen in der Ukraine, aber die Pläne des russischen Regimes könnten umfassender sein. Droht den baltischen Staaten – Mitgliedern der Nato – in der Zukunft Gefahr durch Russland? Die Bedrohung ist konkret und näher, als uns lieb sein kann: Diese Warnung spricht Boris Bondarew aus, ein früherer russischer Diplomat, der aus Protest gegen die Invasion der Ukraine 2022 den Staatsdienst verlassen hat.

Gerade hat Bondarew sein Buch "Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands" veröffentlicht. Wie der Exilant die Gefahrenlage einschätzt, was die westlichen Staaten zur Abschreckung Russland tun können und welches Ende Putin am meisten fürchtet, erklärt Bondarew im Gespräch mit unserer Redaktion:

t-online: Herr Bondarew, Sie haben sich 2022 öffentlich von Putins Regime losgesagt und den russischen Staatsdienst quittiert. Haben Sie Angst vor Putins Rache?

Boris Bondarew: Niemand kann sich mehr sicher fühlen, dafür hat Putin gesorgt. Die Gefahr wächst rasant und dramatisch, Europa muss dringend seine Sicherheit verstärken, bevor es zu spät ist. Um mich selbst mache ich mir keine großen Sorgen. Es gibt prominentere Leute, die dem Kreml ein Dorn im Auge sind.

Als Sie 2002 Ihre Tätigkeit im russischen Staatsdienst aufgenommen haben, betrachteten die westlichen Staaten Russland noch als Partner. Wie haben sich Putin und sein Regime im Laufe der Zeit verändert?

Das Regime hat sich gar nicht stark verändert. Mittlerweile zeigt Putin aber sein wahres Gesicht. Die ganze Welt kann nun sehen, wie Russlands Führung wirklich ist und was sie erreichen will.

Was will Putin denn – neben der ganzen Ukraine auch das Baltikum oder gar die Zerstörung der westlich geprägten liberalen Weltordnung?

Putin hat ein einfaches Ziel: Er will bis ans Ende seiner Tage an der Macht bleiben und im Überfluss leben. Nicht mehr und nicht weniger. Ganz sicher will er nicht vorzeitig im Grab enden oder seine letzten Jahre im Bunker fristen. Putin wird im Westen oft überschätzt, er ist weder Revolutionär noch Fanatiker und erst recht kein Visionär. Nein, der heutige Herrscher im Kreml ist im Prinzip nichts weiter als ein sowjetischer Beamter, der es bis an die Spitze des russischen Staates gebracht hat.

Zur Person

Boris Bondarew, 1980 in Moskau geboren, arbeitete zwei Jahrzehnte für das Außenministerium der Russischen Föderation. Der Diplomat war an den russischen Botschaften in Kambodscha und der Mongolei tätig, zuletzt fungierte Bondarew als Gesandter beim Büro der Vereinten in Nationen in Genf. Am 23. Mai 2022 erklärte Bondarew seinen Rücktritt – aus Protest gegen den russischen Angriff auf die Ukraine. Nun lebt er in der Schweiz im Exil.

Aber Kriege sind riskant, man kann sie verlieren. Setzen Putin und seine Gefolgsleute mit der Aggression gegen die Ukraine nicht alles Erreichte aufs Spiel?

Zum Teil schon, aber um Putins Handlungen zu verstehen, müssen wir seine Gedankenwelt verstehen. Er hält die Europäer für zu bequem, um für ihre eigenen Ideale einzustehen. Der Westen spricht ständig über ukrainische Grenzen und den Rückzug der russischen Truppen. Worüber der Westen aber nichts sagt, ist, wie die ukrainische Sicherheit langfristig gewährleistet werden soll und was er mit der Quelle der Bedrohung – Putins Russland – zu tun gedenkt. Wie will er dieses Problem angehen? Das erfordert Antworten.

Selbst wenn Putin die westlichen Staaten als schwach und konfliktscheu betrachtet, erklärt das noch nicht seinen Entschluss zur Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022.

Damit kommen wir zur zweiten Ebene in Putins Denken: Er benutzt außenpolitische Krisen und Konflikte, um seine Machtposition abzusichern. 2011 kam es in Russland nach den Parlamentswahlen zu massiven Demonstrationen, es waren die größten während der gesamten Ära Putin …

… zu dieser Zeit war Putin Ministerpräsident, sein Komplize Dmitri Medwedew hatte das Präsidentenamt inne.

Richtig, Medwedew diente Putin als Platzhalter. Im März 2012 wurde dann erneut Putin in den Kreml gewählt. Weder bei den Wahlen zur Duma noch zum Präsidentenamt ging es ehrlich zu, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs. Putin musste damals einen Volksaufstand fürchten. Also besetzte er im Jahr 2014 die ukrainische Krim und setzte voll auf Nationalismus. Das hat ihm sehr geholfen, er erlebte einen Popularitätsschub.

Warum wollte Putin dann 2022 noch mehr?

Das ist in der Logik seines Systems begründet. Ein paar Jahre nach der Krim-Besetzung sanken Putins Popularität und damit auch seine Legitimität erneut, sodass er ein anderes Instrument finden musste, um sie wieder zu steigern. Also beschloss er, das Krim-Szenario zu wiederholen. Aber dann in größerem Maßstab.

Sie meinen, mit der Invasion der Ukraine vor zwei Jahren wollte Putin einfach erneut dem innenpolitischen Druck ausweichen?

Warum sollte 2022 nicht wieder funktionieren, was schon 2014 reibungslos funktioniert hatte? Die Krim war damals schnell und ohne Blutvergießen eingenommen worden, der Westen verzichtete auf eine angemessene Reaktion. Allerdings war Putin zu verblendet, um einen entscheidenden Unterschied zu erkennen: Die Ukraine von 2022 war nicht mehr die Ukraine von 2014. Sie war nun aufgerüstet und kampferprobt. Dabei hat sie möglicherweise auch von der Corona-Pandemie profitiert.

Wieso das?

Covid-19 war etwas Unvorhersehbares und brachte auch in Russland alles zum Stillstand. Vielleicht hätte das Regime die Ukraine ohne die Pandemie schon früher angegriffen. So musste es warten, und die Ukrainer bekamen mehr Zeit. Aber dass Putin wieder zündeln würde, stand fest. Putin klammert sich um jeden Preis an die Macht, er nimmt auf nichts und niemanden Rücksicht und wird niemals freiwillig gehen. Die beabsichtigte Eroberung Kiews wäre die erwünschte Ablenkung gewesen, um die Macht seines Regimes weiterhin zu sichern.

Nun ist Russland weit von einer Unterwerfung der Ukraine entfernt, stattdessen verschleißt es Menschen und Material an der Front. Noch mal die Frage: Was will Putin jetzt noch erreichen?

Wenn man einen solchen Prozess startet, verliert man zwangsläufig die Kontrolle. Zumindest in einem gewissen Ausmaß. Putin kann nicht alles kontrollieren, er kann die Zeit nicht zurückdrehen. Nun macht das Regime eben das Beste aus der Situation: Putin will möglichst viel Territorium von der Ukraine einnehmen und sich als großer Eroberer präsentieren, der die "russischen" Länder wieder "vereinigt". Nebenbei kann er den Westen als egoistisch und prinzipienlos vorführen, besonders die USA will Putin demütigen.

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Zeigt sich Putin an diesem Punkt als eine Art "Sowjetmensch", der die Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg nicht verwunden hat?

Ja, schon. Die Amerikaner haben ihren Platz an der Spitze der globalen Ordnung nicht verdient – davon ist Putin überzeugt. Weder seien die USA so stark noch so zuverlässig, wie sie selbst behaupten. Putin duldet keinerlei Einmischung oder gar Bevormundung, die ihn in seinen Handlungsmöglichkeiten einschränkt.

Wie etwa das geltende Völkerrecht?

Das Völkerrecht ist Putin völlig egal. Er wird jeden Vertrag, jedes Abkommen, jede Zusage genau in dem Moment brechen, in dem es ihm nützlich erscheint. Er ist ein Lügner, dem man keine Sekunde lang glauben darf. Wer das nicht versteht, lebt gefährlich.

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Haben Sie deswegen dem russischen Staatsdienst den Rücken gekehrt?

Der Krieg ist sowohl ein Verbrechen gegen die Ukraine als auch gegen die Menschen in Russland. 20 Jahre lang habe ich für das russische Außenministerium gearbeitet, die Zahl der Lügen und das Ausmaß der Unprofessionalität hat in diesem Zeitraum unfassbar zugenommen. Ich wollte das nicht mehr mitmachen, ich habe es nicht mehr ertragen. Mit Putin kann man keinen langfristigen Frieden schließen.

Jetzt mehren sich aber auch im Westen die Stimmen, die auf Verhandlungen mit dem Kreml drängen, um den Krieg zu beenden.

Diese Leute haben den zentralen Punkt nicht verstanden oder sie wollen ihn nicht verstehen: Man kann mit Putin nicht verhandeln. Aus dem einfachen Grund, weil man ihm nicht vertrauen kann. Niemals. Wir können diesen Krieg auch nicht einfach aussitzen, denn Putin hat ihn mit Bedacht entfacht. Er ist auch ein Kampf der Ideologien, so etwas lässt sich nicht durch Beschwichtigung beilegen. 1938 machten die Westmächte Adolf Hitler im Münchner Abkommen große Zugeständnisse. Hat das Hitler etwa friedfertiger gemacht? Putin ist nicht Hitler, aber in diesem Punkt verhält er sich genauso: Entgegenkommen betrachtet er als Schwäche und nutzt sie gnadenlos aus. Friedensangebote würden ihn nur noch gieriger machen. Er würde zwar taktisch verhandeln, aber dann auf die nächste Gelegenheit zum Losschlagen lauern.

Wie weit will Putin seinen Herrschaftsbereich ausdehnen?

Putin denkt in den geografischen Dimensionen des untergegangenen sowjetischen Imperiums. Er will bestimmen, wie die Menschen leben: in Russland und Belarus, aber auch in der Ukraine, Kasachstan oder dem Baltikum.

Die drei baltischen Staaten sind Mitglieder der Nato. Würde Putin die direkte Konfrontation mit dem Verteidigungsbündnis suchen?

Ein Angriff auf die Nato ist Putin absolut zuzutrauen. Mit jeder schwachen Reaktion des Westens angesichts einer russischen Provokation wird dieses Szenario wahrscheinlicher. Der Krieg mit der Nato steht heute noch nicht auf der Tagesordnung, könnte aber schon bald zur Tagesordnung von morgen werden. Im Idealfall möchte Putin seine Herrschaft über alle Länder des alten Warschauer Pakts ausdehnen. So ist zumindest das Ultimatum zu verstehen, das der Kreml am 15. Dezember 2021 vor dem Angriff auf die Ukraine stellte.

Die DDR gehörte ebenfalls dem Warschauer Pakt an. Müssen wir Deutsche uns Sorgen machen?

Vielleicht würde Putin Deutschland verschonen, wer weiß? Aber niemand in Deutschland sollte die Gefahr unterschätzen. An der Nato-Grenze ist Putins Regime eine ständige Bedrohung.

Wie können die westlichen Staaten Russland effektiv abschrecken? Putins Krieg gegen die Ukraine ist der beste Beweis, wie wenig er den Westen ernst nimmt.

Der Westen muss sich endlich dazu aufraffen, seine eigenen Werte zu verteidigen. Blut und Mühsal, Tränen und Schweiß – das braucht es, wie Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg gesagt hat. Auch Deutschland wird es eine Menge kosten, wenn es die Herausforderung ernst nimmt.

Im Augenblick kostet der Krieg Russland zahlreiche Soldatenleben, ohne dass größere Erfolge zu verbuchen sind. Wie lange sind die Russen bereit zu leiden?

Die Russen können sehr lange leiden, diese Fähigkeit haben sie in ihrer Geschichte viel zu oft beweisen müssen. Wer einen Großteil seines Tages und seiner Ressourcen für die Sicherung seiner eigenen Existenz aufwenden muss, kann nicht allzu viel Zeit für das Nachdenken über die Politik aufwenden. Der durchschnittliche russische Bürger interessiert sich nur für sein eigenes Leben: Auch das ist eine Lektion, die meine Landsleute aus historischer Erfahrung verinnerlicht haben. Putin ist diese Haltung nicht nur recht, er fördert sie.

Was würde passieren, wenn Putin ausfiele, aus welchem Grund auch immer?

Niemand kann Putin einfach ersetzen, er bekleidet eine einzigartige Funktion an der Spitze des russischen Staates. Sein Abgang würde eine gewaltige Lücke hinterlassen, denn es gibt zahlreiche Clans und Gruppen, die miteinander streiten. Putin hält sie alle im Zaum, aber ein Nachfolger müsste sich diese Stellung erst hart erarbeiten. Immerhin ist Putin mittlerweile fast 25 Jahre an der Macht.

Für wie stabil halten Sie Putins Herrschaft nach zwei Jahren Krieg noch?

Putins Regime wankt nicht. Es besteht aus Gangstern, ist durch und durch korrupt und nicht sonderlich effektiv, aber es ist stabil. Weil es an den entscheidenden Stellen eben doch überaus effizient agiert: Die gesamte Struktur ist strikt hierarchisch von oben nach unten angelegt, sodass Befehle die gesamte Kette durchlaufen – ohne von irgendwelchen Diskussionen oder anderen Meinungen gebremst zu werden. Putins Russland ist ein Führerstaat.

Glauben Putin und seine Entourage wirklich daran, dass der Westen Russland "einkreisen" und "schwach halten" will?

Niemand weiß, was Putin wirklich denkt. Aber die Anzeichen sprechen tatsächlich dafür, dass er seine eigene Propaganda für bare Münze nimmt. Denn Putin glaubt an die Überlegenheit Russlands und die Böswilligkeit der USA. Nehmen wir die Orangefarbene Revolution 2004 in der Ukraine: Putin hielt sie für eine Verschwörung des Westens gegen Russland. In seiner Welt ist es nicht vorstellbar, dass politischer Protest aus sich selbst heraus entsteht. Ich persönlich denke, dass vor allem das Jahr 2011 und die damaligen Ereignisse in Libyen wichtig sind, um Putins Politik zu verstehen.

Im "Arabischen Frühling" stürzten Aufständische damals den libyschen Langzeitdiktator Muammar al-Gaddafi, unterstützt durch westliche Luftangriffe.

Gaddafis elender Tod in einem Straßengraben hat Putin schwer beeindruckt, ein solches Ende ist sein größter Albtraum. Auf keinen Fall soll sich Vergleichbares in Russland wiederholen; eher würde er alles anzünden.

Würde er im Notfall also auch zur Atombombe greifen? Der Kreml droht dem Westen immer wieder mit Nuklearschlägen.

Putins atomare Drohungen sind furchtbar, aber sie haben sich bislang als leer erwiesen. Er spielt mit dem Schrecken. So hält er die Nato-Staaten von einem direkteren Engagement in der Ukraine ab und bremst das Tempo der Waffenlieferungen. Im Ernstfall ist Putin aber alles zuzutrauen – auch wenn befreundete Staaten wie Indien und China einen Nuklearwaffeneinsatz zutiefst missbilligen würden. Im Augenblick wartet der Kreml aber sicherlich erst einmal den Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA ab.

Ist Ihre Heimat Russland endgültig für die Demokratie verloren – oder hegen Sie noch Hoffnung?

Ich bin zuversichtlich. In den Neunzigerjahren waren die Russen gewissermaßen nicht von dieser Welt: Was wussten Menschen, die in der Sowjetunion aufgewachsen waren, von Demokratie, Zivilgesellschaft und Rechtsstaat? So gut wie nichts. Heute hingegen gibt es viele junge Russinnen und Russen, die im Ausland waren und etwas von der Welt gesehen haben. Sobald der Krieg vorbei ist, wird sich hoffentlich etwas ändern.

Und Sie selbst, werden Sie irgendwann in Ihre Heimat zurückkehren können?

Ich liebe mein Land und seine Menschen. Eines Tages werde ich dorthin zurückkehren.

Herr Bondarew, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Boris Bondarew via Videokonferenz
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