Israels Vorwürfe gegen UN "Monatelang wurden wir durch den Dreck gezogen"

Monatelang warf Israel der UN vor, dass die Hamas Hilfsgüter der Organisation entwende. Doch dafür gibt es wohl keine Beweise. Unterdessen laufen Hilfslieferungen wieder an.
Die israelische Regierung hat über Monate hinweg behauptet, die islamistische Terrororganisation Hamas habe systematisch Hilfsgüter der Vereinten Nationen im Gazastreifen gestohlen. Diese Anschuldigung diente als zentrales Argument für drastische Einschränkungen humanitärer Hilfe. Doch laut einem Bericht der "New York Times" vom Samstag gibt es dafür keine Beweise – auch nicht seitens des israelischen Militärs selbst.
Zwei ranghohe Militärvertreter und weitere in die Hilfslogistik eingebundene Personen bestätigten der Zeitung, dass das UN-System zur Versorgung Gazas im Wesentlichen zuverlässig funktionierte. Insbesondere habe die Hamas keine regelmäßigen Diebstähle von UN-Hilfsgütern verübt. Diese Einschätzung deckt sich mit einer internen Analyse der US-Regierung, wie die Nachrichtenagentur Reuters bereits am Freitag berichtete. Demnach gebe es keine Hinweise auf systematischen Missbrauch US-finanzierter Hilfe durch die Hamas.
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UN-Koordinator: "Monatelang wurden wir durch den Dreck gezogen"
Die Vereinten Nationen verwalteten ihren eigenen Hilfstransport und verteilten die Güter selbst vor Ort. Das machte ihr System weniger anfällig für Eingriffe bewaffneter Gruppen – im Gegensatz zu kleineren Organisationen, deren Spenden teils ohne eigene Infrastruktur in Gaza eintrafen. "Monatelang wurden wir und andere Organisationen mit Anschuldigungen, dass die Hamas uns bestiehlt, durch den Dreck gezogen", sagte Georgios Petropoulos, ein ehemaliger UN-Koordinator in Gaza, der Zeitung.
Trotz dieser Erkenntnisse ersetzte Israel im Mai das UN-gestützte System durch die sogenannte Gaza Humanitarian Foundation (GHF), eine privat betriebene US-Organisation unter Leitung eines früheren CIA-Agenten. Das neue System wird von bewaffneten US-Sicherheitskräften begleitet und operiert ausschließlich in israelisch kontrollierten Gebieten. Die Folge: deutlich weniger Verteilzentren, eingeschränkte Öffnungszeiten – und vermehrt tödliche Zwischenfälle.
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Laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium in Gaza wurden seit Einführung des neuen Systems fast 1.100 Menschen durch Schüsse getötet, als sie versuchten, Hilfsgüter zu erhalten. In mehreren Fällen sollen israelische Soldaten das Feuer eröffnet haben, wenn sich Menschenmengen näherten. Die israelische Armee erklärte, in die Luft geschossen zu haben, um ihre Truppen zu schützen.
Israels Regierung wollte UN-System nicht aufrechterhalten
Das UN-System hätte laut Aussagen der Militärs neben Lebensmitteln auch Medikamente bereitstellen können – ein Aspekt, den die GHF nicht abdeckt. In internen Gesprächen mit dem militärischen Berater von Premierminister Netanyahu schlugen israelische Offiziere im März vor, das UN-System zumindest ergänzend zu erhalten. Die Regierung wies das zunächst zurück.
Erst als im Mai die humanitäre Krise eskalierte, lenkte Israel ein: Seit dem 19. Mai wird etwa die Hälfte der Hilfsgüter wieder über die UN und andere internationale Organisationen verteilt, die andere Hälfte über die GHF. Die internationale Kritik bleibt dennoch laut: Über 100 Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen warnen inzwischen vor Massenhunger in Gaza. Auch die EU und mehrere westliche Regierungen kritisierten die israelische "Tröpfchenhilfe" scharf.
Die israelische Regierung hält an ihrer Position fest: Die Hamas trage die Schuld an der humanitären Not. Gleichzeitig verweigerte sie jüngst einem leitenden UN-Hilfskoordinator die Visaverlängerung – mit dem Vorwurf, er habe "Lügen über Israel" verbreitet. Die Fronten zwischen der israelischen Regierung und den Vereinten Nationen bleiben damit verhärtet.
Israels Armee wirft Hilfsgüter über Gaza ab
Mittlerweile reagiert Israel auf internationale Kritik. Die israelische Armee hat am Sonntag mit dem Abwurf von Hilfsgütern über dem Gazastreifen begonnen. Zudem verkündete sie Feuerpausen und die Einrichtung "humanitärer Korridore". Es seien sieben Paletten mit Hilfsgütern wie Mehl, Zucker und Lebensmittelkonserven abgeworfen worden, die von internationalen Organisationen bereitgestellt worden seien, teilte das Militär in der Nacht mit.
Nach dem Beginn der verkündeten "taktischen Pause" fuhren laut einem ägyptischen TV-Bericht erste Lkw mit Hilfsgütern in das Palästinensergebiet. Ägyptische Lastwagen seien dabei, am Grenzübergang Rafah in den Gazastreifen zu fahren, meldete der Sender Al-Kahera News am Sonntagmorgen im Onlinedienst X zu Videobildern, die Hilfskonvois im Grenzgebiet zeigen.
Ab diesem Sonntag werde die Armee "jeden Tag bis auf Weiteres" von 10 bis 20 Uhr Ortszeit eine "taktische Pause der militärischen Aktivitäten für humanitäre Zwecke" einlegen, teilten die israelischen Streitkräfte am Morgen mit. Die Pause gelte in den Gebieten, in denen die Armee nicht operiere: in Al-Mawasi im Südwesten des abgeriegelten Küstenstreifens, in Deir al-Balah im Zentrum sowie in der Stadt Gaza im Norden. Dies sei nach entsprechenden Gesprächen mit den UN sowie internationalen Organisationen abgestimmt worden, hieß es.
Ferner würden von 6 bis 23 Uhr Ortszeit Korridore eingerichtet, um die sichere Durchfahrt von Konvois der UN und anderer Hilfsorganisationen zu ermöglichen, die Lebensmittel und Medikamente an die Bevölkerung im gesamten Gazastreifen liefern und verteilen, teilte die Armee weiter mit.
- nytimes.com: "No Proof Hamas Routinely Stole U.N. Aid, Israeli Military Officials Say" (englisch)
- reuters.com: "Exclusive: USAID analysis found no evidence of massive Hamas theft of Gaza aid" (englisch)
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP