Machtkampf eskaliert völlig Der "weiße Ritter" der AfD strauchelt

In der nordrhein-westfälischen AfD tobt ein erbitterter Machtkampf. Landeschef Martin Vincentz gerät dabei in Bedrängnis – und seine Methoden in Verruf. Fällt einer der Letzten, der als vergleichsweise gemäßigt gilt?
Sondersitzungen, Parteiaustritte, Parteiausschlussverfahren: In der AfD Nordrhein-Westfalen ist ein Machtpoker öffentlich eskaliert. Gefährlich wird das auch für den Landeschef Martin Vincentz. Der hält sich seit mehr als drei Jahren auf dem Posten, der in der AfD gemeinhin als Schleudersitz gilt. Keiner hat das bisher so lange geschafft.
Als "weißer Ritter" inszeniere sich der 38-jährige Vincentz bisher dabei gerne, wie Parteikollegen sagen. Als ein Anti-Höcke im Westen. Weniger radikal – und weniger Russland zugeneigt. Einer der Letzten, der zumindest manchmal noch gegen Rechtsextremisten in der AfD vorgeht. Viele andere AfD-Parteichefs hat ein solches Vorgehen ihren Job gekostet: Meuthen, Petry, Lucke. Einen im Vergleich gemäßigten Anstrich verlieh Vincentz, der eigentlich Arzt ist, seinem Landesverband so nach außen.
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Nun aber trägt Vincentz in Kreisen seines Landesverbands einen anderen Namen. Er ist angelehnt an einen Rapper, der tief gefallen ist: "PAV Daddy". PAV ist in der AfD die geläufige Abkürzung für "Parteiausschlussverfahren". Es ist das äußerste Mittel, zu dem ein Vorstand greifen kann: der Antrag auf Verstoß eines Mitglieds aus der Partei. Parteiinterne Schiedsgerichte müssen ihn absegnen, die Betroffenen können danach auch vor normalen Gerichten klagen.
"Verlogen" und "zweierlei Maß" bei Ausschlüssen
Solche Verfahren sind in anderen Parteien selten, weil die Hürden hoch, die Aussichten gering sind. Sehr weit müssen Mitglieder dafür über die rote Linie treten und sich zum Beispiel des parteischädigenden Verhaltens schuldig machen. In der AfD aber werden die Verfahren, auch außerhalb von NRW, häufig als Machtmittel eingesetzt, um Konkurrenten zu beseitigen oder zumindest zeitweise kaltzustellen und zu beschädigen.
Unter Vincentz, so kritisieren im Gespräch mit t-online mehrere Mitglieder der AfD NRW, ist es in den vergangenen Wochen und Monaten zu weit gegangen mit den angestrengten Rauswürfen. Vor allem mit jenen Parteiausschlussverfahren ohne gute Begründung, die vor normalen Gerichten keinen Bestand haben dürften. "Es wird ständig mit zweierlei Maß gemessen", kritisiert ein Funktionär. Als "nicht mehr nachvollziehbar" und "verlogen" bezeichnen auch andere die Vorgänge.
Laut und öffentlich wahrnehmbar ist diese Kritik inzwischen und ein sicheres Zeichen: Vincentz' Macht bröckelt. Einer der größten Landesverbände der AfD droht damit vollends ins Chaos zu rutschen. Das passiert wenige Monate vor der Kommunalwahl in NRW und weniger als ein Jahr, bevor ein neuer Landesvorstand gewählt werden soll.
Die Kritik legt außerdem offen, wie wenig Vincentz' Image als "weißer Ritter" stimmt: Seine öffentlich geäußerten Positionen mögen vergleichsweise gemäßigt sein in der AfD – seine Deals sind es nicht. Ohne Skrupel paktiert er mit Völkischen, Rechtsextremen und Russlandpropagandisten, um sich selbst an der Macht zu halten. Exemplarisch steht er damit auch für die Strategie und Nöte der letzten verbleibenden halbwegs Konservativen in der Partei. Jetzt aber könnte er einen Deal zu viel gemacht haben.
PAV 1: Matthias Helferich – Der ewige Widersacher
Wenn Vincentz der Anti-Höcke ist, ist Matthias Helferich der Höcke des NRW-Verbands. Seitdem vor Jahren interne Chats geleakt wurden, in denen sich der 36-jährige Jurist selbst als "freundliches Gesicht des NS (Nationalsozialismus)" bezeichnete, nährt er fleißig seinen Ruf als unbeugsamer Rechtsextremist. Eine treue Fan-Basis in der AfD vereint der Bundestagsabgeordnete aus Dortmund so hinter sich, gerade unter den Jungen – rassistisch, auf alle Unvereinbarkeitsbeschlüsse pfeifend, nicht vor NS-Anleihen scheuend.
Für Vincentz ist Helferich aber auch aus einem anderen Grund ein Problem: Er ist ein geschickter Strippenzieher hinter den Kulissen, der stets andere Ziele verfolgt als sein Landeschef. Im Landesverband hat er bekannte Namen auf seiner Seite. Treu unterstützt ihn zum Beispiel Vincentz' Vorgänger, der heutige verteidigungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Rüdiger Lucassen. Helferich soll für Lucassen wie eine Art Ziehsohn sein.
Eine recht konstante Machtbasis hat Helferich so in NRW: Auf Landesparteitagen könne er ein Drittel der Stimmen mobilisieren, schätzen Mitglieder übereinstimmend. Das ist keine Mehrheit, aber viel – und ein konstantes Grundrauschen gegen Vincentz.
Mehrere große Niederlagen hat Vincentz gegen Helferich bereits einstecken müssen, die ihn besonders schmerzen dürften. Eine davon auf dem AfD-Parteitag in Magdeburg im Sommer 2023, bei dem die Bundespartei ihre Kandidaten für die EU-Wahl aufstellte. Dort favorisierte das Helferich-Lager mit der völkischen Irmhild Boßdorf eine andere Kandidatin aus NRW für das EU-Parlament als das Vincentz-Lager, das Hans Neuhoff ins Rennen schicken wollte. Bei der sonst recht reibungslosen Aufstellung kam es deswegen zu Querelen und Hängepartien unter den Augen der Presse.
AfD-Chefin Alice Weidel rief hinter den Kulissen Notrunden mit den Vorsitzenden aller Landesverbände ein, um die Blockade zu lösen. Für NRW aber nahm an der Chef-Runde neben Martin Vincentz auch Matthias Helferich teil. Schon das war eine Adelung. Und Helferich bekam am Ende, auch dank Weidels Durchgreifen, einen Kompromiss in seinem Sinne: Neuhoff wurde auf Platz 8 der EU-Liste gewählt, Boßdorf gleich danach auf Platz 9. Für Vincentz dürfte das eine bittere Schmach und Lehre gewesen sein: Helferich ist machtpolitisch eine Gefahr.
Im Juni 2024 beschloss der NRW-Landesvorstand um Vincentz dann, Helferich aus der Partei werfen zu wollen. Gerade hat das NRW-Schiedsgericht geurteilt: Der Antrag auf Parteiausschluss sei rechtens, Helferich soll fliegen. Helferich will aber dagegen weiter vorgehen, er kritisiert das Urteil als parteiisch.
Helferichs Unterstützer leugnen nicht, dass es mannigfaltige Argumente wegen Rechtsextremismus gegen Helferich gibt. Doch sie verweisen auch darauf, dass Vincentz ähnliche Umtriebe duldet, auch in seinem direkten Umfeld – solange ihm die Menschen nur nutzen oder nicht gefährlich werden. Ein monate-, vielleicht sogar jahrelanger Rechtsstreit zeichnet sich nun im Fall Helferich ab und damit verbunden weitere massive Machtkämpfe.
PAV 2: Tim Schramm – Putins Freunde machen mobil
Ein Parteiausschlussverfahren, wie es wohl nur in der AfD geschehen kann, beschloss der NRW-Landesvorstand um Martin Vincentz vor gerade einmal zwei Wochen. Dieses Mal traf es mit Tim Schramm einen 22-jährigen Vize-Kreisvorsitzenden, der angibt, im Frühjahr für die Ukraine an der Front gekämpft zu haben. Er machte seinen Einsatz öffentlich, warb für Spenden für das angegriffene Land und ging auf Vortragsrunde in der sonst pro-russisch gepolten AfD, um über Putin-Propaganda im rechten Lager aufzuklären.
Kurios: Vincentz zählt eigentlich zu den Transatlantikern in der Partei und hält wenig von der Putin-Propaganda mancher Kollegen. Mit Schramm stand er in direktem Austausch und soll ihn unterstützt haben.
Zwei Fraktionen aber gefiel Schramms Eintreten für die angegriffene Ukraine nicht: erstens den Pro-Putinisten Hans Neuhoff und Christian Blex im NRW-Landesvorstand. Neuhoff ist für die Verbreitung pro-russischer Narrative bekannt, Blex für Reisen in russische Gebiete. Beide zählten lange zum Höcke-Lager in der AfD, mit beiden kommt Vincentz trotzdem aus. Neuhoff soll nach Informationen von t-online mit Rücktritt aus dem Landesvorstand gedroht haben, solle Schramm nicht ausgeschlossen werden. Vincentz kippte daraufhin in der entscheidenden Sitzung entgegen seiner Überzeugung, stimmte gegen Schramm und trug so zur notwendigen Zweidrittelmehrheit für das Parteiausschlussverfahren bei. Von "gewissen parteiinternen Zwängen" war danach aus Parteikreisen, die Vincentz nahestehen, die Rede.
Eine Rolle soll beim Umfallen von Vincentz nach Informationen von t-online zweitens auch der Landesverband Sachsen gespielt haben. Der wird vom Verfassungsschutz schon länger als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Vincentz paktiert seit einer Weile auf Bundesebene mit dem Verband, die Verbindungen sind inzwischen eng. Eine harte pro-russische Linie aber fährt Sachsen – und versuchte offenbar, sie auch in NRW durchzusetzen. Auf dem Sommerfest der AfD NRW soll zuerst AfD-Bundeschef Tino Chrupalla, der aus Sachsen stammt, auf Vincentz eingewirkt haben, Schramm auszuschließen. Bei einer gemeinsamen Schifffahrt auf dem Rhein soll schließlich auch Sachsens Landeschef Jörg Urban dasselbe verlangt haben. Schramms Engagement koste den Osten Stimmen, soll es geheißen haben. Beides geschah kurz vor der entscheidenden NRW-Vorstandssitzung.
Für Schramms Unterstützer stellt sich die Lage nun so dar: Vincentz warf den jungen Schramm für seine einflussreicheren Unterstützer mitsamt seinen Überzeugungen unter den Bus. Und auch in diesem Fall heißt es von Mitgliedern aus dem Landesverband: Der Antrag auf Parteiausschlussverfahren sei schlecht und viel zu schwach begründet, vor Gerichten kaum haltbar.
PAV 3: Kris Schnappertz – Die Revanche
Nicht nur die Freundschaftsdienste für die Pro-Putinisten im Fall Schramm könnten Vincentz nun teuer zu stehen kommen. Mit Kris Schnappertz soll Vincentz' rechte Hand, der bisherige Pressesprecher des Partei- und Fraktionsvorstands, im Zuge der Schramm-Affäre versucht haben, belastende Informationen gegen Sven Tritschler zu sammeln. Der ist seines Zeichens ebenfalls Mitglied des NRW-Landesvorstands und schwebt mit Fans in mehreren Lagern etwas über den Dingen. Schramm ist bei Tritschler als wissenschaftlicher Mitarbeiter angestellt.
Sowohl Schnappertz als auch Vincentz' Sekretärin sollen in den vergangenen Wochen versucht haben, bei Schramm Informationen gegen Tritschler abzugreifen. Im Gegenzug soll Schramm eine gut honorierte, neue Stelle angeboten worden sein. Tritschler riss angesichts dessen offenbar der Geduldsfaden: Er verschickte ein Schreiben an die Mitglieder der Landtagsfraktion, in dem er angab, er habe dem Treiben zu lange zugeschaut. Darin machte er zugleich auf mehreren Seiten private Nachrichten öffentlich, die Vincentz' Leute sowie Vincentz selbst an Schramm geschrieben hatten und die das Vorgehen gegen ihn dokumentierten. Peinlich – und für Vincentz gefährlich.
Am Mittwoch kassierte der Landeschef daraufhin eine herbe Niederlage: In einer Sondersitzung des NRW-Fraktionsvorstands wurde beschlossen, dass Schnappertz seine Stelle als Pressesprecher verlieren soll. Sein Büro soll er nach Informationen von t-online bereits an diesem Montag räumen, die Kündigung soll er nach den Sommerferien erhalten. Eine Mail, die verkündete, dass Schnappertz die Fraktion nicht mehr vertrete, wurde bereits am Freitag an die Presse verschickt.
Schnappertz steht in der Partei seit Langem in der Kritik. Zu aggressiv, laut, voreilig, unangebracht selbstüberzeugt trete er auf, heißt es da. Für Vincentz aber war er der wichtigste Strippenzieher. Ohne ihn als Pressesprecher dürfte es sehr viel schwieriger für den NRW-Chef werden.
Schnappertz selbst weist auf Nachfrage von t-online alle Vorwürfe von sich, weiter will er sich nicht äußern. "Kein Kommentar", sagt er lediglich. Ebenso hält es Martin Vincentz – auf eine Anfrage von t-online reagierte er nicht. Schnappertz könnte aber nicht nur seine Stelle verlieren: Sein Kreisverband Düsseldorf hat in dieser Woche bereits ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn auf den Weg gebracht. Unklar ist, ob noch eines aus dem Landesvorstand folgt. Abhängig dürfte das maßgeblich davon sein, wie Vincentz sich dieses Mal positioniert.
Selbst Funktionäre, die Vincentz eigentlich wohlgesonnen sind, attestieren ihm nach den vergangenen Wochen erhebliche Probleme. Viel zu wenig und viel zu spät habe er eingegriffen und nun "massive Beulen in der Karosserie" davongetragen, sagt ein Funktionär. Vincentz' größtes Glück dürfte da derzeit sein, dass sich bisher noch kein anderer Kandidat für den Parteivorsitz in Stellung bringt. Den Job wolle sich niemand freiwillig antun, heißt es im Verband noch unisono. Doch bis zur Vorstandswahl im nächsten Jahr ist auch noch viel Zeit.
- Eigene Recherchen