Flüchtlings-Report aus Polen Zwischen den Fronten
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Für unzählige Flüchtlinge an der Grenze zwischen Polen und Belarus ist das Überleben längst Glückssache. Aber beide Seiten bleiben hart. Report aus einer europäischen Region der Unerbittlichkeit.
An dem Tag, an dem die Stimmung kippt, ist der Himmel grau. Es ist Montag um 11.07 Uhr, als auf der polnischen Seite des Grenzübergangs Kuźnica plötzlich etliche Polizeiautos auftauchen. Sie fahren in Richtung der Grenze nach Belarus. Und immer mehr kommen nach. Kurz darauf rasen Kolonnen mit etwa 30 Mannschaftsbussen die Straße entlang. Das Kreischen ihrer Sirenen zerschneidet die kalte Luft, das Blaulicht flackert über die Straße. Dann folgen Tarnfahrzeuge mit bewaffneten Soldaten. Militärhubschrauber steigen in der Nähe auf.
Alle verfügbaren Kampfeinheiten werden an diesem Tag zum Grenzübergang Kuźnica verlegt. Es wirkt, als stünde unmittelbar ein Angriff bevor.
Der Grund: Mit einem Schlag sammeln sich Hunderte Migranten an dem Posten auf der belarussischen Seite der Grenze. Der Minsker Diktator Alexander Lukaschenko hatte erklärt, man könne Flüchtlinge auch in ihre Heimatländer zurückbringen – oder direkt nach München fliegen. Zuvor dementierte das deutsche Außenministerium Gerüchte, dass man Busse zur Grenze nach Polen schicken werde. Es ging hin und her.
Und da entlud sich nun offenbar etwas. Seit Tagen hatten die Migranten ausgeharrt, plötzlich war das nicht mehr möglich. Angetrieben von belarussischen Streitkräften bewegten sich die Flüchtlinge auf den Grenzpunkt zu. Es geriet etwas ins Rutschen, die Lage war so angespannt wie selten: Um die 3.500 Migranten sollen den polnischen Streitkräften direkt in Kuźnica gegenüberstehen. Mittlerweile haben die Flüchtlinge Zelte aufgeschlagen, in der letzten Nacht wärmten sie sich an kleinen Feuern.
Die Verschärfung der Lage am Montag war der vorläufige Höhepunkt des seit Wochen gärenden "hybriden Krieges", wie er in Polen von der rechtskonservativen PiS-Regierung genannt wird: Tausende Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika sind gekommen, sie wurden von belarussischen Flugzeugen eingeflogen und an die Grenze zu Polen gebracht. Angelockt vom Versprechen für einen dauerhaften Aufenthalt im "gemütlichen Westen", wie Diktator Lukaschenko sich ausdrückte.
Sie drängen nach Europa, in ein besseres Leben. Und Lukaschenkos Schergen versagen ihnen nun, da sie an der Grenze stehen, die Umkehr. Die polnischen Kräfte lassen sie aber auch nicht ins Land, die Warschauer Regierung ist unerbittlich. Und das Grenzgebiet wurde zur Sperrzone erklärt, Journalisten und Hilfsorganisationen dürfen nicht hinein. Die Flüchtlinge sind weitgehend abgeschirmt von der Öffentlichkeit, nur wenige Fotografen kommen dorthin.
Die Migranten sind jetzt Verhandlungsmasse, ihre Schicksale wiegen nicht mehr als die politischen Interessen. Da ist zum einen die Angst von Alexander Lukaschenko vor weiteren Sanktionen, die die EU verhängen könnte. Und da ist zum anderen die Angst von vielen Europäern vor einem Flüchtlingsansturm. Dazwischen eingekeilt kauern sie, die Verzweifelten, auf dem Waldboden vor der Grenze Europas. Und wissen nicht, wie es weitergeht.
Wer in diesen Tagen durch Polen und an die Grenze reist, wer mit Flüchtlingen und Verantwortlichen der Regierung spricht, für den zeichnet sich das Bild eines Landes, das Angst hat vor einer neuen Flüchtlingswelle. Der polnische Verteidigungsminister sagte kürzlich über das Jahr 2015: "Die Politik der offenen Tür führte zu Terroranschlägen in Westeuropa. Ich empfinde bittere Genugtuung darüber, dass die EU zugegeben hat, dass wir recht hatten." Auch deshalb praktiziert Polen nun eine Politik der besonders fest geschlossenen Türen.
Draußen wird es kälter und kälter, der Winter kommt, neun Todesopfer aus der Sperrzone mit den Flüchtlingen wurden schon bestätigt. Auch der polnischen Regierung dürfte klar sein, dass der aktuelle Zustand nicht über weitere Monate bestehen bleiben kann. Doch ein Wandel lässt sich nur ganz langsam erkennen.
Seine Heimat ist noch immer gezeichnet vom Bürgerkrieg
Ende vergangener Woche tritt ein etwa 1,70 Meter großer Mann aus der Tür des Flüchtlingsheims in Białystok. Der polnische Ort liegt etwa 45 Kilometer von der Grenze zur Belarus entfernt, der junge Mann ist Abdul, ein 27-jähriger Migrant aus Syrien. Er hat geschafft, wovon Tausende träumen: Hinter die Grenze zu kommen und von den polnischen Kräften nicht direkt wieder ins Sperrgebiet zurückgestoßen zu werden. Seinen Nachnamen will er nicht nennen, Abdul schlendert ein wenig vor dem Flüchtlingsheim herum, er telefoniert erst mal. Und dann erzählt er seine Geschichte.
Wie Hunderte andere sei er der Einladung Lukaschenkos nach Europa gefolgt, sagt er. Er dachte, es würde alles ganz schnell gehen. Erst der Flug von Syrien nach Minsk, dann mit einem Schleuser zur Grenze. Seine Familie hatte ihn vorgeschickt, er solle Arbeit in Europa finden, denn seine Heimatstadt ist noch immer gezeichnet vom Bürgerkrieg.
An der polnisch-belarussischen Grenze endete vorerst seine Reise: "Sie haben uns geschlagen, die belarussischen Soldaten", erzählt Abdul. Er deutet auf seine Arme und Beine, dort hätten ihn die Hiebe getroffen, sagt er. Und immer hätten ihn die Schergen wieder in Richtung Polen gedrückt. Er holt tief Luft und macht eine Pause beim Erzählen. Abduls Gesicht ist unrasiert, er sieht müde aus. An den Füßen trägt er Badeschlappen ohne Socken.
"Als es uns gelang, die Grenze zu überqueren, da tranken wir erst mal Wasser aus Pfützen. Wir wären fast verdurstet", sagt er und schaut mit versteinerter Miene. Lange irrten er und seine Freunde durch die Sperrzone. Versteckten sich zwischen Büschen und Bäumen.
Einige der polnischen Wälder an der Grenze gelten als der letzte Urwald Europas: Dort wird nicht geforstet und gerodet. Dafür ist der Wald voller Wölfe. Die Hotels in der Region leben gut von den Touristen, die sonst herkommen – und aus sicherer Entfernung einen Eindruck von der Wildnis gewinnen wollen. Jetzt schlagen sich Flüchtlinge wie Abdul hindurch und kämpfen dabei um ihr Leben. Allein mit dem Hunger, dem Durst, der Kälte und ihrer Angst.
Die harte Haltung kommt vielen gerade recht
Das polnische Militär durchkämmt in diesen Wochen den Wald an der Grenze mit größter Präzision. Alle paar Kilometer sind Grenzposten stationiert, dazwischen die Patrouillen. Und nach fünf Tagen fanden die polnischen Soldaten auch Abdul.
Eigentlich werden Flüchtlinge wie er sofort zurück nach Belarus gebracht, die Regeln sind strikt. In Polen gilt die Haltung, hart an der Grenze zu sein, als populär. Doch Abduls Zustand nach seinem Leidensweg durch den Wald muss dermaßen lebensbedrohlich gewesen sein, dass ihn die Streitkräfte stattdessen in ein Krankenhaus brachten – und nicht zurück ins Sperrgebiet. Ihn rettete sein Beinahe-Tod.
Wie es weitergeht, das weiß Abdul noch nicht. Er würde gern nach Deutschland, Österreich oder Holland, sagt er. Doch fürs Erste muss er nun in dem Flüchtlingsheim bleiben. Denn innerhalb der EU herrscht Konsens: Die restriktive Politik Polens kommt vielen Staaten gerade recht, die Flüchtlinge sollen bloß nicht weiter in den Westen gelangen.
Diese Haltung hat auch Verfechter in der noch amtierenden deutschen Bundesregierung. So erklärte der SPD-Außenminister Heiko Maas, dass man keine Flüchtlinge aus der Region in Deutschland aufnehmen wolle. Die implizite Botschaft lautet: Die Sorge vor einer zweiten Flüchtlingswelle wie im Jahr 2015 ist zu groß.
Die Sanktionen zeigen erste Wirkung, Lukaschenko kann nicht unbegrenzt Druck entfalten
Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sagt: "Hier werden Menschen gewissermaßen als Waffen missbraucht, um Europa zu destabilisieren." Und: "Europa darf sich auf keinen Fall von Lukaschenko beziehungsweise Herrn Putin erpressen lassen."
Der Grünen-Politiker Julian Pahlke, der selbst gerade in der Grenzregion unterwegs war, sagt zwar: "Oberste Priorität hat: Das Leid der Kinder, Frauen und Männern im Grenzgebiet muss beendet werden." Und: "Wir müssen diese Abwärtsspirale aus unrechtmäßigen Push-Backs durch Polen und anschließend der Gewalt durch belarussische Einheiten endlich beenden." Doch auch die Grünen fordern keine Aufnahme von Migranten.
In der Bundesregierung und vonseiten der EU hofft man eher, dass die aktuellen Sanktionen gegen Belarus noch größere Wirkung entfalten. So wurde Druck auf verschiedene Fluglinien ausgeübt, die nun nicht mehr Hunderte Migranten nach Minsk fliegen. Lukaschenko kann also nicht unbegrenzt weiter Flüchtlinge als Druckmittel einsetzen. Doch für die Menschen, die aktuell im Sperrgebiet verharren, ändert sich nichts. Auch, weil Polen praktisch keine Hilfsorganisationen zu den Flüchtlingen lässt.
Polen erledigt in diesen Tagen das Geschäft, das sonst niemand machen will. Und natürlich hofft die Regierung in Warschau auf einen Imagegewinn ihres Landes in der EU: Sie sind der Türsteher und der Rest der Staatengemeinschaft kann beruhigt sein. Das strikte Vorgehen ist auch im eigenen Interesse.
Über dem Regierungsviertel von Warschau ist am Samstagabend früh die Nacht hereingebrochen. Das Licht der Straßenlaternen taucht die Betongebäude in gelbe Farbe, als Hanna Machińska mit ihrem kleinen Auto schwungvoll auf einen Parkplatz einbiegt. Machińska ist die stellvertretende Menschenrechtskommissarin in Polen, sie gehört zum Büro des sogenannten "Ombudsmannes", einem in der der Verfassung verankerten Amt, das über die Einhaltung von Menschenrechten wachen soll. Oft ist sie damit in direkter Opposition zur Regierung. Machińska geht zu ihrem Büro, es ist das letzte, in dem Licht brennt. Sie kennt in diesen Tagen keine Arbeitszeiten mehr.
Die 70-jährige Juristin will an diesem Abend über die Lage der Flüchtlinge sprechen. Machińska ist eine der wenigen Personen mit Zugang zum Sperrgebiet. Sie kann sehen, was der Welt verborgen bleibt. Und was sie sieht, bringt sie im Interview an den Rande der Tränen, obwohl sie schon viel Leid gesehen hat. Machińska erzählt: "Die Flüchtlinge stromern durch den Wald, sie sind fast unsichtbar. Einige machen absichtlich ihre Taschenlampen aus, damit sie von den patrouillierenden Polizisten nicht gefunden werden können." Immer wieder fährt sie ins Sperrgebiet, sie hat manchmal Helfer vom Roten Kreuz mitgenommen, weil diese allein nicht in die Zone gekommen wären.
Machińska erzählt, dass die meisten Migranten völlig überrascht seien von den Zuständen: "Die allermeisten Menschen an der Grenze haben praktisch keinerlei Bildung genossen. Viele können nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben, höchstens einen Satz. Sie sind einfach in den Flieger gestiegen, ohne sich der Risiken und Schwierigkeiten bewusst zu sein."
Machińska wünscht sich mehr internationale Vereinigungen vor Ort, erzählt sie: Europarat, Vereinte Nationen, je mehr Kräfte, umso besser. Sie hofft, dass der Ausnahmezustand bald abläuft. Vielleicht ist es ja doch irgendwie möglich, dass die Presse dann mal in das Gebiet kommt? "Es gibt vorsichtige Signale in diese Richtung, aber noch ist nichts sicher." Anschließend verabschiedet sie sich, sie hat noch viel zu tun.
Doch dann, als die schwere Tür beim Abschied schon ins Schloss gefallen ist, da reißt Hanna Machińska sie noch einmal auf. Sie will etwas zeigen, man möge mal mitkommen. Die kleine Frau läuft zielstrebig die langen, dunklen Gänge in dem Haus des Ombudsmannes entlang.
Und deutet plötzlich in einen Raum. Darin liegen Dutzende blaue Plastiksäcke, die prall gefüllt sind: "Kleiderspenden! Von den Menschen hier aus der Umgebung!" Die Säcke sind beschriftet, die Kleidung ist für Erwachsene, Jugendliche und Kinder, im Büro des Ombudsmannes wurde alles schon vorsortiert. Machińska selbst wird dafür sorgen, dass sie in den nächsten Tagen zu den Migranten gebracht wird. Besonders Jacken und Pullis sollen zumindest ein bisschen gegen die eisige Kälte helfen. Und die Hilfsorganisationen dürfen weiterhin nicht ins Sperrgebiet.
- Eigene Beobachtungen und Recherchen an der polnischen Grenze zu Belarus