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Bürgergeld-Protokolle: "Merz würde nicht gefallen, was ich mache"


Bürgergeld-Protokolle
"Prekärer geht's nicht"


10.05.2025 - 10:57 UhrLesedauer: 8 Min.
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Friedrich Merz war die Ernüchterung anzusehen. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa/dpa-bilder)
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Krankheit, Kündigung oder keine Lust: Es gibt viele Gründe, warum Menschen Bürgergeld beziehen. Das System soll nun reformiert werden – Betroffene zeigen sich davon unbeeindruckt.

CDU, CSU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, das Bürgergeld durch eine neue "Grundsicherung für Arbeitssuchende" zu ersetzen. Nicht nur der Name ändert sich, es soll auch mehr Druck auf Arbeitslose ausgeübt werden: Jede Person, die arbeiten kann, soll sich zukünftig aktiv um Beschäftigung bemühen müssen. Wer das nicht tut, den soll das Jobcenter schneller und einfacher sanktionieren können – bis zum vollständigen Leistungsentzug.

Doch wie blicken Betroffene auf die angekündigten Änderungen? Dazu hat t-online mit mehreren Menschen gesprochen und ihre Geschichten protokolliert. Die Betroffenen sind der Redaktion von t-online bekannt, sie wollten aber nicht mit Namen genannt werden.

Bürgergeld

Der Nachfolger des Arbeitslosengelds II (Hartz IV) ist noch verhältnismäßig jung – die Ampelkoalition hat es vor knapp zweieinhalb Jahren am 1. Januar 2023 eingeführt. Ziel war es, Menschen besser und langfristig in Arbeit zu bringen, mehr Teilhabe zu ermöglichen und Bürokratie zu verringern. Der Regelsatz liegt für Alleinstehende bei 563 Euro – außerdem wird die Bruttokaltmiete plus Heizkosten übernommen.

Der Studienabsolvent, 28 Jahre

"Ich bin derzeit so halb im Bürgergeld drin. Vor drei Monaten habe ich den Antrag gestellt und auch schon Stellenangebote bekommen – doch noch keine Leistungen. Ich habe gerade meinen Masterabschluss in VWL absolviert, doch nicht sofort den Sprung in die Arbeitswelt geschafft. Ich habe zwar ein Fach studiert, das mir danach viele Möglichkeiten eröffnet, aber die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist derzeit schwierig.

Die Zusammenarbeit mit dem Jobcenter war bislang sehr kompliziert und intransparent. Mir wird es schwer gemacht, diese Leistung zu beziehen, und es fühlt sich so an, als ob die Behörde mich ermüden will. Wenn ich Dokumente schicke, braucht das Jobcenter jedes Mal drei Wochen Bearbeitungszeit. Wenn ich anrufe, muss ich immer wieder aufs Neue meine Sachlage erläutern. Ich habe angegeben, dass ich mit meiner Freundin zusammenlebe. Daraufhin hat mir eine Sachbearbeiterin erklärt, sie müsse dann jetzt in Vollzeit arbeiten und für uns beide aufkommen, weil wir eine Bedarfsgemeinschaft seien. Das geht aber gar nicht, sie fängt bald ein neues Studium an. Ich will das Jobcenter nicht anlügen, aber ich hätte einfach verschweigen sollen, dass wir verpartnert sind.

Weil ich immer noch kein Geld vom Jobcenter bekommen habe, lebe ich derzeit von der Unterstützung von Freunden und meinen Eltern. Das Geld muss ich aber irgendwann zurückzahlen. Ich bin noch aus dem Studium gewohnt, mit sehr wenig Geld auszukommen. Ich kaufe keine neuen Klamotten, habe kein Auto und kein ÖPNV-Abo, bin nicht versichert und habe kaum ein Sozialleben. Prekärer geht's nicht. Das ist nur möglich, weil ich weiß, dass es bald zu Ende ist.

Denn nach intensiver Jobsuche habe ich jetzt endlich eine Zusage bekommen – für eine Promotionsstelle im Ausland. Ich glaube nicht daran, dass ich bis dahin noch Bürgergeld erhalte, obwohl ich bislang sicher 15 Mal Kontakt mit dem Jobcenter hatte. Meine Freundin hat mir geraten, jeden Tag dort anzurufen, doch damit tue ich mich schwer. Ich will ja niemanden bedrängen. Aber vielleicht muss man einfach richtig dreist sein, um Geld vom Staat zu bekommen."

Die dreifach Ausgebildete, 61 Jahre

"Große Abschnitte meines Lebens war ich arbeitslos. Das Bürgergeld empfinde ich als eine Maschinerie, aus der man aus eigener Kraft nur schwer wieder herauskommt. Zwar bewerbe ich mich weiter für Jobs, aber es müsste wohl ein Wunder passieren, dass ich ein Angebot bekomme, das zu meinen Qualifikationen passt. Dabei habe ich drei Facharbeiter-Ausbildungen gemacht, aber damit konnte ich bislang nicht mehr machen als mir die Nachweise an die Wand nageln.

Ich bin in der ehemaligen DDR geboren, habe einen guten Schulabschluss und zunächst eine Ausbildung zur Verkäuferin für diätetische Lebensmittel absolviert. Nach der Wende zog ich mit meinem Mann auf die Ferieninsel Rügen, doch da gab es außerhalb der Feriensaison kaum Beschäftigung. Dann wurde meine Ehe geschieden und ich stand arbeitslos und alleinerziehend mit zwei Kindern da. Ich wollte ihnen ein Vorbild sein und habe deshalb jeden Job gemacht, den ich bekommen konnte. So stand ich etwa im Fischwerk am Band und habe "Schönheitschirurgie für Heringshälften" betrieben, wie wir damals witzelten.

Später schulte ich zur Hotelfachfrau um, durfte aber leider nur eine Saison in dem Beruf arbeiten. Dann wurde ich als Reinigungskraft abgestellt. Das Jobcenter finanzierte mir daraufhin auch noch meine dritte Ausbildung zur Kauffrau im Gesundheitswesen. In diesem Beruf habe ich nicht einen Tag gearbeitet, denn ich hatte ja gar keinen medizinischen Hintergrund und als 51-jährige Berufsanfängerin keine Chance auf eine Anstellung. Es hieß, mit einer Ausbildung würde ich ein neues Kapitel aufschlagen. Das hat sich nicht bewahrheitet. Ich habe insgesamt mehr Zeit auf der Schulbank als auf der Arbeit verbracht. Zwar werde ich noch zu Bewerbungsgesprächen eingeladen, aber die Stellen bekommen dann immer andere.

Öfter lag es auch an meiner Gesundheit, dass ich Jobs nicht ausüben konnte. Ein Praktikum wurde vorzeitig durch einen Arbeitsunfall beendet, als ich in der ersten Woche mit einer zweiflügeligen Holztür kollidierte und mich dabei schwer verletzte. Einen Job im Callcenter musste ich nach sechs Monaten abbrechen, weil meine Stimmbänder nicht mehr mitmachten und ich mit Kehlkopfentzündung ausfiel. Seitdem ist es mir nicht gelungen, eine Beschäftigung zu finden, und jetzt hänge ich wieder in dieser Maschinerie fest.

Das Thema Bürgergeld belastet mich sehr. Erst letzte Nacht habe ich geträumt, dass Friedrich Merz und Carsten Linnemann beschließen, dass der Regelsatz der neuen Grundsicherung gleich bleibt und nicht erhöht wird. Das wäre ein Albtraum für mich. Das Bürgergeld ist jetzt schon zu niedrig. Es sichert kaum die Existenzgrundlage, ich muss auf gesunde Ernährung verzichten und eine Teilhabe am soziokulturellen Leben ist sowieso nicht mehr möglich.

Von den angedrohten Sanktionen halte ich nichts. Angst zu schüren, bringt doch Menschen auch nicht in Beschäftigung. Mir hat das Jobcenter häufiger versucht, Leistungen zu streichen, aber ich kenne meine Rechte und komme meinen Pflichten nach. Der jahrzehntelange Kampf um Geld hat mich allerdings krank gemacht – ich leide deshalb unter einer Angststörung und Depressionen. Meinen Humor habe ich mir aber behalten."

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Der Totalverweigerer, Ende 20

"Ich lebe seit meinem 18. Lebensjahr von Sozialleistungen und habe nicht vor, daran etwas zu ändern. Ich habe keinerlei Diagnosen und bin auch nicht krankgeschrieben. Auf dem Papier bin ich völlig arbeitsfähig. Aber ich habe mich schon in der Schulzeit von Dingen, die für andere Leute Kleinigkeiten sind, massiv gestresst gefühlt. Eine Ausbildung oder ein Studium aufzunehmen, ist für mich unvorstellbar.

Ich habe mir etliche Strategien und Tricks angeeignet, um Sanktionen zu vermeiden. Das Jobcenter kann eigentlich nicht kontrollieren, ob ich mich um einen Job bemühe. Umso wichtiger ist es deshalb, wie ich mit Vermittlungsvorschlägen vom Jobcenter umgehe. Nach meiner Erfahrung will kein Arbeitgeber jemanden einstellen, der sich nur bewirbt, weil ihn das Jobcenter dazu zwingt. Das versuche ich, entsprechend zu kommunizieren, ohne dass mir dabei negatives Bewerbungsverhalten nachgewiesen werden kann.

In meinem Umfeld weiß niemand, dass ich von Bürgergeld lebe – weder Freunde noch Familie. Nach einer abgebrochenen Ausbildung habe ich vor einigen Jahren einen Minijob angenommen. Nach relativ kurzer Zeit habe ich diesen wieder gekündigt. Mein Umfeld denkt jedoch, dass ich dort weiter arbeite. Ich bin nicht stolz darauf und lüge beispielsweise neben meinem persönlichen Umfeld auch Ärzte an, wenn sie fragen, was ich beruflich mache, weil mir das unangenehm ist.

Ich lebe minimalistisch und sparsam und komme mit dem Geld gut zurecht. Gelegentlich kann ich ein Konzert besuchen und manchmal auch Essen bestellen, das ist aber eine große Ausnahme.

Damit ich mein Verhalten ändere, müsste viel passieren. Solange Wohnung, Krankenversicherung und Lebensmittel gesichert sind, lebe ich weiter so. Selbst wenn ich nur noch Lebensmittelgutscheine anstatt Bargeld bekäme, würde ich weitermachen. Erst wenn Miete und Krankenversicherung nicht mehr gezahlt würden, wäre der Punkt erreicht, an dem ich arbeiten müsste.

Es ist mir unangenehm, auf Kosten der Allgemeinheit zu leben und meine Mitmenschen darüber anzulügen. Doch das schätze ich für mich persönlich trotzdem als das kleinere Übel ein, als arbeiten zu gehen."

Der Kläger, 57 Jahre

"Ich war in meinem Leben mehrere Male arbeitslos und auf Geld vom Jobcenter angewiesen. Zuletzt war ich vor ein paar Jahren bei einem alten Kumpel von mir beschäftigt, doch dessen Unternehmen bekam immer weniger Aufträge und mir wurde gekündigt. Seitdem habe ich natürlich versucht, einen neuen Job zu finden, aber das hat nicht geklappt. Über die Gründe kann ich nur mutmaßen, aber ich denke, es lag an meinem Alter.

Aus der Arbeitslosigkeit heraus habe ich versucht, mich mit dem Verkauf von Fertighäusern selbstständig zu machen. Doch da hat meine Gesundheit nicht mitgespielt. Erst hatte ich zwei Bandscheibenvorfälle und dann kam auch noch ein Schlaganfall dazu. Deshalb wurde mir vor Kurzem eine Erwerbsminderungsrente genehmigt. Die ist jedoch nur befristet, wenn mein Folgeantrag also nicht anerkannt wird, könnte ich wieder ins Bürgergeld rutschen.

Wenn meine Gesundheit mitspielt, würde ich auch noch einmal arbeiten gehen. Ich habe eine Lehre zum Raumausstatter gemacht und dann als Polsterer gearbeitet. Dann bin ich in den Möbelverkauf gewechselt, meinen Job verlor ich dann aber, weil ich wohl nicht genug Umsatz vorweisen konnte.

Von meinem Status habe ich nur meinen engsten Freunden erzählt, gegenüber Nachbarn und Verwandten verschweige ich ihn. Ich lebe im Eigenheim – das habe ich glücklicherweise abbezahlt – und wollte mir nicht vorwerfen lassen, ein Haus zu besitzen und trotzdem Bürgergeld zu beziehen.

Die Debatte rund um das Bürgergeld hat Stammtischcharakter, das hat mit der Realität nichts zu tun. Die Politik redet davon, das Bürgergeld abzuschaffen, aber das geht doch gar nicht – am Ende bekommen die Sozialleistungen einfach nur einen anderen Namen. Ich bin außerdem skeptisch, was den kompletten Entzug von Leistungen angeht. Das geht laut Bundesverfassungsgericht nur, wenn das Jobcenter nachweisen kann, dass man einen Vertrag hätte unterschreiben können, es aber nicht getan hat. Ich finde in so einem Fall Totalsanktionen gerecht – aber das kommt in Wirklichkeit doch fast nie vor.

Als Arbeitslosengeldempfänger musste ich mein Leben stark anpassen, um mit dem wenigen Geld zurechtzukommen. Ich habe vollständig auf Kultur verzichtet, meine Frau hat sich nicht mehr geschminkt und wir haben bei Lebensmitteln so gut es ging gespart. Glücklicherweise kommt bei der Erwerbsminderungsrente deutlich mehr zusammen und wir kommen jetzt besser über die Runden."

Die Ausgebrannte

"Ich bin seit einigen Monaten arbeitslos und bekomme Geld von der Agentur für Arbeit. Mein letzter Job hat mich an den Rand des Burn-outs geführt, deshalb habe ich das Unternehmen verlassen. Jetzt nutze ich die Zeit, um gesund zu werden und mich umzuorientieren. Das schaffe ich hoffentlich innerhalb von einem Jahr, denn ich will auf keinen Fall ins Bürgergeld rutschen.

Ich habe zuvor im Verlagswesen gearbeitet. Das war immer mein Traumjob und ich war stolz auf meine Tätigkeit. Doch der Workload war schon von Anfang zu hoch. Überstunden waren normal und es wurde erwartet, dass ich auch abends auf der Couch noch neue Bücher anlese – unvergütet versteht sich.

Ich wollte meine Arbeit gut machen und Texte ordentlich lektorieren, doch das ging bei der schieren Menge gar nicht. Meine Kollegen rieten mir, weniger gründlich zu arbeiten, um mehr wegschaffen zu können. Das gelang mir aber nicht. Ich war oft mit der Arbeit hinterher und arbeitete abends oder am Wochenende weiter. Irgendwann empfand ich es als Belastung, wenn mich Freunde besuchten, weil ich dann nichts wegschaffen konnte.

Es ging mir dabei mental und körperlich immer schlechter und so entschied ich mich dazu, meinen Vertrag nicht zu verlängern. Jetzt mache ich intensiv Therapie und es geht mir deutlich besser. Ich wäre gegenüber der Agentur für Arbeit gerne ehrlich gewesen und hätte von meiner Situation erzählt, aber die dürfen natürlich nicht wissen, dass meine Arbeitslosigkeit selbst gewählt war, sonst hätte ich gesperrt werden können.

Bislang hat die Agentur mich aber in Ruhe gelassen, und ich habe die Zeit genutzt, um über meine Zukunft nachzudenken. Ein Zurückgehen in die Verlagswelt schließe ich aus, denn die Probleme sind in der ganzen Branche gleich. Ich könnte mir vorstellen, im Buchhandel zu arbeiten. Das ist zwar schlechter bezahlt, aber weniger stressig.

Derzeit genieße ich es, auszuschlafen und freie Tage zu haben. Mein Umfeld hat meine Entscheidung gefeiert, mit meinen Freunden habe ich auf meine Arbeitslosigkeit angestoßen. Meine Eltern machen sich jedoch Sorgen, wie es weitergeht. Und ich weiß, dass viele Leute wohl auch ein Problem damit haben. Friedrich Merz würde sicher nicht gefallen, was ich gerade mache."

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Josephine Liebig (Name geändert)
  • Telefonat mit Wolfgang Zimmermann (Name geändert)

Quellen anzeigenSymbolbild nach unten

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