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Olaf Scholz in Prag: Kanzler schwört Europa auf Kampf gegen Putin ein


Scholz' doppelte Botschaft
"Jede Schwäche wird Putin nutzen"

Miriam Hollstein berichtet aus Prag

Aktualisiert am 29.08.2022Lesedauer: 5 Min.
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Olaf Scholz: Bei einer Rede in Prag äußerte er sich zu einer gemeinsamen Luftverteidigung. (Quelle: Reuters)

Bei seinem Auftritt in Prag ruft Scholz zur Reform der EU auf, als Lehre aus dem Ukraine-Krieg. Es gehe dabei auch um einen Kampf der Systeme.

Sie steht im Hausaufgabenheft jedes deutschen Kanzlers: die große Europa-Rede. Olaf Scholz (SPD) hat sich dafür einen historischen Ort ausgesucht: die Prager Karls-Universität. Die Studentenproteste hier am 17. November 1989 markierten den Beginn der "Samtenen Revolution". Eine Zeitenwende.

Als Olaf Scholz am Montag um 11 Uhr in der Alten Aula der Karls-Universität vor rund 400 Gäste, darunter viele Studentinnen und Studenten, tritt, geht es auch um eine Zeitenwende. Der Kanzler ruft zu einer grundlegenden Reform der Europäischen Union auf – als Lektion aus dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt.

"Putins Russland will mit Gewalt neue Grenzen ziehen – etwas, das wir in Europa nie wieder erleben wollten", sagt Scholz: "Der brutale Angriff auf die Ukraine ist somit auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung." Dieser habe erneut die Frage aufgeworfen, "wo künftig die Trennlinie verläuft zwischen diesem freien Europa und einer neo-imperialen Autokratie".

Europa als "gelebte Absage an Imperialismus und Autokratie"

Für Europa sieht Scholz eine neue Aufgabe: "Wir nehmen Russlands Angriff auf den Frieden in Europa nicht hin! Wir sehen nicht einfach zu, wie Frauen, Männer und Kinder umgebracht, wie freie Länder von der Landkarte geteilt werden und hinter Mauern oder eisernen Vorhängen verschwinden. Wir wollen nicht zurück ins 19. oder 20. Jahrhundert, mit seinen Eroberungskriegen und seinen totalitären Exzessen."

Europa sei nicht nur "offen für alle europäische Nationen", die seine Werte teilten, so Scholz. Es sei vor allem "die gelebte Absage an Imperialismus und Autokratie". Es ist eine doppelte Botschaft des Kanzlers an Putin: Du hast nicht nur die Ukraine, sondern ganz Europa gegen dich. Und: Du hast dein Land aus dem europäischen Wertekonsens ausgeschlossen.

Dann konkretisiert Scholz, was das seiner Ansicht nach für die EU bedeutet: zum Beispiel eine klare Beitrittsperspektive für die Ukraine, die Republik Moldau, "perspektivisch" auch für Georgien und natürlich auch die sechs Staaten des Westlichen Balkans. Letztere bemühen sich zum Teil schon seit Jahren um eine Aufnahme. Scholz will diesen Prozess beschleunigen: "Ihr EU-Beitritt liegt in unserem Interesse." Wer das 21. Jahrhundert im europäischen Sinn mitprägen wolle, der habe dafür mit einer Europäischen Union "aus 27, 30 oder 36 Staaten" die besten Chancen.

Erweiterung vor Vertiefung

Damit erteilt der Kanzler den jahrelangen Debatten, ob für die EU nicht erst eine "Vertiefung" kommen müsse – also eine noch stärkere interne Vernetzung vor jedem Gedanken an eine weitere Ausdehnung –, eine Absage.

Doch eine Erweiterung kann nur funktionieren, wenn die EU handlungsfähig bleibt. Scholz spricht sich deshalb in Prag für eine Abkehr vom Prinzip der Einstimmigkeit aus. "Dort, wo heute Einstimmigkeit erforderlich ist, wächst aber mit jedem weiteren Mitgliedstaat auch das Risiko, dass ein einzelnes Land mit seinem Veto alle anderen am Vorankommen hindert." Wer anderes glaube, der verleugne die europäische Realität. Geht es nach dem Bundeskanzler, sollen deshalb künftig in der gemeinsamen Außenpolitik, aber auch in anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, Mehrheitsentscheidungen gelten. "Schrittweise" soll dieses Prinzip eingeführt werden.

Scholz will keine "Koalition der Willingen"

Von der Vorstellung, mit einigen EU-Ländern "Koalitionen der Willigen" zu gründen, die sich den schwerfälligen Prozessen entzieht und eigene Entscheidungen trifft, hält Scholz nichts. Ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten" nannte der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) das einmal. "Das wäre keine differenzierte Integration", sagt Scholz: "Sondern es wäre ein unübersichtlicher Wildwuchs – und eine Einladung an alle, die gegen ein geeintes geopolitisches Europa wetten und uns gegeneinander ausspielen wollen". Das wolle er nicht.

Eine Aufblähung des Europäischen Parlaments durch eine Erweiterung müsse verhindert werden, so Scholz. Deshalb müsse bei der Sitzverteilung eine neue Regelung gefunden werden. Am Prinzip "Pro Land ein Kommissar oder eine Kommissarin" will er zwar ausdrücklich nicht rütteln. Aber hier sollen Zuständigkeitsbereiche zusammengelegt werden. Wenn bei 36 Mitgliedstaaten jeder einen eigenen Politikbereich zu verantworten hätte, dann würde das zu "kafkaesken Verhältnissen" führen, warnt Scholz in Anspielung auf einen der berühmtesten Söhne Prags, den Schriftsteller Franz Kafka.

Elektroladesäulen für die ganze EU

Außerdem fordert der Kanzler neue Anstrengungen, um zu mehr europäischer Souveränität zu gelangen. Notwendig seien "eine echte europäische Kreislaufwirtschaft", ein "europäisches Wasserstoffnetz" und einen "Energiebinnenmarkt, der Europa mit Wasserkraft aus dem Norden, Wind von den Küsten und Sonnenenergie aus dem Süden versorgt – verlässlich im Sommer wie im Winter". Die ganze EU müsse zudem mit einem Netz an Elektroladesäulen ausgestattet werden, auch für Lkw. Für den Flugverkehr solle in neue klimaneutrale Kraftstoffe investiert werden, "damit das Ziel klimaneutraler Luftfahrt kein Traum bleibt".

Macron erwähnt er nur am Rande

Auffällig bei Scholz‘ Rede: Den Vorschlag von Emmanuel Macron, eine Europäische Politische Gemeinschaft zu gründen, erwähnte er nur am Rande. Dabei war es der französische Präsident, der immer wieder versucht hatte, Deutschland zu einer gemeinsamen Reformanstrengung an Bord zu holen – bei Scholz‘ Vorgängerin Angela Merkel damit aber auf taube Ohren gestoßen war.

Ohne Frankreich, ohne den deutsch-französischen Motor, wird Scholz keine einzige Reform in der EU durchbekommen. In Prag wollte er aber offenbar klarmachen, dass er dabei die Führungsrolle beansprucht. Auch die Idee Macrons (ähnlich der von Joschka Fischer), innerhalb der EU eine Avantgarde zu gründen, sieht Scholz skeptisch.

Und noch etwas war bemerkenswert: Auch wenn Scholz explizit die Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft und die Rolle der Nato hervorhob, so sprach er sich auch bei der Verteidigung für mehr europäische Souveränität aus. Europäische Verteidigungsstrukturen müssten vereinheitlicht, ein gemeinsames Luftverteidigungssystem aufgebaut werden. Zu einer funktionierenden Migrationspolitik gehöre zudem ein wirksamer Schutz der Außengrenzen. Europa müsse sich nicht nur von innen, sondern auch von außen schützen können.

In der Karls-Universität appellierte Scholz noch einmal an die europäische Solidarität: "Putins Russland definiert sich auf absehbare Zeit in Gegnerschaft zur Europäischen Union. Jede Uneinigkeit zwischen uns, jede Schwäche wird Putin nutzen."

Am Ende zitierte Scholz einen Slogan, der die Prager Studentenproteste geprägt hat: "Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir?" Ursprünglich stammt er aus dem Talmud.

Was die EU Putin verdankt

Wie schwer es wird, die Vorschläge umzusetzen, erlebte Scholz bei der anschließenden Pressekonferenz mit Premier Petr Fiala. Er habe die Rede von Scholz aus "technischen Gründen" nicht hören können, sagte dieser auf eine Journalistenfrage. In der Frage der Abschaffung der Einstimmigkeit sei man aber "zurückhaltend". Tschechien hat seit dem 1. Juli die Ratspräsidentschaft der EU inne. Das Motto: "Europa als Aufgabe".

Der Kanzler wird viele Verbündete brauchen und viele dicke Bretter bohren müssen, um seine Ideen von einer reformierten EU auch durchsetzen zu können. Seine Vorgängerin Angela Merkel hat bereits 2018 gefordert, das Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik aufzugeben. Passiert ist nichts.

Aber nie sind die Chancen für einen echten Wandel größer als in Zeiten einer Krise. Weil die Notwendigkeit der Veränderung dann offenkundig wird. Hinzu kommt, dass die in Friedenszeiten oft verbreitete Europaskepsis seit Beginn des Ukraine-Kriegs verschwunden ist. Wladimir Putin hat gewissermaßen mehr für das Zusammenrücken Europas getan als es viele europäische Staats- und Regierungschefs je vermocht hätten.

Verwendete Quellen
  • Teilnahme an der Veranstaltung der Karls-Universität.
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