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Fachkräftestrategie: Nimmt Deutschland anderen Ländern Arbeiter weg?


Fachkräftestrategie der Ampel
Nehmen wir anderen Ländern die Arbeitskräfte weg?


Aktualisiert am 02.04.2023Lesedauer: 5 Min.
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Arbeitsminister Hubertus Heil und Innenministerin Nancy Faeser (beide SPD) mit dem Regierungsentwurf für das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz. (Quelle: IMAGO/M. Popow)

Deutschland will offene Stellen verstärkt mit Arbeitskräften aus dem Ausland besetzen. Brauchen andere Länder diese nicht selbst?

Edi Rama kämpft. "Wir können das nicht akzeptieren", sagt der albanische Ministerpräsident. Anfang März steht er bei einer Pressekonferenz neben Kanzler Olaf Scholz (SPD). Auf die Frage einer Journalistin, ob Deutschland eigentlich eine Gegenleistung erbringen müsse, weil zahlreiche albanische Ärztinnen und Ärzte dorthin auswanderten, antwortet Rama: Es müsse verhindert werden, dass Albanien direkt das deutsche Gesundheitssystem "finanziere".

Nun hat der Regierungschef des Westbalkanstaates eine Initiative angekündigt, mit der er das eigene Gesundheitspersonal im Land halten will, etwa durch vergünstigte Kredite. Auch erwägt Tirana, Medizinabsolventen dazu zu verpflichten, für eine bestimmte Zeit im Land zu bleiben. Erst wenige Wochen zuvor hatte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) Pflegekräfte in Albanien auf einer Werbetour umschwärmt.

Weltweit ist ein Kampf um dringend benötigte Arbeitskräfte entbrannt. Deutschland steht nicht alleine da: Auch andere alternde Gesellschaften sind händeringend auf der Suche nach Arbeitskräften – etwa nach Pflegekräften, IT-Experten oder Fahrzeugführern.

Am Mittwoch hat die Bundesregierung eine Neuerung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes beschlossen, das Menschen aus dem Ausland durch erleichterte Zugänge und schnellere Verfahren nach Deutschland locken soll. Doch nimmt Deutschland damit anderen Ländern Arbeitskräfte weg, die diese eigentlich selbst dringend benötigen?

"Viele Auswanderungsländer befürworten das"

Der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Brücker beschäftigt sich seit Jahren mit diesen Zusammenhängen. "Es kommt darauf an", sagt der Forscher vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) t-online. Seit 2005 leitet er bei der Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit den Bereich "Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung". "Insgesamt gesehen – für die Zielländer, Herkunftsländer und die Migrantinnen und Migranten –führt Migration zu großen volkswirtschaftlichen Gewinnen", sagt er.

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Herbert Brücker (Quelle: imago stock&people)

Herbert Brücker

ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Berliner Humboldt-Universität und leitet den Forschungsbereich "Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung" am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Das IAB ist eine besondere Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit.

Es gebe zwar eindeutige Verlierer: Für die ärmsten Länder der Welt, etwa für Inselstaaten wie Haiti oder für Länder in Afrika südlich der Sahara, sei die Bilanz negativ, sagt Brücker. "Diese Länder verlieren insgesamt durch den Braindrain, also die Abwanderung von qualifizierten Fachkräften."

Doch klammere man diese Länder aus, profitierten Ursprungsländer durchaus davon, wenn Arbeitskräfte auswanderten. "Obwohl man das auf den ersten Blick vielleicht nicht denken würde, befürworten viele Auswanderungsländer diese Migration", sagt Brücker. "In den Ländern steigt dadurch das Bildungsniveau und die Qualifikation", erklärt der Wissenschaftler.

Menschen, die planten, für Arbeit auszuwandern, investierten zunehmend in ihre Bildung – manche setzten den Auswanderungsplan am Ende vielleicht doch nicht in die Tat um. Andere wanderten zwar aus, kämen aber nach ein paar Jahren mit mehr Qualifikationen in das Land zurück. Und für viele Staaten macht das Geld, das Ausgewanderte an Familienangehörige zurücküberweisen, einen hohen Teil des dortigen Bruttoinlandsproduktes aus, so Brücker.

Diese positiven Effekte gelten laut Brücker für viele Länder, aus denen zahlreiche Arbeitsmigranten nach Deutschland kommen. Etwa für die Türkei, die neuen Mitgliedsstaaten der EU, die Westbalkanstaaten und Länder aus dem Fernen Osten.

Indien hat eine sehr junge Bevölkerung

Für ein Land wie Deutschland, das auf die Zuwanderung von Arbeitskräften setzt, ist das erfreulich. Denn die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er-Jahre gehen nach und nach in Rente, das Arbeitskräfteangebot hierzulande schrumpft. Der demografische Wandel trifft die Bundesrepublik besonders hart: Bis zum Jahr 2035 könnten dem Arbeitsmarkt bis zu sieben Millionen Personen weniger zur Verfügung stehen, hat das IAB ausgerechnet.

Hierzulande machen inzwischen Inderinnen und Inder die größte Gruppe an Arbeitskräften von außerhalb der EU aus. Das Land sticht auch deshalb hervor, weil es eine sehr junge Bevölkerung hat. Der Anteil des Landes an der Weltbevölkerung im Alter von 15 bis 24 Jahren liegt bei knapp über 20 Prozent.

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Das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln empfiehlt deshalb, noch mehr als bislang auf Zuwanderer aus Indien zu setzen. Bereits jetzt arbeiten viele von ihnen hierzulande in hoch qualifizierten Berufen im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich. Es sei langfristig sinnvoll, "einen sehr hohen Anteil von einem Drittel oder mehr der in Deutschland benötigten Zuwanderer hier anzuwerben", heißt es in einem Bericht der Wirtschaftsforscher.

Da es rund 45 Millionen Hochqualifizierte allein im Alter zwischen 25 und 34 Jahren in Indien gebe, sei die Fachkräftebasis so groß, dass es für das Land kaum ins Gewicht fallen würde, so der Bericht weiter – selbst wenn Deutschland einen erheblichen Teil seines Bedarfs von dort deckte. Die Bundesregierung geht von rund 200.000 ausländischen Fachkräften aus, die pro Jahr hier eine Arbeit aufnehmen müssten.

Bislang zieht es die indischen Fachkräfte allerdings vor allem in die USA, nach Kanada oder Großbritannien. Die Bundesregierung hat das Problem erkannt und versucht, hier gegenzusteuern: Erst im Februar war Kanzler Scholz in Indien, um bei indischen Fachkräften für den Standort Deutschland zu werben.

Hier soll nun auch die gesetzliche Neuerung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes wirken. Die Bundesregierung setzt unter anderem auf eine leichtere Anerkennung der Berufsabschlüsse von Arbeitsmigranten. Zudem gibt es bald eine auf einem Punktesystem basierende sogenannte Chancenkarte, über die Menschen auch dann einreisen können sollen, wenn sie noch keine Arbeitszusage haben.

"Im Gesundheitssektor stellt sich die Lage anders dar"

Also ist eigentlich alles gut und die Sorgen des albanischen Präsidenten unbegründet? Nicht ganz, denn es gibt eine Besonderheit, sagt Arbeitsmarktforscher Brücker: "Im Gesundheitssektor stellt sich die Lage anders dar. Dort treten in fast allen Industriestaaten Knappheiten auf."

Das heißt: Wirbt Deutschland in diesem Sektor ab, verstärkt es den Mangel andernorts. Nur wenige Ausnahmen gebe es von dieser Logik, etwa in Mexiko oder den Philippinen, wo man sich darauf spezialisiert habe, Pflegekräfte für andere Länder auszubilden, und daher kein Mangel herrsche, so Brücker. Ansonsten gelte: "In diesem Bereich so gezielt auf die Anwerbung von Pflegekräften zu setzen, ist problematisch", so der Arbeitsmarktforscher.

Doch diese gezielte Anwerbung ist bereits im Gange: Im Februar etwa reiste der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) nach Rumänien und Albanien, um vor Ort Pflegekräfte für Bayern zu gewinnen. Söder selbst sieht kein Problem und begründet seine Werbetour mit bayerischen Investitionen in den Ländern. Außerdem hat er den dortigen Regierungen politische Rückendeckung bei wichtigen Projekten versprochen: Albanien möchte EU-Mitglied werden, Rumänien Teil des Schengen-Raums.

Die Deutsche Plattform für globale Gesundheit, die sich für gleiche Gesundheitschancen weltweit einsetzt, kritisiert das – und hält es in dem Bereich außerdem für die falsche Strategie. "Der Pflegenotstand hierzulande ist vor allem Resultat der schlechten Arbeitsbedingungen", sagt das Mitglied Karen Spannenkrebs, die als Ärztin arbeitet, t-online. "Anstatt anderen Ländern die Arbeitskräfte wegzunehmen, sollten diese Bedingungen verbessert werden."

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Herbert Brücker am 28.3.2023
  • Telefonisches Gespräch mit Karen Spannenkrebs am 28.3.2023
  • arbeitnehmerkammer.de: "Pflegekräfte zurückgewinnen– Arbeitsbedingungen und Pflegequalität verbessern"
  • bpb.de: "Auswanderung aus den Westbalkanstaaten"
  • cna.al: "Rama-Scholz: We lose, we cannot finance German health" (englisch)
  • destatis.de: Zahl der Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten binnen zehn Jahren mehr als verdreifacht
  • euractiv.de: "Albanien will Abwanderung junger Ärzte und Pflegekräfte verhindern"
  • iwkoeln.de: "Immigration from India: A great success for Germany" (englisch)
  • oecd.org: "Labour Migration in the Western Balkans: Mapping Patterns, Addressing Challenges and Reaping Benefits" (englisch)
  • sueddeutsche.de: "Söders Abwerbetour auf dem Balkan"
  • youtube.com: "Gemeinsame Pressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz und Edi Rama am 07.03.23"
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