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Überfordert? Wie Jens Spahn ein Corona-Debakel verursachte


Schlechtes Krisenmanagement
Wie Jens Spahn ein Corona-Debakel verursachte

Von C. Hickmann, M. Knobbe, V. Medick

23.11.2020Lesedauer: 7 Min.
Nachrichten
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Nicht alles läuft glatt: Gesundheitsminister Jens Spahn sorgte im Wirtschaftsministerium für Ärger.Vergrößern des Bildes
Nicht alles läuft glatt: Gesundheitsminister Jens Spahn sorgte im Wirtschaftsministerium für Ärger. (Quelle: imago-images-bilder)

Deutschland ist bislang gut durch die Krise gekommen – so der verbreitete Eindruck. Doch ein neues Buch zeigt: Viele Politiker und Beamte sind von der Pandemie überfordert.

Berlin, Ende Februar. Nach Wochen des Abwartens, des Beschwichtigens hat die Bundesregierung endlich in den Krisenmodus geschaltet. Es geht jetzt nicht mehr anders. Die Bilder aus Italien sind beunruhigend, auch hierzulande steigt mittlerweile die Zahl der Infizierten.

Corona ist in Deutschland angekommen. Jens Spahn und seinen Mitarbeitern schwant, dass schon bald ein riesiges Problem drohen könnte: Die Vorräte an Masken sind knapp, die Schutzanzüge werden weniger, und der Weltmarkt ist leer gekauft. Das, was noch zu haben ist, kostet Unsummen – wenn man es denn überhaupt noch besorgen kann.

Ärzte und Krankenhäuser warnen. Wenn nicht bald große Lieferungen eintreffen, so die Rückmeldung aus den Bundesländern, wird die Lage schwierig. In Spahns Ministerium wächst die Panik. Wenn ausgerechnet das Material fehlt, das scheint den meisten klar, hat vor allem der Gesundheitsminister ein Problem.

In Spahns Umfeld entsteht eine brisante Idee: Was an Masken und Ausrüstung vorhanden ist, muss im Land bleiben und darf nicht exportiert werden. Niemand bekäme dann noch Material aus Deutschland, auch nicht die befreundeten Nachbarn. Es wäre das Gegenteil jener europäischen Solidarität, die die Bundesregierung sonst so gern einfordert – und die auch Spahn selbst immer wieder betont. Ein nationaler Alleingang mit ähnlicher Symbolkraft wie die Einschränkung der Reisefreiheit. Aber Frankreich hat ähnliche Pläne. Also treiben Spahns Leute das Projekt voran.

Was hinter den Kulissen folgt, sind 24 hektische Stunden, vielleicht die hektischsten in dieser ersten Phase der Pandemie. Zwei CDU-geführte Ministerien zerstreiten sich, Beamte gehen aufeinander los, Brüssel schreitet ein, und am Ende steht die Bundesregierung vor einem Scherbenhaufen.

Machtpolitik, Profilierung und Angst

Das Beispiel sagt viel aus über das Krisenmanagement in Deutschland: Zwar ist das Land im Vergleich mit vielen anderen Staaten bislang vom Schlimmsten verschont geblieben, es läuft aber längst nicht so reibungslos, wie die Beteiligten es gerne nahelegen. Viele in der Bundesregierung sind von der Pandemie überfordert. Im Blindflug werden Entscheidungen getroffen, es geht im Hintergrund auch viel um Machtpolitik, Profilierung, Konkurrenz, um Angst vor dem eigenen Scheitern.

Eine Rekonstruktion:

3. März, 16 Uhr, der gemeinsame Krisenstab von Gesundheits- und Innenministerium tagt, Spahns Leute treiben das Vorhaben des Exportverbots voran. In der Sitzung des Krisenstabs gibt es sofort Bedenken, manche fürchten, der Beschluss könnte die Lage weiter zuspitzen. Der Vertreter des Arbeitsministeriums warnt laut Teilnehmern davor, dass es zu Gegenmaßnahmen anderer Länder kommen könnte. Sollten auch die Nachbarn Ausfuhren verbieten, so seine Sorge, würden inländische Hersteller von Schutzausrüstung womöglich wichtige Vorprodukte und Rohstoffe nicht erhalten.

Doch Spahns Leute sind entschlossen: Das Verbot soll kommen. Bis zum nächsten Morgen, Punkt neun Uhr, soll das Wirtschaftsministerium eine Allgemeinverfügung liefern.

Der straffe Zeitplan sickert durch und sorgt umgehend für Irritationen im Wirtschaftsministerium. Noch während der Krisenstab tagt, schickt einer von Altmaiers Spitzenbeamten eine E-Mail an einen von Spahns Unterabteilungsleitern und warnt davor, die Pläne für ein Exportverbot mit allzu heißer Nadel zu stricken. Aus dem Krisenstab "hören wir, dass BMG einen sehr kurzfristigen Erlass der nationalen Allgemeinverfügung fordern wird", schreibt er. Die Maßnahmen, betont er, "müssen auf solider rechtlicher Grundlage stehen".

Es wird jetzt hektisch, allen ist klar, dass die Entscheidung kurz bevorsteht. Eine gute Stunde später, um 18.12 Uhr, geht der Krisenstab auseinander.

Spahn ist ungeduldig

Von den Bedenken des Wirtschaftsministeriums steht im Protokoll zunächst ebenso wenig wie von den Warnungen des Arbeitsministeriums. Stattdessen werden in dem Papier alle Ministerien angehalten zu überprüfen, welche Kapazitäten es gibt, um die Masken zu lagern und zu verteilen. Das Innenministerium soll zudem die rechtlichen Voraussetzungen klären, die es dem Staat ermöglichen würden, Material zu beschlagnahmen, "nicht nur von Schutzausstattungen bzw. von Vorprodukten, sondern auch von entsprechenden Produktionsmitteln".

Trotz des Beschlusses im Krisenstab ist Spahn ungeduldig. Er will nun alle Hebel in Bewegung setzen, damit der Bundesanzeiger das Exportverbot am nächsten Morgen veröffentlichen kann. Aus seiner Sicht kommt es jetzt auf jede Viertelstunde an.

Spahns Staatsekretär Thomas Steffen schickt eine E-Mail an seine Kollegin im Wirtschaftsministerium, Claudia Dörr-Voß. Die Sache sei "sehr dringend", schreibt er: "Wenn wir morgen um 9 Uhr, bevor das Geschäftsleben beginnt, keinen Vorbehalt veröffentlicht haben, wird die Versorgungslage in Deutschland noch schwieriger, weil noch mehr Güter abfließen." Es gebe schon jetzt "massive Lieferschwierigkeiten", warnt Steffen: "Bitte lassen Sie uns wissen, wenn es Probleme mit der 9 Uhr Deadline geben sollte. Meine Kollegen im BMG und ich stehen auch die Nacht über für Rückfragen zur Verfügung."

Sein Ton zeigt: Die Lage ist deutlich dramatischer als öffentlich bekannt – das erklärt den Druck, den Spahns Leute ausüben. Ihnen dürfte klar sein: Wenn sich der Engpass weiter verschärft, hat ihr Chef ein massives Problem.

Dörr-Voß ist längst aktiv geworden. Altmaiers Staatssekretärin hat das zuständige Justizministerium gebeten, beim Bundesanzeiger Druck zu machen. Das Problem ist, dass der Anzeiger die amtlichen Bekanntmachungen eigentlich erst nachmittags veröffentlicht, um 15 Uhr. Außerdem müssten die Mitarbeiter "so mechanische Schritte leisten wie Umsetzung in eine Druckvorlage", schreiben Altmaiers Beamte an Spahns Staatssekretär Thomas Steffen. "Das klingt langweilig und technisch, ist aber Teil des Prozesses und braucht Zeit." Die berühmte deutsche Gründlichkeit ist hier keine Tugend, sondern Hindernis.

"Wie weit sind Sie?"

Nur Minuten später reagiert Steffen, er ist offensichtlich genervt von den Bedenkenträgern im Wirtschaftsministerium. "Ich sehe die Probleme", schreibt er. "Aber Frankreich mit seiner Beschlagnahme hat uns heute extrem geschadet. Deshalb rechne ich morgen mit Marktreaktionen zu unseren Lasten." Er werde deshalb gegenüber dem Justizministerium "alles versuchen", um den Prozess zu beschleunigen, denn auch das Justizministerium "kann nicht riskieren, dass Krankenhäuser schließen in DEU". Der Staatssekretär droht, und zwar mit einem Schreckensszenario.

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Es ist jetzt 19.52 Uhr. "Wie weit sind Sie?", fragt Dörr-Voß den Kollegen in der Fachabteilung. "Wir peilen an, zwischen 21 und 22 Uhr den Entwurf an die Ressorts zu schicken", antwortet der. "Bitte maximal nur 30 Minuten Frist setzen", weist die Staatssekretärin den Beamten an. "Wegen der Öffnung der Märkte", schreibt sie, sei neun Uhr am nächsten Morgen für die Veröffentlichung "absolutes Zieldatum".

Um 23.43 Uhr, 17 Minuten vor Mitternacht, informiert das Fachreferat des Wirtschaftsministeriums per E-Mail die Leitungsebene: "Allgemeinverfügung ist raus Richtung Bundesanzeiger."

Es dauert nicht lange, da laufen am nächsten Tag im Wirtschaftsministerium die Telefone heiß. Vertreter der EU-Kommission melden sich, sie sind empört, weil der Erlass aus ihrer Sicht europarechtswidrig ist. Industrieverbände und Unternehmen rufen an, weil sie Ausnahmen für ihre Produkte wollen. Mal geht es um Fracht, die auch Schutzmasken enthält, aber nicht für den medizinischen Gebrauch bestimmt ist. Dann wieder geht es um Produkte, die über den Hamburger Hafen geliefert worden sind, aber nicht aus Deutschland stammen.

Es meldeten sich "bereits zahlreiche Unternehmen mit Anfragen zum Exportverbot", warnt ein Beamter aus dem Wirtschaftsministerium mehrere Kollegen im Gesundheitsministerium. "Es erscheint insofern sinnvoll und dringlich, dass Sie die Unternehmen proaktiv ansprechen." Er schickt die E-Mail um 14.19 Uhr – nicht einmal vier Stunden nach Veröffentlichung im Bundesanzeiger.

Da draußen, das merken sie im Wirtschaftsministerium schnell, herrscht Aufruhr. Altmaier hat unter anderem Thierry Breton am Telefon, den französischen EU-Kommissar für den Binnenmarkt. Die beiden kennen sich gut, Breton bringt seine Irritation zum Ausdruck, so schildern es Eingeweihte. Es melden sich Firmen, die darauf hinweisen, dass mit dem Exportverbot auch die Lieferketten unterbrochen werden könnten, die es für die Produktion der Schutzausrüstung braucht.

"Darüber müssen wir uns unterhalten!"

Der Tenor ist immer derselbe: Eure Regelung funktioniert nicht. Sie ist zu weit gefasst, sie widerspricht europäischem Recht und sie ist unlogisch. Die Exportbeschränkung werde "katastrophale Folgen" für mittelständische Betriebe haben, schreibt der Bundesverband Medizintechnologie an die Minister Altmaier und Spahn: "Wir bitten hierzu um ein dringendes Gespräch."

Altmaiers Staatssekretärin Dörr-Voß leitet ihrem Amtskollegen Thomas Steffen den Brandbrief weiter: "Uns (und auch Ihrem Chef) liegt ein erstes Schreiben vor, was die Probleme der Vorproduktion und Lieferketten adressiert, die jetzt durch das Exportverbot betroffen sind", schreibt sie per E-Mail. "Darüber müssen wir uns unterhalten!"

Altmaiers Beamte ahnen: Sie müssen die Verordnung korrigieren. Der Frust im Wirtschaftsministerium sitzt tief. Für Jens Spahn, so sehen es manche, sollte das Exportverbot zum Befreiungsschlag werden – stattdessen wird es für Altmaier und seine Leute zum Desaster.

Es ist jetzt der 6. März, Altmaiers Beamte sind damit beschäftigt, die Regelung so zu korrigieren, dass sie halbwegs funktioniert, politisch wie rechtlich. Die Fachebene schickt "eine kleine Vorwarnung" an die Kollegen im Gesundheitsministerium. Es könne sein, so heißt es in einer E-Mail, dass es vonseiten der EU-Kommission weitere Nachfragen gebe. Die Begründung für die Allgemeinverfügung sei sehr knapp gewesen – "das war ja die Nacht-und-Nebel-Aktion".

Das Schreiben ist ein unverhohlener Appell an das Gesundheitsressort, jetzt endlich mal zu liefern. Man habe den "deutlich erhöhten Begründungsbedarf" beim Exportverbot "mehrfach im Vorfeld" verdeutlicht und auch darauf hingewiesen, dass es "noch mehr Butter bei die Fische" bedürfe – Belege dafür also, wie groß die Beschaffungsprobleme wirklich sind.

Empörung im Wirtschaftsministerium

Auch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, das für die Umsetzung verantwortlich ist, beschwert sich per E-Mail beim Gesundheitsministerium. Es wäre "sehr hilfreich", im Ministerium konkrete Kontaktpersonen zu benennen, die offene Fragen zum Exportverbot beantworten könnten, schreibt ein Beamter.

Die Antwort fällt ernüchternd aus. Für "allgemeine Fragen" stehe sein Ministerium weiterhin zur Verfügung, erwidert einer von Spahns Spitzenbeamten. Was die "Beantwortung von Einzelfragen" angehe, "bitten wir, von Anfragen an das Bundesministerium für Gesundheit abzusehen".

Von dieser Antwort bekommt auch Altmaiers Haus Wind, sie erzeugt dort umgehend Empörung. "Aus unserer Sicht ist es inakzeptabel, dass BMG sich hier aus der Verantwortung stiehlt", schreibt das zuständige Fachreferat an die eigene Leitungsebene. "Es kann m.E. nicht sein, dass BMG uns mit viel Nachdruck dazu auffordert, in kurzer Frist eine Regelung zu implementieren, dann aber zu der konkreten Durchführung nichts mehr beitragen möchte."

Am Abend kontaktiert Altmaiers Staatssekretärin Dörr-Voß ihren Kollegen im Gesundheitsministerium. Weil man in seinem Hause "offensichtlich nicht bereit" sei, bei der Klärung von Detailfragen zu kooperieren, "hat mein Minister (!) gebeten, dass wir das auf Sts Ebene ansprechen", schreibt sie. Gemeint sind damit die Staatssekretäre. Die E-Mail erfüllt ihren Zweck. Ein paar Stunden später verspricht Spahns Staatssekretär, "bestmöglich behilflich zu sein".

Ein paar Tage später steht eine korrigierte Fassung des Exportstopps im Bundesanzeiger. Das Verbot ist deutlich entschärft. Aber zwischen den Ministerien ist der Fall bis heute Thema. "Das war völliger Stuss, null durchdacht", sagt einer, der beteiligt war.

Das Buch "Lockdown: Wie Deutschland in der Coronakrise nur knapp der Katastrophe entkam"* analysiert das Krisenmanagement von Bund und Ländern in der ersten Phase der Pandemie. Die 24 Autoren des "Spiegel" beschreiben darin detailliert, wie es zu so umstrittenen Entscheidungen wie jener über das Exportverbot gekommen ist.

Verwendete Quellen
  • Recherchen des Spiegel
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