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Corona-Lockerungen in Deutschland: Es droht ein jeder gegen jeden


Corona-Pandemie
Es geht schon wieder los


Aktualisiert am 05.02.2022Lesedauer: 6 Min.
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Olaf Scholz: Erst die sinkenden Zahlen, dann die Lockerungsdebatte, findet der Bundeskanzler. Nur wie weit kommt er damit?Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz: Erst die sinkenden Zahlen, dann die Lockerungsdebatte, findet der Bundeskanzler. Nur wie weit kommt er damit? (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)

Deutschland macht sich locker – oder doch nicht? Selten gingen die Meinungen über den weiteren Corona-Kurs so sehr auseinander. Es droht ein jeder gegen jeden.

Steffen Hebestreit ist von Natur aus ein Mann der offenen Worte. Das ist nicht unbedingt immer ein Vorteil, wenn einem als neuer Regierungssprecher plötzlich die ganze Welt zuhört. Hebestreit muss seine Natur deshalb in letzter Zeit oft zügeln. Das gelingt ihm meistens, aber nicht immer.

Und dann wird es interessant.

So wie Anfang der Woche, am Montag. Hebestreit saß in der Bundespressekonferenz vor der berühmten blauen Wand. Es ging um Corona, mal wieder, und um die beginnende Debatte um mögliche Lockerungen. Bräuchte es die nicht bald mal?

Hebestreit glaubt, diese Frage eigentlich schon beantwortet zu haben: Abwarten und Zahlen beobachten, das ist die Linie. Also verpackt er seine Worte neu. Eher nebenbei fällt dabei ein Satz, mit dem er beschreibt, worum es in diesen Tagen im Kern geht. Um eine sehr einfache Frage nämlich, die sehr schwer zu beantworten ist: "Wie viel Risiko wollen wir jetzt eingehen?"

Es war ein Moment der Wahrheit. Klartext, wie er in der Politik ständig behauptet, aber nur selten wirklich gesprochen wird. Denn das Grundproblem der Lockerungsdebatte ist das gleiche wie so oft in dieser Pandemie: Eigentlich weiß man viel zu wenig, um eine sichere Entscheidung zu treffen. Und trotzdem muss eine getroffen werden.

Das Problem mit den Modellen

Wissenschaftler können für die Politik zwar die Verläufe der Pandemie modellieren und in bunten Kurven aufzeichnen. Aber ihre Modelle werden immer weniger komplex sein als die Wirklichkeit. Und dann verändert sich diese Wirklichkeit auch noch schneller, als die Wissenschaftler ihre Modelle anpassen können.

Das Robert Koch-Institut hat inzwischen seine Szenarien für die Omikron-Welle veröffentlicht, die auch der Politik als Grundlage dienen. Sie zeigen, dass die Zahlen noch steigen werden und wohl in der zweiten Februarhälfte einen Höhepunkt erreichen. Sie zeigen aber auch, dass eine Überlastung der Intensivstationen eher unwahrscheinlich ist, wenn auch nicht ausgeschlossen, zumindest regional.

Doch die Modelle blenden aus, wie sich der neue Omikron-Subtyp BA.2 auf die Pandemie auswirkt. Die Variante der Variante breitet sich offenbar noch schneller aus. Nur wie schnell? Wie schnell infizieren sich auch wieder mehr Ältere, die häufiger schwerer erkranken? Könnte die mildere Omikron-Welle diesmal die Normalstationen der Krankenhäuser überlasten? Und: Wie viel Überlastung ist im chronisch überlasteten Gesundheitssystem eigentlich noch okay?

Wie viel Risiko also wollen wir eingehen? Sollten, dürfen oder müssen wir gar über Lockerungen reden?

"Auf jeden Fall", sagt Christian Dürr, Fraktionschef der FDP im Bundestag.

In der Regierungszentrale eines Bundeslandes ist man da nicht so überzeugt: "Die Bundespolitik macht den gleichen Fehler wie vor genau einem Jahr."

Von der Lockerungsdebatte zum Osterruhe-Desaster

Damals, vor einem Jahr, stagnierten die Corona-Zahlen Ende Februar auf eher niedrigem Niveau. Im Januar waren sie sogar zurückgegangen. Man hatte gerade mit dem Impfen begonnen. Erste Erkenntnisse legten nahe, dass frisch Geimpfte das Virus nicht mehr weitertragen.

Prompt forderten die Ersten Lockerungen. Auch ein heutiger Bundeskanzler, der damals noch ein eher erfolgloser Wahlkämpfer war, beteiligte sich daran und wollte den Geimpften das Leben leichter machen. Andere warnten zur gleichen Zeit vor einer dritten Welle. Karl Lauterbach etwa, damals noch Corona-Erklärer der Nation und nicht Bundesgesundheitsminister der Ampel.

Die dritte Welle kam dann wirklich, die Rufe nach Lockerungen verklumpten mit Rufen nach Verschärfungen. Der Klumpen war am Ende so groß, dass die Bund-Länder-Runde Mitte März als einzigen Kompromiss in einer Nachtsitzung die "Osterruhe" zustande brachte. Sie endete in einem großen Chaos. Schlicht nicht umsetzbar, stellte die Politik am nächsten Morgen fest. Angela Merkel musste sich öffentlich entschuldigen.

Heute, knapp ein Jahr später, gibt es mehrere neue Varianten des Coronavirus und eine neue Variante der Bundeskanzlerin: Olaf Scholz. Die Oppositions-Liberalen, die immer schnell viel lockern wollten, sind zur Regierungs-FDP mutiert. Nur was bedeutet das für die neue Variante der Lockerungsdebatte?

Die Hüterin der Freiheit

Ein erneutes Chaos will niemand, auch nicht in der FDP. Andererseits will die Partei wieder als Hüterin der Freiheit wahrgenommen werden – und viele Liberale wittern gerade ihre Chance.

Während mancher beim Koalitionspartner noch den richtigen Kurs sucht, sind sie bei der FDP schon weiter. Der liberale Abgeordnete Daniel Föst sagt: "Unsere Nachbarländer lockern immer weiter, und wir drücken uns um eine Debatte über Lockerungen." Dabei sei das Leben vieler noch stark eingeschränkt. Föst findet, wir "könnten und sollten die Corona-Maßnahmen lockern".

Für ihren Kurs hat sich die FDP ein ziemlich genaues Konzept ausgedacht. Der Oberliberale Christian Lindner ist in dieser Woche vorgeprescht: Er will die 2G-Regel im Einzelhandel abschaffen, die in mehreren Bundesländern ohnehin schon gefallen ist. Auch Treffen von mehr als zehn Personen sollten künftig möglich sein, findet Fraktionschef Dürr.

In der Fraktion heißt es, dass vielen Bürgern die harten Maßnahmen nicht mehr einleuchten würden, wenn bei den meisten nur milde Verläufe zu erwarten seien. Es sei nicht vermittelbar, dass man im Auswärtigen Ausschuss mit mehr als 60 Abgeordneten über zwei Stunden zusammensitze – genau das aber den Bürgern verbiete. Eines gilt trotzdem als ausgemacht: Die Maskenpflicht in bestimmten Räumen soll als Letztes fallen.

Unterstützung bekommt die FDP aus diversen Bundesländern. Das führt zu einer bemerkenswerten Corona-Koalition: Die Liberalen sind wieder näher bei vielen Ministerpräsidenten ihres früheren Lieblingspartners Union. Markus Söder in Bayern will wieder mehr Zuschauer in den Stadien. In Schleswig-Holstein will Daniel Günther Veranstaltungen mit bis zu 4.000 Leuten drinnen und 10.000 draußen zulassen. Und auch Reiner Haseloff aus Sachsen-Anhalt will lockern.

Nur wie will die FDP auf Bundesebene ihre Koalitionspartner überzeugen? Bei den Liberalen heißt es dazu verstimmt: "Grüne und SPD schauen zu einseitig auf die Inzidenzen. Ein positiver PCR-Test ist nicht das Maß für Corona, sondern die vulnerablen Gruppen und die Überlastung des Gesundheitssystems."

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Besser nicht zu viel Risiko

Olaf Scholz jedenfalls würde gerade am liebsten gar nicht übers Öffnen sprechen. Darüber solle "entschieden und beraten" werden, wenn "wir den Höhepunkt der Infektionen hinter uns haben", sagte er am Mittwoch im ZDF. In einem der wenigen Interviews, die er gerade gibt. Die Regierung sorge dafür, "dass wir möglichst viele Leben und möglichst viel Gesundheit schützen".

Die Antwort des Olaf Scholz auf die Frage, wie viel Risiko wir eingehen wollen, lautet also: besser nicht zu viel.

Das mag auch damit zu tun haben, dass Scholz in den nächsten Wochen eine allgemeine Impfpflicht durchs Parlament bringen muss. Impfpflicht einführen und zugleich mitten in der bislang größten Welle lockern? Das ließe sich zwar womöglich in der Sache begründen. Als Signal wäre es trotzdem schwierig.

Hinzu kommt vermutlich eine leidvolle Erfahrung aus zwei Jahren Pandemie. Diese Sorge beschreiben zumindest andere Mächtige in der SPD hinter vorgehaltener Hand: Schon die Diskussionen über Lockerungen führten dazu, dass Menschen unvorsichtiger würden. Am Ende bliebe vor allem hängen: Das kann ja alles nicht mehr so schlimm sein.

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Nicht mal bei den Kriterien herrscht Einigkeit

Es ist eine Zwickmühle, aus der es kein wirkliches Entkommen für die Politik gibt. Denn ebenso gestehen eigentlich alle ein, dass Restaurants, Bars, Geschäfte und Veranstalter Zeit bräuchten, sich auf Lockerungen vorzubereiten. Damit sie so weit sind, wenn es wieder richtig losgeht.

Dafür bräuchten sie idealerweise konkrete Daten, einen bestimmten Tag oder eine Woche. Seriöserweise lassen sich aber nur Indikatoren angeben, so sehen es zumindest die Vorsichtigen. Perspektiven als Wenn-dann-Konstruktionen: Wenn Zahl X unter Wert Y liegt, dann darfst du deine Bar wieder vollmachen.

Doch nicht mal über die Kriterien herrscht Einigkeit. Der grüne Notfallmediziner Janosch Dahmen, derzeit einer der vorsichtigsten Pandemiepolitiker, brachte kürzlich drei Kennzahlen ins Spiel: Die Hospitalisierungsinzidenz müsse sinken. Es brauche in den Krankenhäusern auch auf den Normalstationen ausreichend freie Betten – und zudem genug gesundes Personal.

All das könnte in der Praxis zu einer hohen Hürde für Öffnungen werden.

Ein Papier wird den Rahmen setzen

Als wäre es nicht schon kompliziert genug, verlaufen die Konfliktlinien auch noch mitten durch die Parteien. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese etwa findet die Diskussion völlig angemessen. Die vergangene Bund-Länder-Runde habe "richtigerweise eine notwendige Öffnungsperspektive" in Aussicht gestellt, sagt er. Bund und Länder müssten "frühzeitig" und mit der Expertise des Corona-Expertenrats diskutieren, "welche Branchen und Bereiche zuerst" kämen.

Und er gibt den Ministerpräsidenten sogar noch einen Tipp mit: Die könnten in den Ländern nämlich schon "jetzt verantwortliche Schritte gehen", also selbstständig loslockern. Das Infektionsschutzgesetz sehe das vor.

Einen letzten Rest an Einheitlichkeit fänden dann aber doch die meisten Politiker in Bund und Land gut. Dirk Wiese, aber auch Bremens SPD-Bürgermeister Andreas Bovenschulte. Der würde zwar gerne über Öffnungen sprechen, nur eben gemeinsam. Spätestens in der übernächsten Woche wird es so weit sein. Am 16. Februar wollen Bund und Länder über die Corona-Politik diskutieren.

Wie locker sich Deutschland dann macht, wie viel Risiko wir eingehen wollen, darüber wird ein Papier mitentscheiden: Die sechste Stellungnahme des Corona-Expertenrats der Bundesregierung. Wann die 19 unabhängigen Forscher ihre Empfehlungen aufschreiben, ist zwar offiziell noch nicht klar. In Berlin wird aber damit gerechnet, dass es vor der Ministerpräsidentenkonferenz passiert. Und dass ihr Rat den entscheidenden Rahmen für alles Weitere setzt.

Auf irgendetwas wird man sich jedenfalls schnell einigen müssen. Denn wenn Bund und Länder gar nichts tun, laufen alle Einschränkungen am 19. März automatisch aus: Abstandsgebot, Kontaktbeschränkungen, 2G, 3G, Maskenpflicht. Alles. So legt es das Infektionsschutzgesetz fest.

Und das ist für die meisten wohl doch noch etwas zu viel Risiko.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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