"Habe keine Leute, es zu prüfen" Palmer vergibt ungeprüft Aufenthaltsgenehmigungen
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Boris Palmer nimmt das Gesetz in die eigene Hand. Bei Lanz kommt heraus: Tübingens Oberbürgermeister erteilt pauschal Aufenthaltsgenehmigungen. Auch eine straffällige Altenpflegerin darf bleiben.
"Wahrscheinlich wird mir ein Richter das wieder aus der Hand schlagen", vermutet Boris Palmer. Aber der umstrittene Tübinger Oberbürgermeister macht erst mal kurzen Prozess mit Migranten, die in seiner Stadt bleiben möchten. Alle, die einen Antrag gestellt haben, erhalten nun für das nächste Jahr pauschal ein Aufenthaltsrecht, kündigte er am Donnerstagabend bei "Markus Lanz" an. Der Grund für den radikalen Schritt: Personalmangel.
Die Gäste
- Boris Palmer, Tübinger Oberbürgermeister
- Ralf Stegner (SPD), Außenexperte
- Güner Balci, Integrationsbeauftragte Berlin-Neukölln
- Gerald Knaus, Migrationsforscher
"Wir können die ganzen Aufträge schlicht nicht mehr bearbeiten", begründete Palmer seine Entscheidung in der ZDF-Talkshow. Er warnte: Das System steht vor dem Zusammenbruch. Das liege neben dem Personalmangel auch an dem "unendlich komplizierten" Ausländerrecht. "Ich habe keine Leute, um es zu prüfen", rechtfertigte der Kommunalpolitiker seine Allgemeinverfügung. "Jetzt gucken wir mal, was passiert. Bis der nächste Richter kommt, gilt das erst mal in Tübingen, haben die Leute jedenfalls erst mal was in der Hand."
Lanz: Palmer schützt "Querdenker-Opfer"
Palmer geht auch an anderer Stelle eigene Wege, um Fachkräfte zu halten. Viele gut integrierte, berufstätige Menschen würden aus bürokratischen Gründen abgeschoben, kritisierte er. Kürzlich habe eine fertig ausgebildete Altenhelferin weinend in seinem Büro gesessen. Sie habe ihren Impfpass gefälscht, weil ihr von Impfgegnern eingeredet worden sei, dass sie davon unfruchtbar werden könnte. Die Frau wurde zu 90 Tagessätzen verurteilt und sollte deshalb auch nach dem Willen seines eigenen Ausländeramtes als Straftäterin abgeschoben werden.
"Die haben gesagt: Herr Oberbürgermeister, das geht nicht, die muss gehen – so sagt es das Gesetz", schilderte Palmer bei "Markus Lanz". "Wissen Sie, was ich gemacht habe? Ich habe die Unterschrift selber gesetzt, dass die Frau hier bleibt. Ich bin doch nicht verrückt und schiebe eine Altenpflegekraft ab, weil sie Querdenkern in die Fänge geraten ist." "Richtig", pflichtete ihm der SPD-Politiker Ralf Stegner bei. Er hatte kürzlich einen Tweet zum Schicksal von Pham Phi Son geteilt.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Deutschland schiebe die falschen Menschen ab, weil die leicht greifbar seien, kritisierte Stegner. Gewalttäter wie der Palästinenser, der in Brokstedt zwei junge Menschen erstochen haben soll, hingegen nicht. "Gewalt darf nicht geduldet werden", bekräftigte Stegner. Im Gegenzug müsse Integration aber honoriert werden, nicht zuletzt durch vernünftige Bezahlung. Lanz schlug vor: Was wäre, wenn Menschen, die in Deutschland leben möchten und Schutz suchen, generell einer Arbeit nachgehen müssen? "Wer von denen will denn nicht arbeiten?", erwiderte der Sozialdemokrat erst und hob später an "Bevor wir über Zwangsarbeit reden..." Da ereiferte sich Lanz: "Sie reden über Zwangsarbeit? Was ist denn das für ein Menschenbild?"
"Nicht jeder kommt als protestantischer Workaholic auf die Welt", gab Palmer zu bedenken. 2021 seien in Tübingen nur 25 Prozent der erwerbsfähigen Flüchtlinge einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen, 50 Prozent hätten nicht gearbeitet, zumindest nicht legal. "25 Prozent ist doch gut!", fand Stegner mit Blick etwa auf Syrer, die erst Deutsch lernen mussten. "Ich bin damit sehr unzufrieden", widersprach Palmer, der seine Parteizugehörigkeit bei den Grünen nach Querelen bis zum Jahresende ruhen lässt. ("Sie sind ja gar nicht mehr richtiger Grüner", meinte Lanz an einer Stelle. "Doch, doch", erwiderte Palmer.)
Lanz: Wann müssen Migranten arbeiten?
"Ich finde, sechs Jahre Müßiggang sind sicherlich keine gute Integrationsleistung", attestierte sich Palmer auch selbst. Wer das anspreche, werde aber sofort in die AfD-Ecke gestellt. "Dann kann es zu dem Punkt kommen, wo das Band überdehnt wird und die Hilfsbereitschaft bricht", warnte er angesichts überlasteter Kitas, demonstrierender Eltern und Turnhallen, die erneut zu Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert werden und zwar auf sehr lange Sicht. "Jahre in Turnhallen: Das ist jenseits der Belastungsgrenzen", mahnte Palmer.
Güner Balci, die Integrationsbeauftragte des Bezirks Berlin-Neukölln, bezweifelte stark, dass jeder Zweite der erwerbsfähigen Flüchtlinge in Tübingen keinerlei Arbeit nachgeht. "Die machen Schwarzarbeit, weil das die einzige Möglichkeit ist, Geld zu verdienen", vermutete sie. Deutschland habe auch durch den Abbau von Stellen im öffentlichen Dienst einen Niedriglohnsektor geschaffen, in dem Menschen mit "nur" einem Job nicht überleben könnten. "Das ist deutscher Alltag", stellte Balci klar. Das Bild vom "arbeitsunwilligen Syrer" widerstrebe ihr. Denn auch Menschen ohne Migrationshintergrund seien angesichts der herrschenden Bedingungen häufig nicht bereit zu arbeiten.
Balci betonte wiederholt, sie wolle die gewalttätigen Ausschreitungen während der Silvesternacht in Neukölln nicht kleinreden – auch, wenn es in den Bezirken Mitte und Wedding mehr Vorfälle gegeben habe. Kultur spiele bei dem Thema auf jeden Fall ebenfalls eine Rolle, beschwichtigte sie Lanz. Fest stehe aber zudem: "Das sind Kinder, die größtenteils bei uns aufgewachsen sind" – aber eben nicht als "kleine Paschas", sondern ohne ein Kinderzimmer als Rückzugsort und oft umgeben von Gewalt in der Familie. "Das ist eine Kindheit und Jugend im Treppenhaus und in der Tiefgarage", prangerte die Integrationsbeauftragte an. "Und der Polizeibeamte, der beschossen wird, muss das verstehen?", fragte Lanz.
Balci: Erdbeben könnte Wahlausgang in Berlin beeinflusst haben
Balci bot eine Erklärung für die Wahlniederlage der SPD in Berlin an. Viele Berliner mit Wurzeln in der Türkei und Syrien hätten nicht gewählt, weil sie derzeit angesichts der verheerenden Erdbeben in der Region gerade andere Sorgen hätten. "Ich kenne kaum jemanden, der nicht mittel- oder unmittelbar betroffen ist von dieser Katastrophe", schilderte Balci. Stegner mahnte hier schnelle, direkte Hilfe Deutschlands und der Europäischen Union an. "Auch aus Eigeninteresse", gab der SPD-Außenexperte zu bedenken. "Da zu helfen, dass sich das stabilisiert, hilft auch gegen Fluchtbewegungen."
Der Migrationsforscher Gerald Knaus regte angesichts der großen Zahl syrischer Flüchtlinge in der Türkei an, jenen einen Platz in Deutschland anzubieten, die sofort für einen Job qualifiziert werden können.
Es täte der Gesellschaft gut, wenn mehr Frauen kämen und nicht nur junge Männer, die den Treck über die Flüchtlingsroute überstehen könnten, ganz im Sinne von "Survival of the Fittest", warf Lanz ein. Allerdings hatte Evolutionsforscher Charles Darwin damit nicht zwangsläufig die körperlich stärksten, sondern vielmehr die am besten an ihre Umgebung angepassten, fast könnte man sagen: integrierten, Individuen hervorgehoben. "Wir drehen uns im Kreis", beendete Lanz die Debatte sichtlich ermattet.