Vor dem Sonderparteitag "Die SPD hat die Wahl zwischen Pest und Cholera"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Beim Sonderparteitag am Wochenende geht es für die SPD fast um alles: Sagen die Delegierten Ja oder Nein zu Schwarz-Rot? Für Parteienforscher Oskar Niedermayer ist der Ausgang völlig offen.
Ohne die SPD sei Deutschland "nicht regierbar", sagt Parteichef Martin Schulz, der für eine Neuauflage von Schwarz-Rot wirbt. Regieren ja, aber nicht mit der Union, sagen die Gegner der großen Koalition. Ein Riss geht durch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die am Sonntag vor einer richtungweisenden Entscheidung steht: noch einmal mit der CDU/CSU koalieren oder den Gang in die Opposition antreten? t-online.de sprach mit dem renommierten Parteienforscher Oskar Niedermayer, der mehr als zwanzig Jahre lang an der FU Berlin zu Parteien und Wahlverhalten forschte, über die schwierige Lage der SPD, über die möglichen Folgen eines Ja oder eines Nein beim Parteitag, und die Zukunft von Parteichef Martin Schulz.
Ergebnispapier der Sondierungen zwischen Union und SPD zum Download
Welche Auswirkungen hätte es, wenn die SPD auf dem Sonderparteitag für die große Koalition stimmt?
Oskar Niedermayer: Das dürfte die Chancen, dass auch die anschließende Mitgliederbefragung zur Neuauflage der großen Koalition positiv ausgeht, deutlich erhöhen. Sicher sein kann man sich da nie. Die Parteienforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten jedoch gezeigt, dass die mittlere Führungsebene in den Parteien, und dazu gehören die Parteitagsdelegierten, in der Regel ideologischer sind – im Fall der SPD also linker – als die Führungsebene und die einfachen Mitglieder.
Birgt eine Neuauflage der großen Koalition nicht Gefahren für die SPD?
Die große Befürchtung ist ja, dass die SPD weiter abrutscht unter einer neuerlichen Regierung Merkel. Dieses Argument steht aber auf tönernen Füßen. War es wirklich die Schuld von Merkel, dass die SPD bei der letzten Wahl abgestraft wurde? Oder lag es auch an der grottenschlechten Wahlkampagne der SPD?
Nun sagen einige Genossen, sie fühlten sich in der großen Koalition in ein Korsett gezwängt und kritisieren den Abstimmungszwang, wie er etwa im letzten Koalitionsvertrag vereinbart war.
Das Wesen der Demokratie ist der Kompromiss, viele linke SPDler scheinen das anders zu sehen. Demokratie bedeutet eben nicht, dass man die eigene Position immer ohne Abstriche durchsetzen kann. Wenn man einen Koalitionsvertrag verabschiedet hat, dann sollten sich die Parteien daran halten. Und dass man darüber hinaus in einer Regierung gemeinsam abstimmt, ist in einer parlamentarischen Regierungsform die Regel, nicht die Ausnahme.
Wie könnte die Zukunft von Martin Schulz aussehen – vorausgesetzt, seine Partei geht in die Koalition?
Ich bin gespannt, ob er ein Regierungsamt anstrebt. Denn er hat ja über Wochen nicht nur gesagt, dass die SPD nicht in die Regierung will. Er hat ja auch gesagt, dass er in keine Regierung Merkel eintreten würde. Wenn er das jetzt auch noch kippt, hat er ein weiteres Glaubwürdigkeitsproblem. Aber angenommen, er geht in eine Regierung, dann wäre der Posten des Außenministers und Vizekanzlers für ihn reserviert.
Aber in die aktuelle Lage ist die SPD doch durch das Scheitern der Jamaika-Sondierungen geraten.
Das stimmt. Aber es waren nicht nur die Jamaika-Sondierer. Auch Bundespräsident Steinmeier hat sehr auf eine Regierungsbildung gedrängt. Ja, es gab veränderte Rahmenbedingungen, aber auch direkt nach dem Jamaika-Aus hatte Schulz zunächst einmal Nein gesagt. Das hätte er nicht tun sollen. Insofern muss man ihm schon eine 180-Grad-Wende vorwerfen. Dass in der SPD nun versucht wird, alles auf die äußeren Umstände abzuwälzen, ist klar.
Wo würde sich das übrige SPD-Personal in einer Neuauflage von Schwarz-Rot wiederfinden?
Gabriel scheint in den Überlegungen keine große Rolle mehr zu spielen – es hängt natürlich davon ab, was Schulz macht. Andrea Nahles wird wohl auf ihrem Posten der Fraktionsvorsitzenden bleiben, unabhängig davon, ob eine große Koalition zustande kommt oder nicht. Und bei den anderen Spitzen der Partei dürfte es auch davon abhängen, was sie aktuell für Posten bekleiden. Ich glaube nicht, dass sich da allzu viel verändern wird.
Und wenn der Parteitag Nein sagt?
Dann wird es für die Parteispitze extrem schwierig. Noch einmal mit Martin Schulz anzutreten, verbietet sich eigentlich. Man muss nur auf seine Beliebtheitswerte schauen. Wer aber könnte an seiner Stelle antreten? Ich bin da noch unsicher, ob sich die Leute, die sich das vielleicht zutrauen – also Nahles, Schwesig oder Dreyer – sich tatsächlich für eine Kanzlerkandidatur stark machen würden.
Mehrere SPD-Landesverbände haben sich zuletzt gegen eine Neuauflage von Schwarz-Rot ausgesprochen. Wie groß ist der Widerstand innerhalb der Partei gegen dieses Bündnis?
Sachsen-Anhalt oder Thüringen haben kein großes Gewicht innerhalb der Partei, man muss nur auf ihre Delegiertenzahlen blicken. Es wird wesentlich davon abhängen, wie die starken Landesverbände NRW und Bayern abstimmen. Niedersachsen steht wohl geschlossen hinter Martin Schulz, Ministerpräsident Weil sagt das zumindest sehr deutlich. Bayern hat Landtagswahlen zu bestreiten, da ist das Abstimmungsverhalten fraglich. Und in NRW gibt es keine einheitliche Linie. Für mich ist offen, was da am Sonntag passiert, weil so ein Parteitag ja auch eine Eigendynamik entwickeln kann.
Wie ginge es nach einem Nein der SPD weiter?
Das Heft des Handelns liege dann wieder bei Steinmeier. Es gibt im Grundgesetz keine Deadline für so einen Fall, aber natürlich kann er das Ganze nicht noch Wochen oder Monate so schleifen lassen mit einer geschäftsführenden Regierung. Er wird in absehbarer Zeit Merkel dem Bundestag als Kanzlerin vorschlagen. Sollte sie dann in zwei Abstimmungen die absolute Mehrheit verfehlen und in einer dritten Abstimmung die einfache Mehrheit erhalten, hat er die Möglichkeit, Merkel als Chefin einer Minderheitsregierung zu ernennen oder gleich Neuwahlen auszuschreiben.
Könnte eine Minderheitsregierung denn funktionieren?
Ich denke, eine Minderheitsregierung würde Neuwahlen nur hinauszögern. Ich schätze Angela Merkel so ein, dass sie das nicht lange mit sich machen lassen wird. Nach ein paar Wochen wird sie die Vertrauensfrage mit der Absicht zu verlieren stellen, und dann muss es Neuwahlen geben.
Wie sieht es mit einer von SPD-Linken geforderten Kooperationskoalition aus, die sich auf bestimmte Kernprojekte einigt und diese gemeinsam trägt, es bei anderen Themen den Koalitionären jedoch freistellt, neue Mehrheiten zu suchen?
Das sind theoretische Spielereien, die in der Praxis nie funktionieren würden. Ich kann nicht gleichzeitig Regierung und Opposition sein. Der linke Flügel der SPD stellt es sich ja so vor: man vereinbart die Sachen, die einem passen, und versucht bei anderen, eine linke Mehrheit aufzustellen. Das würde bedeuten: eine Regierungspartei organisiert gemeinsam mit Oppositionsparteien eine Mehrheit gegen die Regierung. Merkel würde das niemals mitmachen.
Warum nicht?
Sie hat ja immer gesagt, und das zu Recht, dass man verlässliche Mehrheiten in der Regierung braucht, sowohl in der Innen- wie auch der Außenpolitik. Man stelle sich vor, dass vor jeder wichtigen außenpolitischen Entscheidung die Diskussion wieder neu eröffnet wird, ob man dafür oder dagegen ist. Das kann für ein so großes und international einflussreiches Land wie Deutschland nicht sinnvoll sein.
Würde sich die SPD mit einer solchen Konstellation einen Gefallen tun?
Nein. Denn die Leute würden sich ja fragen, ist sie nun Regierungspartei oder Oppositionspartei. Einmal will die SPD dies, einmal will sie jenes. Das kann nicht funktionieren.
Sehen Sie Personen in der SPD, die von einem Scheitern einer Regierungsbildung profitieren könnten?
Jeder, der sich Hoffnung auf die Kanzlerkandidatur macht. Die Frage aber ist, gibt es aktuell so jemanden, der zu einer Kandidatur in der Lage und Willens wäre. Olaf Scholz wurde so etwas immer nachgesagt. Beim letzten Parteitag aber hat er einen Schuss vor den Bug bekommen. Frau Nahles würde sich das vielleicht zutrauen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie mit ihrer für viele Leute gewöhnungsbedürftigen Art die optimale Kanzlerkandidatin wäre.
Und andere wie Dreyer und Schwesig?
… sind bundesweit wohl noch zu unbekannt. Man muss sich ja überlegen: Sie müssten vor Neuwahlen innerhalb weniger Wochen einem großen Publikum bekannt gemacht werden.
Gäbe es einen Königsweg für die SPD?
Den gibt es nicht mehr. Die Partei hat nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera. Aber ich denke, dass es für die Partei besser wäre, in die große Koalition zu gehen. Sie sollte dann auch aufhören, ständig über die Defizite und was sie noch nicht erreicht hat, zu reden und stattdessen stärker über das Erreichte und was das für ihre Klientel bedeutet.
Und was hieße ein Nein der SPD zu Schwarz-Rot für Merkel?
Das würde ihre Stellung in der Partei nicht gerade festigen. Sie ist ja nicht erst seit der Bundestagswahl angeschlagen. Ihre innerparteilichen Kritiker werden auch lauter werden. Dennoch ist es unsinnig, schon von einer Merkel-Dämmerung zu reden. Wo ist denn die Alternative? Ich sehe niemanden in der Partei, der bereit und in der Lage wäre, einen Putsch gegen Merkel anzuführen, denn sie selbst will ja wieder antreten bei Neuwahlen. Ihre Partei hätte dann auch die besseren Karten als die SPD, denn an ihr wäre die Regierungsbildung ja nicht gescheitert.