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Tagesanbruch – Asylstreit: So ein Drama, und dann so eine Verpuffung?


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 03.07.2018Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Merkel verkündet den Kompromiss im AsylstreitVergrößern des Bildes
Angela Merkel verkündet den Kompromiss im Asylstreit (Quelle: Kay Nietfeld/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Der erste Gedanke heute Morgen: Uffzke. Gerade noch mal gut gegangen. Haben diese Streithähne in Berlin und München sich also doch noch zusammengerauft. Seehofer bleibt Innenminister, Merkel bleibt Merkel, ab heute ist die politische Welt wieder normal.

Der zweite Gedanke: Nichts ist mehr normal. Was wir in den vergangenen Tagen erlebten, hat unsere Wahrnehmung von Politik und vor allem von denen, die sie machen, verändert. Machtkampf, Eitelkeit, Täuschung, Erpressung, Destruktion – mir fielen noch mehr Nomen ein, aber die genügen ja schon. Den Charakter von Menschen erkennt man an ihrer Sprache. "Ich lasse mich nicht von einer Kanzlerin entlassen, die nur wegen mir Kanzlerin ist": Das ist die Sprache des Bundesinnenministers im Jahr 2018. Welch eine Überheblichkeit, welch eine Selbstüberschätzung, welch eine Arroganz. Auf so einen Satz kann ein Demokrat nur eine Antwort geben: Nein, Herr Minister, die Kanzlerin ist Kanzlerin, weil die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sie ins Amt gewählt haben, und die wurden vom deutschen Volk gewählt.

Der dritte Gedanke: Die von CSU und CDU nun stolz präsentierte Lösung ist ein typischer Politiker-Kompromiss: Liest sich auf den ersten Blick so, als habe sich die CSU durchgesetzt; sie darf ja nun behaupten, bereits registrierte Asylsuchende würden an den deutschen Grenzen zurückgewiesen, irgendwie. Der Plan: Alle Asylbewerber sollen künftig in "Transitzentren" aufgenommen werden und ein Schnellverfahren bekommen. Scheitert ihr Antrag, werden sie – so wie beim Flughafenverfahren – abgeschoben. Auf den zweiten Blick aber scheint Merkel gewonnen zu haben, wieder mal. Die "Zurückweisungen" (ein schauriges Wort) erfolgen nur nach Abkommen mit den beteiligten EU-Staaten. Und wer entscheidet denn, für welche Asylbewerber andere EU-Länder zuständig sind, wenn das Dublin-Abkommen de facto nicht mehr funktioniert? Am Ende kann eine so weitreichende Frage wohl nur das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof klären. Das dauert. Auf den dritten Blick hängt nun alles von der SPD ab, die "Transitzentren" an den deutschen Grenzen schon vor drei Jahren abgelehnt hat und sich letzte Nacht sofort kritisch äußerte.

Der vierte Gedanke an diesem Morgen: Wegen so eines typischen Politiker-Kompromisses, der wie jeder Politiker-Kompromiss vielleicht funktioniert, vielleicht aber auch nicht, vielleicht auch nur teils, teils, haben CSU und CDU so einen Zinnober veranstaltet, die Bundesregierung in eine Krise getrieben, das ganze Land tagelang beben lassen? So ein Drama, und dann so eine Verpuffung? Das ist fadenscheinig, durchschaubar, absurd. "So fühlt man Absicht und man ist verstimmt", heißt es in Goethes "Torquato Tasso", und so dürften sich heute viele Bürger fühlen. Im besten Fall reagieren sie mit einem Kopfschütteln und haken die Sache ab. Im schlimmsten Fall fühlen sie die Narben noch jahrelang: Suchte jemand eine Anleitung, wie man Politikverdrossenheit fördert, in Horst Seehofer und Angela Merkel fände er zwei versierte Autoren.

Der fünfte Gedanke: Dieser ganze Asylstreit, dieses ganze theatralische Ringen hat vollkommen den Blick für die tieferen Probleme der Immigration nach Europa verstellt. Die Kriege in Nahost, Klimawandel, Dürren, Vetternwirtschaft, ungebremstes Bevölkerungswachstum, Konflikte in Afrika. Die Unfähigkeit der Europäer, Antworten darauf zu geben. Die Ignoranz, mit der wir die Missstände und damit auch die Flucht von Tausenden Menschen weiter antreiben. Waffenexporte. Subventionierte Agrarexporte. Überfischung. Deals mit Diktatoren und Menschenschindern. Zu wenig Geld und zu wenig Aufmerksamkeit für Entwicklungszusammenarbeit. Und das ist nur ein Ausschnitt. Aber er genügt wohl, um leise zu urteilen: Wenn diese Bundesregierung so weitermacht, muss sie sich nicht wundern, wenn sie bald das nächste Migrationsdrama erlebt.

Der sechste und vorläufig letzte Gedanke (weitere kommen bestimmt): Trotz der herben Kritik gebührt den Akteuren in diesem Konflikt Respekt. Politik zu machen zählt zu den härtesten Berufen, die es in diesem Land gibt. Schimpfen kann jeder. Immer wieder aufstehen und kämpfen kann nicht jeder. Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, was der tagelange Konflikt mit Merkel und Seehofer gemacht hat, der Druck, die Anspannung, der Schlafmangel, der muss sich nur zwei Schnappschüsse der Deutschen Presse-Agentur ansehen:

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WAS STEHT AN?

Ja, natürlich dreht sich das politische Berlin auch heute noch mal um Asyl, Migration, Flucht. Die Parteien werden um die Deutungshoheit ringen: Was ist der Kompromiss von CDU und CSU wirklich wert, lässt er sich überhaupt umsetzen, was sagen die EU-Partnerländer dazu? Die interessanteste Rolle kommt heute aber nicht der CSU oder der CDU zu, sondern der SPD: Trägt sie die Einigung mit? Hält sie dafür an anderer Stelle die Hand auf? Am Vormittag tagen die Bundestagsfraktionen, am Abend der Koalitionsausschuss; und natürlich werden wir im Regierungsviertel unterwegs sein, um für Sie zu berichten.

"Die Herausforderungen weltweiter Migration erfordern ein System der Ordnung." So lautet der erste Satz in Horst Seehofers "Masterplan", und da mag wohl niemand widersprechen. Nachdem der CSU-Chef nicht nur viele Parteifreunde und -feinde, sondern auch die Öffentlichkeit tagelang hat rätseln lassen, was denn nun in seinem geheimnisumwitterten Manifest steht, kann sich nun endlich jeder selbst ein Bild davon machen. Zwar sind mehrere Versionen des Plans im Umlauf, aber sie unterscheiden sich nur in Nuancen. Das gemeinnützige Projekt "Frag den Staat" hat dank des Informationsfreiheitsgesetzes eine Version erhalten. Dieses Gesetz, das im Jahr 2005 von der rot-grünen Bundesregierung beschlossen wurde, mag vielen Menschen unbekannt sein. Dabei zählt es zu den wichtigsten Errungenschaften, um das Handeln von Regierungen und Behörden in unserem Land aufzudecken. Für uns Journalisten. Aber auch für jeden Bürger.

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Wer die 63 Punkte von Seehofers Plan liest, findet dort neben vielen Worthülsen auch viele gute Ideen. Mehr Geld für Schulen und Jobprogramme in den Herkunftsländern der Flüchtlinge, mehr Beratung für rückkehrwillige Migranten, mehr internationale Kooperation zwischen Polizeibehörden. Eher vage klingen die Vorschläge zur Stabilisierung der Transitländer in Nordafrika und Nahost, resolut dagegen der Aufbau der sogenannten Ankerzentren und der Ausbau von Frontex zu einer "Europäischen Grenzpolizei".

Der Knackpunkt steht auf Seite 12 im Kapitel "Binnengrenzen/Schengen": Unter Punkt 27 heißt es dort in Absatz drei: "Künftig ist auch die Zurückweisung von Schutzsuchenden beabsichtigt, wenn diese in einem anderen EU-Mitgliedstaat bereits einen Asylantrag gestellt haben oder dort als Asylsuchende registriert sind." 26 Worte in einem Konzept, das 4.773 Wörter umfasst. 26 Worte, die CSU und CDU zum Anlass genommen haben, die Bundesregierung tagelang in eine tiefe Krise zu stürzen.

Man mag das auch nach Abschwellen der Krise immer noch kaum glauben. So verwundert es nicht, dass trotz all der Berichte, Analysen und Live-Schalten viele Bürger immer noch ratlos auf das Unions-Drama blicken. Das zeigte sich auch an den vielen Fragen und Kommentaren in unserer gestrigen Leserdebatte.

Wir möchten diese Fragen deshalb ausführlicher diskutieren. Was wollen Sie, liebe Leserinnen und Leser des Tagesanbruchs, zum Streit zwischen CDU und CSU wissen? Schicken Sie mir bitte Ihre Frage per E-Mail (Adresse unten) – eine Auswahl werde ich in einer Videoanalyse auf t-online.de beantworten (oder es zumindest versuchen).

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Man hält es kaum für möglich, aber es gibt in unserem Land auch noch andere Themen als die Migration. Vielleicht sind sie sogar noch wichtiger. Zum Beispiel dieses: In Deutschland fehlen 35.000 Pfleger in Krankenhäusern und Seniorenheimen, vielerorts leiden Betroffene deshalb unter entwürdigenden Zuständen. Familienministerin Giffey (SPD), Arbeitsminister Heil (dito) und Gesundheitsminister Spahn (CDU) wollen nun etwas dagegen tun. Heute Nachmittag stellen sie die "Konzertierte Aktion Pflege" vor. Was es damit auf sich hat, erfahren Sie hier.

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Tag sechs nach dem Aus der deutschen Nationalelf bei der Fußball-WM. Die Aufarbeitung der Fehler vor und während des Turniers läuft auf Hochtouren – und die Frage wird immer größer: Wie und mit wem soll es weitergehen? Da kann es helfen, in die Vergangenheit zu schauen. Vor vier Jahren scheiterte auch Spanien als Weltmeister in der Gruppenphase. Wie die Iberer die Blamage überwanden, hat sich unser WM-Reporter Benjamin Zurmühl in Moskau von dem spanischen Guardiola-Biografen Guillem Balagué erklären lassen. Seine These: Das deutsche Team musste in Russland "sterben", damit es nun bereit für eine Auferstehung ist. Wie meint er das? So meint er das.

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WAS LESEN?

Der erste Lesetipp kommt auch heute von einem Gast: Veit Medick ist Reporter im Hauptstadtbüro des "Spiegel". Er schreibt: "In all dem Regierungschaos merken wir gar nicht mehr, wie weit sich der Diskurs in der Flüchtlingspolitik verschoben hat. Der CSU mögen die Beschlüsse des EU-Gipfels nicht weit genug gehen, tatsächlich stellen sie einen erstaunlichen Rechtsruck dar, der kaum noch zu Merkels Kurs im Jahr 2015 passt. Eine Idee: Die EU will Sammellager in Afrika und Europa aufbauen, um die Situation besser kontrollieren zu können. Welch menschenrechtlicher Wahnsinn das wäre, beschrieb die Kollegin Kordula Doerfler in der "Frankfurter Rundschau". Sie reiste in ein solches Lager auf der Insel Lesbos: "Wo die Hoffnung stirbt."

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Ich habe auch noch einen Lesetipp für Sie: Ob Professor Sheldon Solomon ein liebenswerter, fröhlicher Zeitgenosse ist? Menschen sind "atmende, darmentleerende, sich ihrer selbst bewusste Fleischstücke, die jederzeit sterben können", sagt er – damit kann man jede Party schnurstracks beenden. Wie er und seine Kollegen herausgefunden haben, können schon die subtilsten Hinweise auf unsere Sterblichkeit unser Verhalten beeinflussen: zum Beispiel, wenn für 43 Millisekunden das Wort "Tod" auf dem Bildschirm aufblitzt, oder wenn während eines Gespräches irgendwo im Hintergrund ein Bestattungsinstitut im Blickfeld liegt.

Diese Veränderung ist leider nicht von ewiger Weisheit geprägt. Im Bewusstsein des Todes bevorzugen wir diejenigen, die uns ähnlich sind: in ihrem Aussehen, ihren politischen Ansichten oder ihrer Herkunft. Und treten allen anderen gegenüber aggressiver auf. Wir werden empfänglicher für großspurige Populisten, die Angst vor Außenseitern schüren. Wir rauchen eher und scheren uns nicht mehr so sehr um die Umwelt.

Doch wenn man Menschen auffordert, nicht nur abstrakt an das Ende zu denken, sondern sich ihr Sterben ganz konkret vorzustellen – die Trauer ihrer Familie eingeschlossen – dann geschieht ein kleines Wunder: Sie werden nachdenklich. Und altruistisch. Nur aus dem Augenwinkel erscheint des Menschen größtes Monster so grauenvoll. Auge in Auge öffnet es das Herz. Vielleicht ist Professor Solomon ja doch ein fröhlicher Zeitgenosse. Zum Artikel (engl.)

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WAS AMÜSIERT MICH?

Wenn Sie regelmäßig WM-Spiele im ZDF anschauen, wissen Sie, dass Holger Stanislawski ein kompetenter Taktikanalyst ist. Mit vier, fünf Sätzen kann er die Stärken und Schwächen einer Mannschaft oder eines einzelnen Spielers sezieren, richtig liegt er damit eigentlich immer. Deshalb dehnt er seinen Radius nun über den Fußballplatz aus. Aber sehen Sie selbst:

Ich wünsche Ihnen einen ausgeglichenen Tag.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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