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Tagesanbruch: Klimaschutz muss wehtun


Was heute wichtig ist
Ein jeder trage seinen Teil

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 19.09.2019Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Greenpeace-Protest gegen CO2-Ausstoß vor der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt.Vergrößern des Bildes
Greenpeace-Protest gegen CO2-Ausstoß vor der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Ist der Iran wirklich für den Angriff auf die saudischen Ölanlagen verantwortlich? Und falls ja: Was wäre sein Motiv? Um die Frage zu beantworten, müssen wir uns von einer bequemen Vereinfachung verabschieden: davon, dass wir von "dem Iran" und seinen Regierenden sprechen, als seien sie ein homogenes Gebilde. Sind sie nicht. Aber die Meister der Hinterzimmerpolitik, die sind im Iran sehr wohl zu Hause.

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Denn dort wird ein erbitterter Kampf ausgefochten. Auf der einen Seite: die Tauben. Das sind die Leute, die ein Ende der Wirtschaftssanktionen und eine Öffnung zum Westen wichtiger finden als Atomwaffen und die Vormachtstellung im Nahen Osten. Auf der anderen Seite: die Falken. Das sind die Leute aus dem militärisch-industriellen Komplex, einem Staat im Staate. In dessen Zentrum residieren die Revolutionsgarden, eine Parallelarmee, die längst mächtiger ist als das reguläre Militär. Sie haben den Bodenkrieg für Syriens Diktator Assad ebenso organisiert wie den Siegeszug schiitischer Milizen im Irak, ohne den der "Islamische Staat" dort immer noch sein Unwesen treiben würde. Im Libanon wiederum arbeiten sie mit der Hisbollah zusammen. Auch die ist ein Staat im Staate, eine Armee, die den verbündeten Revolutionsgarden als permanente Drohung gegen Israel dient.

Aber kommen wir zum Geschäft. Im Iran kontrollieren die Revolutionsgarden und religiöse Stiftungen, die den Falken nahestehen, große Teile der Wirtschaft. Die Abschottung vom Weltmarkt hat diesen geschützten Monopolen weit weniger geschadet als der iranischen Gesellschaft insgesamt. Aber auch im Öl- und Gasgeschäft sind die Garden engagiert – und da schmerzen sie die US-Sanktionen sehr. Ihre Einnahmen brechen ein, was ungünstig ist, wenn man einen Staat im Staate finanzieren muss. Deshalb ließen sie in den vergangenen Monaten ihre Muskeln spielen, mit Anschlägen auf Öltanker, mit dem Kapern von Schiffen unter westlicher Flagge. Die Botschaft: Wenn ihr uns weh tut, dann wehren wir uns! Und einen Flächenbrand vom Golf bis nach Israel entzünden, das können wir auch! Der Angriff auf die saudischen Ölförderanlagen passt in dieses Muster: eine Attacke, deren Urheberschaft man wortreich bestreiten kann, während man zugleich weiß, dass die Botschaft verstanden wird.

Die Risikobereitschaft der iranischen Falken wird aber auch dadurch gefördert, dass die Gegenseite heftig hin und her flattert. Da ist zum einen US-Außenminister Pompeo, der keinerlei! Nachsicht! Mit! Iran! Hat! Da ist aber auch das Vakuum, das der Abgang des Noch!! Viel!!! Härteren!!!! John Bolton hinterlassen hat. Und da ist Herr Trump, der zwar gestern Robert O'Brien zum neuen Sicherheitsberater gekürt hat – einen Mann, der als gewiefter Verhandler gilt, aber Außenpolitik mit dem Ellenbogen ebenfalls für eine gute Idee hält.

Vor allem aber schlingert Herr Trump. Ein Waffengang mit dem Iran, der zum Krieg in der gesamten Region eskalieren könnte? Das ist das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann. Mit Bildern von Soldatensärgen, die aus dem Nahen Osten zurückkommen, schafft er die Wiederwahl im nächsten Jahr bestimmt nicht. Schwach will er aber auch nicht erscheinen, deshalb hat er gestern fix verschärfte Sanktionen gegen Teheran herausgetwittert. Herr Pompeo eilt derweil nach Saudi-Arabien auf der Suche nach einem Plan.

Einfach wird die nicht. Ob neue Sanktionen, ob militärische Aktion: Jeder Schlag treibt die Tauben im Iran weiter in ihre Häuschen. Die Falken allerdings, die fliegen höher und weiter. Selbst über den Ölfeldern Saudi-Arabiens hat man sie schon gesehen.


WAS STEHT AN?

Reden soll ja helfen. Wenn sich heute Abend Angela Merkel, Olaf Scholz, Annegret Kramp-Karrenbauer und Thorsten Schäfer-Gümbel im Koalitionsausschuss treffen, haben sie eine ganze Menge zu besprechen. Einen Tag vor dem wichtigsten politischen Tag des Jahres stehen in den Akten noch jede Menge Fragezeichen. Am Freitag will die Bundeskanzlerin mit ihrem Klimakabinett beschließen, was Deutschland gegen die globale Krise zu tun gedenkt. Zeitgleich werden im ganzen Land Zigtausende für einen entschlossenen Klimaschutz demonstrieren. Kein anderes Thema mobilisiert derzeit so viele Menschen.

Die Regierungsparteien sind von dieser Entwicklung überrascht worden. Sie haben die gesellschaftliche Dynamik unterschätzt, weil sie vielerorts den Draht zu den Bürgern verloren haben, und bei der Europawahl im Mai gab’s die Quittung dafür. Seither haben sie hektisch umgesteuert. In Bayern setzt sich Markus Söder an die Spitze der Bewegung und versucht, die Grünen beim Grünsein zu überholen. CDU und SPD dagegen hören zwar die Uhr fünf vor Zwölf schlagen, scheuen aber harte Entscheidungen: ein Tempolimit auf Autobahnen, eine Neubewertung des Atomausstiegs, ein sofortiges Ende der Kohleförderung, eine Abgabe auf Rindfleisch, der Umbau der Agrarindustrie oder sehr viel höhere Steuern auf Flugreisen, SUVs und andere Spritfresser finden sich auf der Liste der bisher bekannten Regierungsideen nicht. Dafür ist die Angst der Schwarzen und der Roten vor den Gelben zu groß: Union und SPD fürchten einen ähnlichen Aufruhr wie die Gelbwestenproteste in Frankreich, sollten sie den Bundesbürgern harte Einschnitte für den Klimaschutz zumuten. Statt Ansagen zu machen, wollen sie vor allem Anreize setzen und dafür viele Milliarden Euro in allerlei Projekte stecken: E-Autos, E-Tankstellen, E-Heizungen, E-Undsoweiter.

Fragt man Wissenschaftler, was sie von diesen Plänen halten, verweisen sie erst einmal darauf, dass die finalen Pläne ja noch gar nicht bekannt sind, womit sie natürlich Recht haben. Ist ja noch nicht Freitag. Bohrt man trotzdem nach, weil ja doch schon eine ganze Menge durchgesickert ist, erklären sie noch mal, was sie schon seit Jahren erklären: Steuert die Menschheit beim CO2-Ausstoß nicht sofort radikal um, kippt das Klima unseres Planeten, und zwar irreversibel. Wir haben nicht einmal mehr zehn Jahre Zeit für die Kehrtwende. Hakt man dann noch mal nach, weil man ja immer noch keine Antwort auf die Ausgangsfrage bekommen hat, holen die Wissenschaftler tief Luft und sagen: “Nein, das wird voraussichtlich nicht reichen.“

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Die Bundesregierung hätte einen anderen Weg gehen können. Statt sich bei vielen Förderprojekten mit fraglichem Nutzen zu verzetteln, hätte sie eine nationale Debatte initiieren können: Wie weit sind wir Deutschen bereit zu gehen, um das Klima wirklich effektiv zu schützen? Welche Einschränkungen würde die Mehrheit der Bürger in Kauf nehmen – und welche auf keinen Fall? Die Antworten auf diese Fragen sind so groß, dass sie auch in einer repräsentativen Demokratie nicht allein von Parteien, Ministern, einer Kanzlerin oder gar Umfrageinstituten beantwortet werden können.

Aber ist so eine Debatte nicht irre aufwendig, wie soll das denn bitte schön gehen mit 82 Millionen Menschen? Es geht. Und die Iren haben uns gezeigt, wie es geht. Auch Irland stand vor einiger Zeit vor großen Fragen: Soll das Wahlrecht umgebaut, gar eine der beiden Parlamentskammern abgeschafft werden? Soll die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt werden? Im katholischen Irland spalteten diese Fragen das Land zutiefst. Viele Menschen empfanden das politische System als ungerecht und misstrauten den Eliten. Und was tat die Regierung? Sie initiierte eine Versammlung aus 100 Bürgern, die man repräsentativ, aber zufällig im ganzen Land auswählte: Frauen und Männer, Alte und Junge, Stadt- und Landbevölkerung, Gut- und Geringverdienende. Sie bekamen den Auftrag, die großen Fragen stellvertretend für das gesamte Volk zu diskutieren, und durften sich dabei Rat von Fachleuten holen. Ihre Entscheidungen reichten sie als Empfehlung ans Parlament. Das mag unverbindlich klingen, hatte aber einen enormen Effekt: Erstens erhielten die Politiker neue Impulse. Zweitens wurde die demokratische Kultur wiederbelebt. Und drittens fiel es leichter, einen gesellschaftlichen Konsens über die Streitthemen herzustellen. (Mehr dazu in diesem lesenswerten Text).

Warum nehmen wir uns nicht ein Vorbild an den Iren? Klar, Deutschland hat viel mehr Einwohner. Aber das müsste in Zeiten digitaler Hilfsmittel kein Hinderungsgrund sein. Die politischen Parteien sind so geschwächt, dass sie vielerorts nicht mehr als Transmissionsriemen zwischen Bevölkerung und Regierung dienen. Alle paar Jahre Kreuzchen zu machen reicht auch nicht. Statt eines Klimakabinetts braucht es eine Klima-Bürgerversammlung. Herausforderungen wie der Klimaschutz und die Energieversorgung sind so groß, dass sie sich nur durch einen nationalen Konsens lösen lassen. Niemand will eine Stromtrasse oder ein Windrad in seinem Vorgarten stehen haben. Niemand findet ein AKW oder ein Endlager für Atommüll im Nachbarort toll. Viele wollen auch keinen schmutzigen Kohleabbau und eine Abhängigkeit von russischem Erdgas bitte auch nicht. Alles irgendwie verständlich. Aber wenn keiner zum Nachgeben bereit ist und die Regierung sich nicht traut, das zu ändern, dann passiert eben auch nichts. Oder es passiert nicht schnell genug.

Um das Klima zu retten, braucht es Länder, die so wohlhabend, demokratisch legitimiert und weithin respektiert sind, dass sie vorangehen und andere Staaten mitziehen können. Deutschland könnte dieses Land sein. Weil wir es uns, anders als die meisten Staaten Afrikas und Asiens, leisten können. Weil wir, anders als die USA oder Großbritannien, eine berechenbare und international geachtete Regierung haben. Weil wir, anders als China, ein Land sind, in dem nicht nur die Parteibonzen, sondern die Bürger entscheiden können. Weil wir wissen, dass die Zukunft unserer Kinder und Enkel es erfordert.

Dafür müsste jeder Bürger Nachteile in Kauf nehmen. Das fällt sehr viel leichter, wenn nicht nur wenige, sondern jeder in einem gewissen Maß betroffen ist. Leider scheint diese Bereitschaft zum Kompromiss verloren gegangen zu sein. Das könnte auch daran liegen, dass die Regierung sie zu wenig fördert. Aber reden soll ja helfen.


DIE GUTE NACHRICHT

Ach, diese Kleingeister! Große Visionen bleiben im bürokratischen Kleinklein stecken, das beherzte “Packen wir’s an!“ schrumpft erst zum “Man müsste mal“ und dann zum “Geht nicht, weil xyz…“ – wobei wir xyz wahlweise durch “zu teuer“, “zu riskant“ oder “keiner weiß, wie’s geht“ ersetzen dürfen. Vor 500 Jahren war das anders. Da stach ein Mann mit seiner Crew in See, der weder Tod noch Teufel fürchtete und Probleme nicht als Hürden, sondern als Herausforderungen begriff. Er wusste an diesem 20. September 1519 nicht, was ihn draußen auf den Weltmeeren erwarten würde, und am Ende bezahlte er seinen Entdeckergeist mit dem Leben. Das muss man nicht unbedingt nachmachen, aber vom Mut und der Entschlossenheit Ferdinand Magellans dürfen sich heutige Zeitgenossen durchaus ein Scheibchen abschneiden. Was damals die Weltumsegelung war, könnte heute ja der erste klimaneutrale Industriestaat sein, oder? Das wäre doch mal eine gute Nachricht.


WAS LESEN?

Deutschlands Schuld an der Klimakrise ist doch vergleichsweise gering, wie wirksam sind Klimaschutzmaßnahmen hierzulande überhaupt? Verteuert die Energiewende den Strom? Geht die deutsche Autowirtschaft kaputt? Fragen wie diese beschäftigen viele Bürger. Die Antworten sind komplex. Deshalb hat die Friedrich-Ebert-Stiftung anschauliche Erklärgrafiken produziert.


WAS AMÜSIERT MICH?

Wie war das noch mal, warum müssen manche Leute unbedingt SUV fahren?


Ich wünsche Ihnen einen erkenntnisreichen Tag. Morgen und am Samstag schreibt Peter Schink den Tagesanbruch. Mich lesen Sie am Montag wieder. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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