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EU-Chefin Ursula von der Leyen: Bei Verteidigung der Demokratie komplett versagt


Was heute wichtig ist
Im Schatten der Corona-Krise: So schwindet die Demokratie

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 01.04.2020Lesedauer: 6 Min.
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Watte statt Werte: Ursula von der Leyen findet keinen klaren Kurs zur Verteidigung europäischer Prinzipien.Vergrößern des Bildes
Watte statt Werte: Ursula von der Leyen findet keinen klaren Kurs zur Verteidigung europäischer Prinzipien. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

dies ist der letzte Tagesanbruch für sehr lange Zeit. Es war wunderbar mit Ihnen, aber jeder Mensch braucht mal eine Pause. Ich von den durchwachten Nächten und Sie von meinen Monologen. Ich sage also hier und heute adieu.

Moment, kann ich das wirklich sagen? Schnell mal in den Kalender gucken: oh! Hehe. Ganz so schnell werden Sie mich wohl doch nicht los. Also dann, hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Was hatte sie sich alles vorgenommen: Die eingeschlummerte EU aufrütteln wollte sie. Die demokratischen Werte wiederbeleben wollte sie. Einem selbstbewussten, weltweit für seine Interessen eintretenden Staatenbund vorstehen wollte sie. Was hatte Ursula von der Leyen nicht alles versprochen, als sie heute vor vier Monaten ihr Amt als Präsidentin der Europäischen Kommission antrat! Rückenwind hatte sie, aus der Politik, aber auch aus den Medien. "Ursula von der Leyen ist zweifellos besser für den Job geeignet, als uns viele Schwarzmaler weismachen wollen", schrieb ich selbst vor einem Dreivierteljahr im Tagesanbruch; "ein Signal des Aufbruchs und der Hoffnung" nannte ich ihre Nominierung.

Ich gestehe: Heute fühlen sich diese Worte schal an. Ich bin enttäuscht. Maßlos. Und ich denke, dass ich nicht der Einzige bin. Nachdem sich ihr Vorgänger Jean Claude Juncker mit den osteuropäischen Mitgliedsstaaten heillos überworfen hatte, wollte Frau von der Leyen einen neuen Kurs einschlagen: Verständnis für die spezifischen Befindlichkeiten zeigen, Geduld mit den selbstherrlichen Regierungschefs aufbringen, Entgegenkommen signalisieren, um in Gesprächen Kompromisse zu erzielen. Den harten Knüppel des EU-Rechts – Vertragsverletzungsverfahren, Sanktionen, Geldentzug – packte die neue Chefin in meterdicke Watte-Rollen. Das muss nicht falsch sein – aber es ist auch riskant. Dann nämlich, wenn sich unter der Watte gar kein Knüppel verbirgt. Sondern nur heiße Luft.

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Aus wie viel heißer Luft Ursula von der Leyens EU-Strategie besteht, hat sie am gestrigen Dienstag, dem 31. März 2020, offenbart. Ein Datum, das wir uns merken sollten. Das später in den Geschichtsbüchern stehen wird als ein Tag der Schande. Ein Tag, der Europas Idealen, der Autorität der EU und ihrer Anziehungskraft schweren Schaden zugefügt hat.

Die Kaltblütigkeit, mit der Ungarns Regierungschef (oder sollte ich besser sagen Alleinherrscher?) Viktor Orban die Corona-Krise ausnutzt, um die parlamentarische Demokratie in seinem EU-Land auszuhebeln, ist beispiellos. Unter dem Vorwand, das Virus so besser bekämpfen zu können, hat er sich von seiner Parlamentsmehrheit per Notstandsgesetz Befugnisse ausstellen lassen, die man sonst nur aus Diktaturen wie Assads Syrien oder Lukaschenkos Weißrussland kennt. Er kann ab sofort unkontrolliert und unbegrenzt per Verordnung durchregieren. Das Parlament tagt in der Zeit des Notstands nicht. Auf Wahlen und Referenden wird verzichtet. Der Rechtsstaat ist in Ungarn beerdigt worden.

Eine derart eklatante Verletzung der demokratischen Spielregeln in der EU darf eine Instanz, die sich als "Hüterin der Europäischen Verträge" versteht, niemals tolerieren. Die EU-Kommission müsste schnell und hart reagieren. Sie müsste den Knüppel aus dem Sack holen und auf den Tisch hauen. Sie müsste klarstellen: Eine Regierung, die so handelt, bricht mit den Regeln der Union, sie verlässt deren Konsens, sie darf deshalb auch keinen Tag länger von den Vorteilen der EU profitieren, keine EU-Milliarden mehr beanspruchen. Doch Ursula von der Leyen schwang nicht den Knüppel, sie warf nur ein paar Wattebällchen nach Budapest: In zwei nichtssagenden Tweets schwurbelte sie irgendetwas von "fundamentalen Prinzipien und Werten", und "genauer Beobachtung der Notfallmaßnahmen" durch die EU-Kommission. Noch nicht einmal das Wort Ungarn traute sie sich hinzuschreiben, geschweige denn den Namen Orban. "Ursula von der Leyen hat die Demokratie in Europa möglicherweise unwiederbringlich beschädigt", schreibt mein Kollege Jonas Mueller-Töwe in seinem Kommentar. "Sie ist eine Fehlbesetzung an der Spitze Europas."

Ein hartes Urteil, ein Knüppel ohne Watteschutz. Aber wer in einem so wichtigen Amt so haarsträubende Fehler macht, der hat keinen Schutz verdient.


WAS STEHT AN?

Österreich hat sie schon, Jena auch: Die Schutzmaske sorgt wieder für Diskussionsstoff, und es ist nicht das erste Mal. Schon als die Coronakrise vor einigen Wochen hierzulande auf den Radarschirm kam, hat sie die Gemüter bewegt: Bringt nix, war der Tenor damals, jedenfalls nicht für das gemeine Volk. Ein Zeichen irrationaler Panik. Lasst lieber stecken. Wer sowas trägt, der hamstert auch.

Diese Ablehnung ist noch nie ganz koscher gewesen, aus zweierlei Gründen: Erstens sieht sie ein bisschen zu lässig über die offenkundig gegenteilige Einschätzung hinweg, zu der ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung gekommen ist. Der Asiate an sich neigt zum Maskentragen – eine amüsante Schrulle, könnte man behaupten, anschließend über kulturelle Prägung diskutieren, über Höflichkeit und Respekt, die im Maskentragen zum Ausdruck kommen – und dabei geflissentlich ignorieren, dass in Hongkong die Regale mit den Masken nicht deshalb panisch leergeräumt wurden, weil die Leute ihren Höflichkeitsdrang kaum noch unter Kontrolle hatten. Ausgerechnet in der Weltregion, die dem neuen Virus als erste ausgesetzt war und schon mit den Vorgänger-Epidemien Sars und Mers hautnahe Erfahrungen hatte machen müssen, stürzten sich die Menschen mit dem Segen ihrer Gesundheitsbehörden auf jede Maske, die zu haben war. Das gibt zu denken.

Zum anderen lässt die wissenschaftliche Position zur Maske eine entschiedene Haltung pro oder kontra nicht zu. Denn die Fachwelt ist sich nicht einig. Die einen, deren Stimmen jetzt gerade wieder leiser werden, halten den Einsatz von Masken außerhalb des Medizinbereichs für Unsinn. Auch der geschätzte Professor Drosten zitierte gestern in seinem Podcast eine entsprechende Studie. Anhänger dieser Schule sind allenfalls bereit, der Gaze vorm Gesicht einen begrenzten Wert zum Schutz anderer zuzugestehen, während sie dem Träger selbst nichts nützt. Großer Aufwand, wenig Nutzen – und angesichts der weltweiten Knappheit an geeignetem Material allenfalls dazu angetan, den Mangel an Schutzausrüstung in den Krankenhäusern zu verschlimmern. Nur beim direkten Umgang mit den Kranken hätte der Gesichtsschutz seinen Platz. Das findet auch die Weltgesundheitsorganisation, in seltener Distanz zur Auffassung der normalerweise von ihr hofierten Chinesen.

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Die Fachleute aus dem konkurrierenden Lager halten den Nutzen dagegen für offensichtlich. Ein Tuch vorm Mund lässt weniger durch als kein Tuch vorm Mund – so weit, so logisch. Zwar mangelt es an einem wissenschaftlichen Beleg für Wirkung und Nutzen, außerhalb der Krankenhausumgebung jedenfalls. Aber nur, weil entsprechende Studien schlicht fehlen. Auf keinen Fall sollte man deshalb auf Vorsorge verzichten. Also her mit der Vermummung! Oder…?

Spätestens an diesem Punkt der Diskussion stellt sich heraus, dass etwas dran ist an der kulturellen Prägung, derentwegen es in China anders zugeht als zum Beispiel in München am Chinesischen Turm. Dazu braucht man in Deutschland nur mal seine Maske spazieren zu tragen. Sieht komisch aus. Man macht das nicht. Die Leute schauen. Da hilft die ganze wissenschaftliche Debatte auch nicht weiter. Eine klare offizielle Linie dagegen, die hülfe schon. Oder der Slogan, den die New Yorker Gesundheitsbehörde 1918 während der Spanischen Grippe ausgab: "Lieber lächerlich als tot." Das glauben wir dann sogar ohne Nachweis.


WAS LESEN?

Wenn ein Artikel auf t-online.de binnen kurzem Hunderte Zuschriften erhält, was ist das wohl? Nein, diesmal nicht der Tagesanbruch. Diesmal ist es der Text einer Tagesmutter: Antje Radloff erklärt uns, warum die Corona-Krise für selbständige Kinderbetreuer eine Katastrophe ist – die nach Ende der Krise auch viele Eltern zu spüren bekommen werden.


Krankenpfleger gelten nun als Helden der Stunde, sie werden gelobt und beklatscht. Wie kommt das bei den Gewürdigten an? "Wir fühlen uns durch die Corona-Krise noch mehr ausgenutzt", sagen viele. Überstunden, Unterbezahlung, mangelnder Respekt: Auf watson.de reden Pflegerinnen Tacheles.



Die Lungenkrankheit Covid-19 ist eine seriöse Virusinfektion – "da helfen keine Hausmittel", sagt Professor Tilman Grune vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in der neuen Folge unseres Podcasts "Tonspur Wissen". Trotzdem gibt es Lebensmittel, die er empfehlen kann – vor allem für das Immunsystem. Hier erfahren Sie mehr.


Wann werden die Flüchtlingslager auf den Inseln in der Ägäis endlich evakuiert? Mehrere deutsche Kommunen haben sich bereit erklärt, unbegleitete Minderjährige aufzunehmen. Die sächsische Hilfsorganisation "Mission Lifeline" will jetzt selbst tätig werden – aber ihrem Mitbegründer Axel Steier schwant im Gespräch mit meiner Kollegin Madeleine Janssen Böses.


Es ist die Hoffnung aller aufrechten Demokraten: In Krisenzeiten möge sich schlechte Politik doch bitte sofort rächen. Miese Regierungschefs sollen jetzt krachend scheitern, sie sollen für ihren Populismus und ihre Fehlentscheidungen bestraft werden. Gute Staatsführer dagegen sollen vom Volk gelobt und anschließend wiedergewählt werden. Leider ist die Welt nicht gerecht, analysiert unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld.


WAS AMÜSIERT MICH?

Seltsame Spezies, diese Hamsterkäufer.


Ich wünsche Ihnen einen entspannten Tag. Ach ja, und wenn Sie jemanden in den April schicken wollen, tun Sie das gern, aber lassen Sie dabei doch dieses doofe Virus aus dem Spiel. Sagen Sie lieber adieu, wenn Sie in Wahrheit auf Wiedersehen meinen. Ich jedenfalls freue mich in Wahrheit sehr, wenn Sie Lust haben, den Tagesanbruch morgen wiederzusehen.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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