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Tagesanbruch: Die Corona-Krise ist eine riesige Chance


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Was heute wichtig ist
Die Corona-Krise ist eine riesige Chance

MeinungVon Florian Harms

20.05.2020Lesedauer: 7 Min.
Einlass-Ampel des Automatenherstellers Gauselmann für Geschäfte, Behörden und Firmenräume: Die Corona-Krise hat binnen Wochen unsere Verhaltensweisen verändert.Vergrößern des Bildes
Einlass-Ampel des Automatenherstellers Gauselmann für Geschäfte, Behörden und Firmenräume: Die Corona-Krise hat binnen Wochen unsere Verhaltensweisen verändert. (Quelle: Gauselmann Gruppe/obs)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Und sie bieten die Gelegenheit, verlorene Posten zu räumen, ohne das Gesicht zu verlieren. Die führenden Köpfe der Bundesregierung laufen in dieser Disziplin gerade zur Hochform auf. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kann dank der Corona-Krise endlich dem jahrelangen Drängen des französischen Präsidenten Macron nachgeben und die Tür in die europäische Schuldenunion aufstoßen. Sie weiß, dass die EU anders nicht mehr zu retten ist, aber sie weiß auch, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihr das unter normalen Umständen nie durchgehen ließe. Also spielt sie das Corona-Ass und hofft, dass es während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ab 1. Juli auch die kritischen Österreicher, Holländer, Dänen und Schweden aussticht.

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Auch Finanzminister Olaf Scholz (SPD) setzt auf die Viruskarte, um eine jahrelang verteidigte Position zu räumen: Dem Drängen seiner Genossen, endlich die schwarze Null aufzugeben und neue Milliardenschulden zu machen, kann er nun generös nachkommen. Corona liefert ihm die willkommene Entschuldigung. Sogar Juso-Chef Kevin Kühnert ist voll des Lobes über den Mann, dessen Sprung auf den Parteivorsitz er soeben erst vereitelt hat.

Außenminister Heiko Maas (SPD) wiederum greift dankbar jede neue Absurdität aus dem Weißen Haus auf, um die deutsche Außenpolitik weiter von den ungeliebten USA abzusetzen. Zu normalen Zeiten würde dieser Kurs lauten Widerspruch der Transatlantiker dies- und jenseits des großen Teichs provozieren – aber wenn der US-Präsident Corona-Kranken Desinfektionsmittel spritzen möchte, selbst einfach mal Malaria-Medikamente schluckt und seine Bauernschläue über wissenschaftliche Erkenntnisse stellt, dann haben es Amerika-Fans schwer.

Auch Innenminister Horst Seehofer (CSU) versucht, die Corona-Krise auszunutzen, hat aber weniger Erfolg als seine Kollegen: Nur zu gern hätte er die Polizeikontrollen an den Binnengrenzen der EU-Staaten dauerhaft beibehalten, zumindest stichprobenartig. Schengen ade. Der Widerstand gegen Seehofers Attacke auf einen zentralen Pfeiler des europäischen Hauses ist groß, aber wir können davon ausgehen, dass er sich noch nicht geschlagen gibt und die Säge beim nächsten EU-Innenministertreffen wieder auspackt.

Wir erleben außergewöhnliche Zeiten, aber das Taktieren hat schon längst wieder Einzug in die Politik gehalten. Wo es zu Errungenschaften führt und wo zu großen Fehlern, werden wir erst in einigen Monaten beurteilen können.


WAS STEHT AN?

Bevor das Taktieren jede große Idee zunichtemacht, sollten wir uns verdeutlichen: Das Corona-Problem ist zwar schlimm – aber es ist zugleich eine riesige Chance. Wir erleben eine Jahrhundertkrise im Zeitraffer. Dabei zeigen wir: Wenn es nötig ist, sind wir alle gemeinsam in der Lage, unseren Lebensstil schnell und tiefgreifend umzustellen. Indem die Regierung konsequent reagierte und die meisten Bürger die Kontaktsperre befolgten, konnten viele Menschenleben gerettet werden. Zustände wie in Oberitalien, Spanien oder gar Amerika hat Deutschland vermieden. Auf diese kollektive Leistung können wir alle miteinander stolz sein (selbst wenn sich manche wundern, wie schnell viele Leute nun wieder in die Normalität oder an die Strände drängen). Entscheidend ist: Wir haben als Gesellschaft bewiesen, dass wir den Rat der Wissenschaft beherzigen und das Nötige tun können, um eine Katastrophe abzuwenden. Da drängt sich die Frage auf: Warum schaffen wir das nicht auch bei anderen Großkrisen?

Die größte Krise, der wir gegenwärtig ausgesetzt sind, ist der Klimawandel. Dass er menschengemacht ist, bestreitet niemand, der alle fünf Sinne beisammen hat. Unter den Folgen leiden schon jetzt Zigtausende Menschen, auch hierzulande: Extremwetter, Dürren und Umweltverschmutzung fordern ihre Opfer. An den Hitzewellen der vergangenen Jahre sind fast 20.000 Bundesbürger gestorben. 400.000 Europäer sind binnen eines Jahres dem CO2, Feinstaub und anderen Schadstoffen in der Luft zum Opfer gefallen.

Wenn die Bundespolitiker den Gesundheitsschutz wirklich so ernst nehmen, wie sie es seit Ausbruch der Corona-Krise täglich beteuern, dann müssen sie die Bürger ebenso entschlossen vor den Schäden der Klimakrise schützen. Dann würden sie einen effektiven CO2-Preis festsetzen, den Verkehr in den Innenstädten umweltschonend um- und das Bahnnetz rasant ausbauen. Sie würden alle öffentlichen Gebäude energetisch sanieren und die Erforschung der Wasserstofftechnologie breit fördern. Sie würden den Einsatz von Pestiziden und Antibiotika in der Landwirtschaft drosseln und vehement die EU-Kommission unterstützen, die heute ihre "Vom Hof auf den Tisch"-Strategie für nachhaltig produzierte Lebensmittel vorstellt. Vielleicht würde sie sogar, und das schreibe ich jetzt auf die Gefahr hin, dass gleich ein E-Mail-Proteststurm anhebt, endlich ein Tempolimit einführen.

Mit all den Steuermilliarden, die Herr Scholz und Frau Merkel nun ins Land kippen, sollten nicht Produkte von gestern bezuschusst werden, die übermorgen eh keine Chance mehr auf dem Weltmarkt haben. Stattdessen: konsequente Förderung umweltfreundlicher, nachhaltiger und digitaler Technologien. Menschenleben retten, die Wirtschaft stimulieren und einen Wettbewerbsvorteil erringen: Hier passt es mal, das Bild von der Klappe und den drei Fliegen. Und wer jetzt denkt: Sagt sich ja leicht, aber macht sich schwer, der hat natürlich erstens recht. Und möge zweitens bedenken: Hätten wir es vor einem halben Jahr für möglich gehalten, dass wir alle unseren Lebensstil schlagartig und tiefgreifend ändern können? Eben.


Es ist inzwischen nicht mehr so schwer, die Covid-19-Pandemie als einen historischen Einschnitt zu erkennen. Die Karten im Poker um globalen Einfluss werden neu gemischt. Wer sich bei der Bekämpfung des Virus keine groben Schnitzer geleistet hat, wird die Weltbühne anschließend gestärkt oder zumindest weniger geschwächt betreten als die Staaten, die durch die Pandemie getorkelt sind. Den Pokal als Schlingerweltmeister wird den USA wohl niemand mehr nehmen können: eine gespaltene Gesellschaft, die sich mitten in der Krise darüber zofft, ob Wissenschaft und medizinische Expertise vielleicht eventuell unter Umständen als Leitfaden taugen oder ob es nicht auch ein paar Tweets vom Donald tun. Erst haben chaotische und zu späte Interventionen den Infektionen freien Lauf gelassen, jetzt zeichnet sich eine chaotische und zu frühe Rückkehr zur Normalität ab – verbunden mit einer zweiten Krankheitswelle, die heftiger ausfallen könnte als in jeder anderen Industrienation. "Wir brauchen dringend politische Führung", sagt die Notärztin Megan Ranney im Interview mit unserem Washington-Korrespondenten Fabian Reinbold.

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Wird das Debakel die USA dauerhaft so sehr schwächen, dass ihre Rolle als globales Schwergewicht zu den Kollateralschäden der Pandemie gehört? Oder kehrt die amerikanische Wirtschaft so schnell zu alter Kraft zurück, wie sie jetzt schrumpft? Gut sieht es nicht aus. Eine Studie kommt zu dem düsteren Ergebnis, dass mehr als 40 Prozent der Arbeitsplätze, die jetzt im Land der ungenutzten Möglichkeiten verloren gehen, dauerhaft verloren bleiben. Zugleich fehlt ein tragfähiges soziales Netz, weshalb der Druck, Quarantäne und Kontaktsperre gegen jede Vernunft abzublasen, wesentlich intensiver ausfällt als bei uns.

Aber der Nachfolger steht schon in den Startlöchern: Weltmacht gesucht? Wir können schon wieder liefern! Durch die gesamte Corona-Krise hindurch haben die Chinesen zielstrebig ihre Führungsrolle ausgebaut. Das ist bemerkenswert, schließlich hat das Virus seinen Siegeszug in China begonnen und haben dort beispiellose Quarantänemaßnahmen für monatelangen Stillstand gesorgt. Aber von Schwäche keine Spur. Präsident Xi Jinping vermarktet sein Land als Anker in der Krise: Nirgendwo sonst sei das Virus so ruhmreich und umfassend besiegt worden, tönt es aus der Propagandamaschinerie (auch wenn das nicht stimmt). Hilfslieferungen an andere Länder werden in den staatsnahen Medien mit Begeisterung ausgeschlachtet. Die Bilder sollen Beweiskraft entfalten: Eine starke, aber sanfte Weltmacht zeigt ihre Solidarität. Um an verwertbare Dankesbekundungen der Beschenkten zu gelangen, hat China abseits der Kameras mächtig Druck ausgeübt. Unvergessen der serbische Präsident Aleksandar Vučić, der den Empfang eines Hilfspakets quittierte, indem er die chinesische Flagge liebkoste. Propaganda aus dem Lehrbuch.

Zugleich setzt Peking mit harten Bandagen seine Interessen durch. Im Handelsstreit mit den USA gerät nun Apple ins Visier der chinesischen Behörden. Parteinahe Medien lassen durchblicken, dass der kalifornische Konzern demnächst als Vergeltung für amerikanische Sanktionen gegen den chinesischen Technologieriesen Huawei kräftig bluten muss. Man könnte versucht sein, diese harte Linie angesichts des Dauermachtkampfs mit dem Donald zu entschuldigen – tatsächlich ist sie jedoch typisch für Xis Politik: Muskelspiele und weichgespülte Imagepflege sind zwei Seiten derselben Medaille. Unlängst bedachte der chinesische Botschafter auf den Philippinen sein Gastland mit lyrischen Ergüssen. Doch nicht der gnadenlose Kitsch versetzte das Publikum in Rage, sondern seine Schamlosigkeit. Denn kurz zuvor hatte Peking zum wiederholten Mal Teile des Meeresgebiets für sich abgezwackt, das die Philippinen beanspruchen.

Wie geht man mit dieser ruchlosen Interessenpolitik der neuen Weltmacht am besten um? Vielleicht können wir uns von einem anderen asiatischen Staat inspirieren lassen: Vietnam ist auf Geschäfte mit seinem großen Nachbarn zwingend angewiesen. Als das Coronavirus ausbrach, verzichteten die Kommunisten in Hanoi darauf, die dubiose chinesische Informationspolitik zu kritisieren. Aber die Flugverbindungen nach China kappten sie schneller als jedes andere Land – unbeeindruckt davon, dass Peking scharf davor warnte. Mit einem Lächeln fiel der Hammer. Medizinische Hilfe aus China erhielten die Vietnamesen trotzdem. Na bitte, da ist das Rezept: Präsident Xis erdrückendem Charme kann man durchaus Paroli bieten. Mit freundlichen Worten. Und eiskalten Taten.


WAS LESEN UND HÖREN?

Die Klimakrise führt zu weltweiten Kettenreaktionen: Weil in der Arktis das Eis schmilzt, rutschen die Landmassen immer schneller Richtung Wasser. Meine Kolleginnen Lara Schlick und Hanna Klein zeigen Ihnen, welche Folgen das für uns hat.


Das Corona-Debakel kostet viele Arbeitsplätze. Aber wenn wir es schlau anstellen, können wir die Krise mit einem blauen Auge überstehen. Wie das gelingt, erklärt der Präsident des RWI – Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, Christoph Schmidt, in unserem Podcast "Tonspur Wissen".


Deutschland und Frankreich wollen der EU 500 Milliarden Euro Schulden aufbürden, um die Corona-Schäden zu mildern. Wer muss am Ende die Zeche zahlen? Gibt es eine Inflation? Und wie sehr schadet es den Deutschen, wenn die Staatsschulden steigen? Unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld liefert die Antworten.


Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa – doch auf der niederländischen Insel Texel ging das Töten weiter: Deutsche und Georgier lieferten sich dort einen gnadenlosen Kampf. Erst heute vor 75 Jahren endete er. Was steckte dahinter? Unser Zeitgeschichtsredakteur Marc von Lüpke hat die Story ausgegraben.


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Der Bundesnachrichtendienst darf mit seiner Auslandsspionage nicht so weitermachen wie bisher. Das Urteil ist ein herber Rückschlag für den BND, berichtet unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe.


WAS AMÜSIERT MICH?

Na, das kann ja morgen heiter werden.

Ich wünsche Ihnen einen produktiven Tag und morgen einen ausgelassenen Feiertag mit gebührend Anstand und Abstand. Von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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