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Nord Stream 2 wird Wladimir Putin alles kosten


Tagesanbruch
Nord Stream 2 wird Putin alles kosten

  • Peter Schink
MeinungVon Peter Schink

Aktualisiert am 02.06.2021Lesedauer: 7 Min.
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Wladimir Putin, wie er sich gern inszeniert: Naturverbunden, selbstbewusst, leger.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin, wie er sich gern inszeniert: Naturverbunden, selbstbewusst, leger. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

heute schreibe ich für Sie den kommentierten Überblick über die Themen des Tages.

Das Florett der Diplomatie

Diplomatische Initiativen kündigen sich meist leise und uneindeutig an. So muss man wohl deuten, was vor wenigen Tagen in Washington verkündet wurde. Die US-Regierung werde keine weiteren Sanktionen gegen Nord Stream 2 verhängen, sagte US-Präsident Joe Biden. Sie seien angesichts des fortgeschrittenen Baustadiums "kontraproduktiv". Das klang wie ein Einknicken vor dem Faktischen. Doch das Gegenteil ist der Fall.

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Die Lage ist verfahren und komplex. Die Arbeiten an der Pipeline sind weit fortgeschritten, der Bau ist fast fertiggestellt. Nach Angaben der Betreiber wurden bislang acht Milliarden Euro in die beiden Röhren und drei Milliarden in die weitere Infrastruktur investiert. Und weil alles ordentlich genehmigt wurde und mehr als 1.000 Firmen an dem Projekt mitgewirkt haben, wäre der vielfach geforderte Baustopp ein Milliardengrab mit unabsehbaren Schadensersatzforderungen.

Der öffentliche Widerstand gegen das Projekt ist seit Beginn groß. Vor wenigen Tagen erst sprachen sich 80 prominente Politiker aus aller Welt für ein Moratorium aus, nahezu zeitgleich forderte die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock einen Baustopp. Sie begründete ihre Forderung damit, das Projekt sei "von geostrategischer Bedeutung".

In der Tat. Die Pipeline ändert vor allem eines: Für den Export seines Gases braucht Russland den Transit durch die ungeliebten Transitländer Polen und Ukraine kaum noch. Russlands Exporteinnahmen stammen nach wie vor zu 60 Prozent aus dem Öl- und Gasgeschäft. Unsicherheiten beim Export wie 2009 und 2019 will Putin unbedingt vermeiden.

Aus diplomatischer Sicht für den Westen eine großartige Chance. Putin braucht die Pipeline, wir nur bedingt. Sie ist also bestens als Druckmittel geeignet.

Der von Baerbock geforderte Baustopp könnte allerdings das Gegenteil bewirken. Putin hat in der Vergangenheit auf politischen Druck nicht mit Einlenken reagiert.

Die diplomatische Herausforderung liegt im Charakter und im Politikstil des russischen Präsidenten. Der Mann regiert wie ein Zar und verhält sich entsprechend, wenn er den Eindruck hat, sein Gegenüber überschreitet "eine rote Linie" (eine Formulierung, die er selbst schon öfter gewählt hat).

Der frühere Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau hat das im Februar 1994 erleben dürfen. Putin, damals noch Vizebürgermeister in St. Petersburg, war zu einem Festbankett in die Hansestadt eingeladen. Die Festrede hielt der damalige Staatspräsident Estlands, Lennart Meri. Er beschuldigte die russische Staatsführung vor Hunderten Gästen, sie wolle wieder die Vorherrschaft im Osten an sich ziehen. Putin warf daraufhin seine Serviette auf die Festtafel und marschierte laut hörbar über das knarzende Parkett aus dem Saal. Voscherau warf er dabei noch einen verächtlichen Blick zu, schilderten Augenzeugen.

Die Reaktion ist eine Mischung aus Putins Persönlichkeit und russischem Nationalstolz. Wenn er sich geschwächt oder unter Druck sieht, reagiert er mit Aktion und Gegendruck.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat während ihrer Amtszeit abgeleitet, man müsse immer versuchen, im Dialog zu bleiben. Putin dankte das Angebot im Gegenzug mit ständigen Grenzüberschreitungen, auch sehr realen. Der Einmarsch in der Ukraine, die Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl 2016, der Mord im Tiergarten, die versuchte Ermordung von Alexej Nawalny – die Liste ist lang und unerträglich. Es wird also Zeit für eine Antwort, die von Putin verstanden werden kann.

Sie muss lauten: Wir können Partner sein, wenn wir uns auf gemeinsame Spielregeln einigen. Eine Verletzung dieser Regeln hat unmittelbare Folgen.

Es macht den Anschein, dass die Biden-Regierung in diesen Tagen an so einer Mechanik zu arbeiten versucht. Am 16. Juni treffen sich beide Präsidenten in Genf zu einem Gipfeltreffen, davor tourt Biden durch Europa. Im Vorfeld seiner Reise kommen am heutigen Mittwoch hochrangige deutsche Regierungsvertreter zu Gesprächen in Washington an, unter der Leitung von Merkels außenpolitischem Berater Jan Hecker und ihrem Wirtschaftsberater Lars-Hendrik Röller. Weil Washington auf Sanktionen verzichtet hat, erwartet man von den deutschen Emissären nun ein substanzielles Entgegenkommen beim Thema Nord Stream 2. Das könnte so aussehen: Die Pipeline wird zu Ende gebaut. Sie wird aber erst in Betrieb genommen, wenn Putin in noch zu definierenden Punkten seine Politik ändert.

Letztlich wird Putin auf so einen Deal nur eingehen, wenn er sich davon einen Vorteil für seinen eigenen Machterhalt verspricht. Dem Florett der Diplomatie muss gelingen, dass Putin gestärkt hervorgeht (oder sich so fühlt) und im Gegenzug den Eindruck hat, er habe dafür nicht zu viel geben müssen. Das gilt in der Diplomatie für beide Seiten, also auch den Westen. Leicht wird uns das nicht fallen.


Die grüne Achillesferse

Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hat es nicht leicht. Ihren Vorschlag, die Benzinpreise um 16 Cent anzuheben, kritisierte die Linke gestern als "unerträgliche Arroganz" gegenüber Menschen mit geringem Einkommen. Das sitzt vor allem, weil Baerbocks Benzinpreiserhöhung in das Klischee von den Grünen als großstädtischer Verbotspartei passt. Immer dort, wo Klimapolitik die Menschen Geld kostet, wird sich Baerbock das in den kommenden vier Monaten bis zur Wahl anhören müssen.

Klar ist: Klimaschutz wird uns in den kommenden Jahren viel Geld kosten. Verlierer werden die sein, die weniger zum Klimaschutz beitragen, egal ob sie können oder wollen. Deshalb heißt es bei den Grünen schon längst, man wolle eine "neue soziale Spaltung" verhindern . Doch diese These müssen die Grünen noch mit Leben füllen. Wer deren Wahlprogramm nach dem Thema durchsucht, findet wenig dazu.

Gewinner im Wahlkampf bei den "kleinen Leuten" könnte die Partei sein, die formuliert: Wer das Klima künftig schützt, kann sparen. Die anderen zahlen drauf. Dazu gehört dann aber auch, ein Konzept zu entwickeln, wie man einfach für das Klima sparen kann: beim Einkaufen, beim Wohnen, beim Fahren.


Mangelnder Rückhalt

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Die neuen Online-Termine für Kirchenaustritte beim Amtsgericht Köln sind Anfang dieses Monats zum ersten Mal nicht innerhalb weniger Stunden ausgebucht. Das ist noch kein Grund zur Freude für den umstrittenen Kardinal Rainer Maria Woelki. Denn das Gericht hat schlicht die Zahl der Termine von 1.500 auf 1.800 pro Monat aufgestockt.

Es mangelt an Rückhalt für den, der Fälle sexuellen Missbrauchs aufklären will und muss. Bei den einfachen Kirchenmitgliedern, aber auch bei den Aktiven in den Gemeinden. Woelki musste vergangene Woche zu einem Krisengespräch nach Düsseldorf, wo Gemeindemitglieder eine Firmungsfeier mit dem Kardinal verhindern wollten. Die soll nun doch stattfinden, aber den Vorwurf des "Mangels an Empathie" bei der Aufklärung von sexuellem Missbrauch wird er nicht mehr los. Er selbst ist schon viel zu sehr Teil des Skandals, um ihn noch aufarbeiten zu können.


Was lesen?

In der alten Bundesrepublik vor 1990 gab es welche, denen die DDR der liebere Staat war, die mit der Bundesrepublik nichts anzufangen wussten und die die Revolution gern nach Bonn, Frankfurt, München und Gladbeck gebracht hätten. Dort saß eine Fraktion der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) jahrelang im Stadtrat. Die Partei wurde, so stellte sich nach Mauerfall heraus, nahezu komplett von der SED getragen.

Das ist heute Geschichte. Die aber holt das frühere DKP-Mitglied Robert Farle aus Gladbeck nun ein. Im Magdeburger Landtag sitzt er seit Jahren als Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD. Im Herbst möchte er als Direktkandidat in den Bundestag gewählt werden. Sein Problem: Er hat die Öffentlichkeit und seine Wählerschaft nicht darüber in Kenntnis gesetzt, wie eng seine Verflechtungen tatsächlich waren.

Mein Kollege Jonas Mueller-Töwe hat sich monatelang in Farles damaligem Umfeld umgehört. Alte Weggefährten begannen aus dem Nähkästchen zu plaudern, ehemalige Genossen sehen jetzt keinen Grund mehr zu schweigen. Und so können Sie heute bei uns zuerst lesen: Robert Farle wurde höchstwahrscheinlich von der SED bezahlt, auch wenn er es leugnet. Und nach der Wende kamen ihm seine Verbindungen dorthin wohl gerade recht. Die ganze Geschichte erscheint heute bei t-online.


In der Türkei muss sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit einem Mafiaboss herumschlagen. Sedat Peker ist ein verurteilter Mörder, war lange Zeit einer der einflussreichsten Kriminellen im Land. Im Exil ist er nun auch zum Youtube-Star geworden. Er greift die türkische Regierung an, erzählt von Verbindungen zwischen führenden Erdoğan-Vertrauten und dem organisierten Verbrechen. Dabei geht es um Drogen, Waffengeschäfte und Auftragsmorde.

In der türkischen Bevölkerung kommt das gut an, Millionen verfolgen wöchentlich die angeblichen Enthüllungen des Mafiapaten, Erdoğans Beliebtheit sinkt weiter. Dabei ist Peker eigentlich Fan des türkischen Präsidenten. Mein Kollege Patrick Diekmann erklärt, wie das zusammenpasst.


Und dann gab es gestern ein Erdbeben im Sport. Karl-Heinz Rummenigge geht. Einer der Köpfe, die mein Bild vom Fußball geprägt haben. Ich bin in München groß geworden. Da wächst man mit den roten Farben des FC Bayern auf.

Ich las also gestern, was unser Kolumnist Stefan Effenberg zum Abgang schrieb: "National braucht sich Bayern sicherlich weiterhin keine Sorgen zu machen. Was für die neue Führung wirklich auf dem Spiel steht, ist, ob Bayern dauerhaft international den Anschluss halten kann." Ein lesenswerter Text.

Doch: Es gibt noch einen zweiten Verein in München, meinen Verein. Der ist weniger bekannt in der Republik als der FC Bayern, aber in München genauso wichtig: der TSV 1860. Mit dem leiden wir seit Jahren, und das intensiv. Die Luxusprobleme eines FC Bayern teilten wir nie. Das fänden wir auch langweilig.

Insgeheim haben wir dem FC Bayern natürlich immer deutlich mehr Probleme gewünscht. Deshalb verfolge ich den Klub in der nächsten Bundesligasaison gespannt. Effenberg hat dazu den entscheidenden Satz gesagt: Der Verein stehe "mitten in dem vielleicht größten Umbruch aller Zeiten".


Was mich amüsiert

Gestern ist der Corona-Pandemie ein Komparativ abhandengekommen. Die Corona-Gefährdung in Deutschland ist nicht mehr "sehr hoch". Sie ist nur noch "hoch". Unser Karikaturist ist darüber sehr erfreut.

Ich wünsche Ihnen einen entspannten Mittwoch. Am morgigen Fronleichnam schreibt Florian Harms wieder an dieser Stelle. Allen Lesern, die den Tag als Feiertag genießen können, wünsche ich schon mal gutes Wetter.

Ihr

Peter Schink
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de

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