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Eroberung Afghanistans: Die Taliban haben einen raffinierten Plan


Tagesanbruch
Die Taliban haben einen raffinierten Plan

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 18.08.2021Lesedauer: 7 Min.
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Taliban-Funktionäre hissen ihre Flagge vor einer Pressekonferenz in Kabul.Vergrößern des Bildes
Taliban-Funktionäre hissen ihre Flagge vor einer Pressekonferenz in Kabul. (Quelle: Rahmat Gul/ap-bilder)

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PR-Kampagne in Kabul

Es ist ein seltsam laues Lüftchen, das in diesen Stunden durch Kabul weht. Die neuen Machthaber sind da, rücken ihre Stühle zurecht, die Herrschaft der Taliban hat begonnen. Es ist nicht das erste Mal – und wer damals in Kabul dabei war, hat es bis heute nicht vergessen. Sofort nach ihrem Einmarsch im September 1996 folterten die Gotteskrieger den ehemaligen Regierungschef Mohammed Nadschibullah auf eine Weise zu Tode, die selbst im kriegsgewohnten Afghanistan eine Welle des Entsetzens auslöste. Seinen verstümmelten Leichnam und den seines Bruders hängten sie an einer Kreuzung auf, damit jeder die Botschaft verstand: Wir sind da. Es brechen andere Zeiten an.

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Was für ein Glück, dass die Geschichte sich nicht einfach wiederholt. Die Taliban des Jahres 2021 möchten zwar schon anmerken, dass auch sie jetzt da sind, wollen aber bitte keinesfalls unnötig stören. Die militärische Offensive haben sie diskret beendet, nun starten sie eine Charmeoffensive. Auf allen verfügbaren Kanälen säuseln Taliban-Offizielle, militärische Anführer und Sprecher der Bewegung um die Wette. Sind Sie ein Mitarbeiter einer Botschaft, vielleicht aus einem Nato-Land, oder gar US-Bürger? Bitte bleiben Sie doch! Ortskräfte, afghanische Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und ausländischen Medien? Wir garantieren Ihre Sicherheit! Alles sei vergessen, vergeben, abgehakt. Mit den Amerikanern wolle man ein neues Kapitel der konstruktiven Kooperation aufschlagen. Intimfeind Indien möge doch gerne seine Projekte im Land fortsetzen – man freue sich auf die weitere Zusammenarbeit!

Laufend und an jeder Ecke geschieht Symbolträchtiges, das uns die neuen Taliban näherbringen soll. Im bekanntesten TV-Sender Afghanistans sitzt die Moderatorin im Studio – ja, eine Frau, und ja, unverschleiert – und interviewt einen hochrangigen Bartträger. Afghanische Reporterinnen sind auf den Straßen unterwegs, machen Aufsager fürs Fernsehen, sprechen mit Bewaffneten. Einer der wichtigsten Kommandeure, der Sohn des verstorbenen Taliban-Chefs Mullah Omar, ermahnt seine Kämpfer, sich bitteschön korrekt zu verhalten, keine Fahrzeuge zu beschlagnahmen und nicht in Wohnungen einzudringen. Keine Repressalien! Keine Racheakte! Eigentum und Privatsphäre seien zu respektieren. Apropos Respekt: Mädchen dürfen zur Schule gehen, Frauen sollen arbeiten und studieren. In einer Burka zu verschwinden, ist für die Damen selbstverständlich nur eine unverbindliche Empfehlung, Kopftuch geht doch auch. Und mit der schiitischen Minderheit, die den Taliban-Theologen als Abtrünnige vom Islam gelten und bisher brutal unterdrückt wurden, trifft man sich zum Tee.

Friede, Freude, Eierkuchen beherrscht die offizielle Kommunikation der Krieger, nur selten erlauben sie sich in diesen Stunden Härte. Der notorischen Unsicherheit auf Kabuls Straßen, den Überfällen und Entführungen, haben die Taliban den Kampf angesagt. Gegen Räuber und Plünderer gehe man konsequent vor – dokumentiert mit zahlreichen Fotos in den sozialen Medien. Ansonsten erklärt uns ein Sprecher die überragende Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit sowie einer diskriminierungsfreien Gesellschaft.

Es ist nicht zu übersehen: Die Taliban waren beim Imageberater. Aber es wäre vorschnell, das liberale Gehabe als bloße Nebelkerze abzutun. Handfeste Interessen stehen dahinter. Es lockt das Geschäft: China macht sich bereit, und zu internationalen Investments sagen die Taliban auch nicht mehr Nein. Wir dürfen jedoch noch mehr hinter der PR vermuten als nur die Gier nach Geld. Der spektakuläre Durchmarsch der Taliban verleitet uns als Beobachter dazu, ihnen Kräfte zuzuschreiben, die sie nicht haben. Ihre Kommandeure kamen mit dem Erobern zum Schluss kaum noch hinterher. Viele Erfolge verdankten sie gekauften Gegnern, desertierenden oder überlaufenden Armee-Einheiten, Deals und Arrangements mithilfe von Stammesältesten. Siege wurden errungen, ohne dass ein Schuss fiel. Jetzt sind die Kämpfer der Taliban überall, aber manchmal auch nirgends. Ihr Griff ist noch schwach, die erkauften Loyalitäten sind es auch. Die Leute wollen Sicherheit, Jobs, Geld. Die Taliban müssen liefern.

Bis die Eroberer fester im Sattel sitzen, müssen sie sich Zeit erkaufen. Nichts können sie in der Zwischenzeit weniger gebrauchen als den drohenden wirtschaftlichen Kollaps. Ihre Sprecher werden nicht müde zu betonen: Niemand müsse aus Afghanistan die Flucht ergreifen. Aus ihren Worten spricht die Furcht vor einem Massenexodus und dem "Brain Drain", der Flucht der Gebildeten und Fachleute. Und noch etwas: Wer genau hinhörte, konnte vom engsten Verbündeten der Taliban, dem Finanzier und Mentor Pakistan, gestern Erstaunliches vernehmen. Man habe es gar nicht eilig mit einer diplomatischen Anerkennung des eigenen Zöglings, erklärte ein pakistanischer Minister. Man konsultiere die Freunde in der Region und strebe eine kollektive Anerkennung der neuen afghanischen Regierung an. Übersetzt heißt das: Einen international isolierten Paria-Staat möchte Pakistan nicht noch einmal durchfüttern. Die Welt soll mit an Bord. Also tun die Taliban ihren Teil dazu und geben sich respektabel.

Können wir der Geschichte von den geläuterten Taliban trauen? Ganz sicher nicht mit Leib und Leben. Wenn afghanische Helfer deutscher Soldaten an einem Checkpoint von einer Horde Bewaffneter aufgehalten werden, möchten sie wohl kaum auf die Pressekonferenz eines Mullahs verweisen, während sie mit den Häschern um ihr Leben diskutieren. In Kabul sorgt die Anwesenheit afghanischer und internationaler Medien immerhin dafür, dass die Radikalen auf ihr Image achten – zumindest jetzt noch. Doch dort, wo keiner hinsieht und der Griff der Taliban fest ist, müssen wir Schlimmes befürchten. In der steinzeitlichen Islamauslegung, der die "Gotteskrieger" anhängen, hat sich keine Altersmilde breitgemacht. Was vom vergleichsweise zurückhaltenden Auftritt dieser Tage übrig bleibt, werden erst Richtungskämpfe innerhalb der Taliban-Bewegung in den kommenden Monaten entscheiden. Bestialische Strafen – amputierte Hände, Steinigungen, Peitschenhiebe – kommen aber in jedem Fall zurück.

Jetzt allerdings kann der Westen die Gunst der Stunde nutzen: Solange die Neuen in Kabul noch möchten, dass die Welt sie lieb hat, lässt sich mit ihnen mancher Deal aushandeln. Die Bundesregierung scheint ihre Schockstarre nun endlich zu überwinden und strebt rasche Gespräche an, auch die Amerikaner reden mit den Taliban. Wenigstens die gefährdeten Ortskräfte der Bundeswehr, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Oppositionellen, Menschenrechtsaktivisten kann man so vielleicht doch noch in Sicherheit bringen. Aber die Uhr tickt. Niemand weiß, wie lange die Turbanträger noch auf ihr Äußeres achten.

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Migranten als Druckmittel

Rund 680 Kilometer lang ist die Grenze Weißrusslands zu Litauen. Allein im vergangenen Monat wurden dort mehr als 2.000 illegale Übertritte von Menschen aus dem Irak und afrikanischen Staaten registriert, nachdem es im gesamten Jahr 2020 nur 81 gewesen waren. Den Anstieg hat der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko gezielt ausgelöst: Er holt Migranten in sein Land und schiebt sie dann in die EU ab, um sich für die Wirtschaftssanktionen der Europäer zu rächen. "Hybride Aggressivität, die Menschen benutzt" nannte Angela Merkel diese Praxis gestern. Heute befassen sich die 27 EU-Innenminister mit den illegalen Grenzübertritten. Sie haben mehr als 100 Polizisten der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex nach Litauen verlegt und den Irak dazu gebracht, wenigstens eine Woche lang alle direkten Flugverbindungen zwischen Bagdad und Minsk zu kappen. Das wird nicht reichen, deshalb reden sie nun über weitere Sanktionen. Angesichts der Tatsache, dass sich die bisherigen Strafen nur gegen 166 Personen und 15 Unternehmen richten, geht da sicher noch was.


Surr-surr statt bremm-bremm

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Was amüsiert mich?

In diesen dramatischen Tagen kann man sich über Politiker heftig ärgern. Gut, dass sie manchmal auch Grund zur Heiterkeit bieten.

Ich wünsche Ihnen einen heiteren Tag. Morgen schreibt Johannes Bebermeier den Tagesanbruch, mit mir geht es ab Freitag heiter weiter.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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